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Realismus der Form
Der berühmte Architekt, der, in Wien geboren und ausgebildet, nun schon seit vielen Jahren in Amerika wirkt, gibt uns mit seiner eindringlichen Schilderung der Gefahr einer entfesselten Technisierung ein Bild dessen, was auch uns in Zukunft widerfahren kann; er gibt uns mit seiner Aufforderung zur Besinnung auf den menschlichen Maßstab aber auch das Mittel in die Hand, diese Welt von morgen unseren Bedürfnissen gemäß zu gestalten. „Die Furche"
Als Architekt muß ich mir sagen: Wir Designer arbeiten letzten Endes immer für den Menschen. Mann, Frau und Kind sind unsere Konsumenten. Kein anderes Wissen ist grundlegender für uns als das um Mann, Frau und Kind. Oder vielleicht wäre es richtiger, diese Empfänger all der durch uns Designer geschaffenen Stimuli in umgekehrter Reihenfolge anzuführen: denn dem Kinde, das eindrucksoffen und bildsam ist, wird das, was der Designer aus seiner Umgebung macht, vor allen anderen zur Wohltat oder zum Schaden gereichen.
Ich behaupte: Nichts sonst ist „realistisch", als was für den menschlichen Verbrauch bestimmt ist — und das heißt für die Millionen von Sinnesrezeptoren, die, über und unter der Schwelle unseres Bewußtseins, unausgesetzt Eindrücke auf unser gesamtes Organsystem einstürmen lassen. Da nun jedes Design einen stärkeren oder schwächeren sinnlichen Appell darstellt — in welchem Maß gilt das erst für die Architektur! Wir Designer sollten unsere Aufmerksamkeit ganz besonders dem menschlichen Nervensystem zuwenden, dessen Krone 'zweifellos der wunderbare Apparat Unseres Gehirns ist, das immerdar ijnd in vieler Hinsicht die bedeutend genaueren und unermüdlichen elektronischen „Computers“ in den Schatten stellen wird.
Ein großer und niemals zu übersehender Unterschied zwischen einem Elektronengehirn und dem unseren, geheimnisvollen, ist die emotionell gefärbte Auswahlfähigkeit für Formen, die die Gestaltpsychologen mit Recht so sehr betont haben. Sie ist grundlegend wichtig, und der Designer hat es, durch all seine Beschäftigung mit Problemen der Handhabung und Aufnahme, ständig mit Emotionen zu tun. Endokrine Vorgänge begleiten jeden einzelnen Ausdruck von „Gefallen“ oder „Mißfallen“.
Dr. Maslow, der Leiter des Psychologischen Institutes an der Brandeis University und Anreger faszinierender Untersuchungen, der es verdient, im Zusammenhang mit diesen Bemerkungen genannt zu werden, ist der fundierten Ueberzeugung, daß keine Motivation irgendwelcher Art frei von elementaren ästhetischen Komponenten ist. Es steht außer Frage, daß solche Komponenten - die ästhetische Befriedigung durch Gestalt — keineswegs Begleiterscheinungen sind, sondern daß sie organisch in die Mutterzelle der psychologisch vielschichtigen Motive eingebaut sind. Sie sind nicht davon zu trennen. Sie sind emotionellen Ursprungs und sie werden auch emotionell begehrt und registriert.
In Amerika ein hieb- und stichfester „Realist" sein, heißt ästhetischen Erwägungen jede führende Bedeutung absprechen, besonders in Fragen der Alltagsaufmachung unserer Siedlungen und Städte. Wenn „praktische“ Dinge zur Diskussion stehen, hat man im Stadtrat oder am Konferenztisch der ländlichen Planer für Schönheit nicht viel übrig.
Ich möchte die Bezeichnung „Realismus", die im scholastischen Mittelalter eine ganz andere Bedeutung hatte als im „rationalen" 18. und im materialistischen 19. Jahrhundert, wieder im alten Sinne verstanden wissen. In unserer Zeit sollten wir es vermeiden, irgend etwas realistisch zu nennen, das nicht mit dem gegenwärtigen Status der menschlichen biologischen Entwicklung im Einklang steht.
Die erste Aufgabe wird sein, auf Grund unserer wunderbaren Anatomie und Morphologie herauszufinden, ob es nun eigentlich eine eigene, isolierte Abteilung in unserem Nervensystem gibt, wo ausschließlich Gestalt behandelt wird — so wie es etwa im Warenhaus die. „Herrenabteilung im 6. Stock“ gibt —, oder ob es nicht eher den Anschein hat, daß Gestalt ein alldurchdringender Einfluß auf unsere nervlichen Vorgänge ist. Durch die Obduktion können keinerlei Abgrenzungen und trennende Membrane unterschieden oder nachgewiesen werden. Denn Form und Gestalt bedingen das Strömen der Kraft durch unser gesamtes organisches Wesen, beleben oder lähmen, ermüden oder irritieren uns.
All das gibt dem Designer — dem guten wie dem schlechten - eine erhöhte Bedeutung. Seine Verantwortung wird erschreckend, selbst wenn er kaum jemals über seine Vergehen gegen die menschliche Biologie Rechenschaft ablegen muß. Sei er nun als „Formkrämer" (shape monger) in des Wortes weitester Bedeutung erkannt oder nicht — er kann schlimmer sein als ein Rauschgiftschmuggler, der sich in eine Gruppe von Jugendlichen einschleicht. Seine Tätigkeit fällt nicht unter das Rauschgift- oder Lebensmittelgesetz, aber die Nervenstimuli, die er bereitet, können Gifte sein, die man zwar nicht schluckt, die man aber einsaugt durch die Millionen Einfallstore der sogenannten Sinnesrezeptoren. Diese Giftstoffe werden uns Leidenden ganz unbemerkt im Gedränge der Städte, im Trubel des Verkehrs, in dem Meer von Licht und den zerklüfteten Gebirgen und Canyons der Geräuschkulisse von Main Street verabreicht. Wir müssen uns immer diejenigen vor Augen halten, die es am eigenen Leib erlebt haben, nämlich die neun Millionen Amerikaner, die innerhalb eines Jahres ihre heißgelaufenen Getriebe in den Warteräumen der Psychiater kühlen, und wir können daraus schließen, daß unsere technische Welt industrialisierter Geschwindigkeit mit dem Ueberhandnehmen der nervlichen Störungen im Zusammenhang stehen dürfte.
Tüchtige und gut ausgebildete Entwerfer könnten unsere Welt der schnell abgesetzten Fabrikate, Konstruktionen und Installationen umgestalten, wenn sie nur das vernünftige Verständnis dafür mitbringen, was der Mensch auf Grund seiner organischen Ausrüstung auf die Dauer wirklich ertragen kann — und nicht nur, was er bezahlen kann.
Die amerikanischen Trapper der Pioniertage pflegten zu sagen: „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.“ Die Händler können doch nicht so rücksichtslos oder dumm sein, nicht zu begreifen, daß ein toter Kunde kein guter Kunde ist. Er muß am Leben erhalten werden und muß überleben, anstatt hinzusiechen und zu verfaulen im technischen Dschungel — oder ist es eine öde Wüste? — des modernen Kommer- zialismus mit all seinen „rasenden Rädern" und „Wirtschaftswundern". Laßt uns doch den Kunden bei Gesundheit erhalten — es könnte dabei geschehen, daß wir die Menschheit selbst vor dem Dahinsiechen bewahren, auf daß sie den Zusammenstoß von Fortschritt und gestaltetem Produkt überlebe.
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