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Richter - kein keuchendes Kamel

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„Man kann nicht die ganze Justiz mit einem Kamel vergleichen“, meint Hans Kelsen in einer Streitschrift wider Carl Schmitt, „das unter der Last zusammenbrechen wird, wenn man ihm noch die Bürde des richterlichen Prüfungsrechts (judicial review) auflegt.“ Unläijgst, Anfang März dieses Jahres (1967), sagte Robert Walter in einem Vortrag, der ein Forschungsgespräch einleitete: Hilft der Gesetzgeber, namentlich der Grundrechtsgesetzgeber, sich mit unbestimmten Begriffen, gar mit Leerformeln, so führe dies unweigerlich zum Richterstaat, wo das Gewicht politischer Entscheidungen den Richter erschöpft, den Rechtsstaat erdrückt.

Wir können uns nicht auf die erregende Frage einlassen, ob die pluralistische Struktur der Gegenwartsgesellschaft nicht nachgerade den Gesetzgeber zwingt: zum Gebrauch von unbestimmten Begriffen und sogenannten Leerformeln; die Römer, als ihre Gesellschaft des Stadtstaates sich zur Weltgesellschaft zu weiten begonnen hatte, schlugen den nämlichen Ausweg ein und fuhren nicht schlecht.

Allein, — was sind politische Entscheidungen, deren Charakter das Wesen der richterlichen Funktion angeblich denaturieren? Deutet man jede Machtfrage als Rechtsfrage, vermögen wir uns überhaupt keine politische Frage vorzustellen, die keine Rechtsfrage wäre. Versteht man mit Kelsen alle Rechtssetzung als Vollziehung ranghöheren Rechts: bis zur präpositiven (vorausgesetzten) Grundnorm, löst die Absolutheit des Gegensatzes der Gesetzgebung zur Rechtsprechung sich in Relativität auf; denn bloß die Gesichtspunkte wechseln. Gesetzgebung und Rechtssprechung, sie beide sind sowohl Rechtserzeugung (iuris positio, legis latio) wie Rechtsanwendung (iuris executio). Das (einfache) Gesetz „ist weder die einzige noch auch die höchste Stufe der Rechtsordnung ... So wie die Rechtsprechung ... so ist auch die Gesetzgebung selbst wieder Rechtsanwendung. Rechtsanwendung ist das richterliche Urteil, sofern seine Beziehung zur höheren Stufe des Gesetzes in Betracht kommt, durch das das Urteil rechtlich determiniert wird. Rechtsschöpfung, Rechtsnormierung ist das Urteil, sofern seine Beziehung zu jenen Rechtsakten in Betracht kommt, die ,auf Grund' des Urteils zu ergehen haben ... Und so ist das Gesetz, das dem Urteil gegenüber Rechtserzeugung ist, wieder einer höheren Stufe gegenüber*, durch deren Normen das Gesetz determiniert wird, Rechtsanwendung“ (Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Paragraph 33, lit. F., S. 234).

Anders gewendet, Politik ist nichts anderes als jenes Feld, worauf der jeweilige Rechtssetzer (Gesetzgeber, das Staatsoberhaupt, das Regierungsmitglied als Ressortchef, die Regierung, die Verwaltung, das Gericht, der Richter — und der Rechtsgenosse, der mit keiner obrigkeitlichen Funktion betraut ist, im „bürgerlichen Rechtsverkehr“) frei neues Recht schafft innerhalb der Grenzen, die das ranghöhere Recht zieht, das es anzuwenden gilt. Politik ist das Gestalten und Bestellen auf dem Feld, das die ranghöhere Rechtsnorm freigibt und offenhält: Semper intra limites iuris. Die Herrschaft des Rechts kennt keine Politik der freien Hand, noch kennt es grundsätzlich sogenannte gerichtsfreie Hoheitsakte, Akte also, die grundsätzlich, von sich aus, nicht gerichtsfähig, nicht justiziabel wären. Darin stimmen Hermann Kantorowicz und Kelsen und Merkl und Verdroß überein. Das Recht entläßt weder den Exekutor noch das Volk, weder den Richter oder Verwaltungsbeamten noch den Außenminister mit dessen Delegationen oder den Justizminister, den Bundeskanzler, noch Bankdirektoren oder Industriekapitäne aus der Herrschaft. — Außerhalb des Rechtes, extra muros iuris, ist keine Politik in Sicht. Am 2. Juni 1952 fällt der US-Supreme Court den Spruch im weltbewegenden, schicksalhaften Stahlsftreit (Koreakrieg!); Truman achtet das Recht, verneigt sich vor dem Gericht und fügt sich dem Urteil — kein Stein fällt ihm aus der Krone. Nicht anders verhält sich Eisenhower 1957; am 26. Juni sagt er auf der Pressekonferenz: „The Supreme Court is just as essential to our system of government as is the President or as is the Congress, and we should respect its duties and responsibilities.“ So sind die USA ein Richterstaat, die nämlichen Entscheidungen sind eminent „politisch“, und der Supreme Court ist nicht wie ein Kamel zusammengebrochen.

Der Schluß bringt uns zurück zum Zerrbild des Richters, der wie ein Kamel unter der Last politischer Entscheidungen keuchend hinsinkt. Man geht, schreibt Kelsen, „von der irrigen Voraussetzung aus, daß zwischen der Funktion der Justiz und politischen' Funktionen ein Wesens-gegensatz bestehe“, und fährt fort: „Soll dem vieldeutigen und maßlos mißbrauchten Wort politisch' überhaupt ein einigermaßen fester Sinn abgewonnen werden, so kann man in diesem Zusammenhange, wo es sich um einen Gegensatz zur Justiz handelt, nur annehmen, daß damit so etwas wie Machtausübung im Gegensatz zur Rechtsausübung zum Ausdruck kommen soll, politisch' ist die Funktion des Gesetzgebers... während der Richter nur als Werkzeug, nicht als Subjekt dieser Macht die vom Gesetzgeber geschaffene Ordnung zur Anwendung bringt. Allein, diese Vorstellung ist darum falsch, weil sie voraussetzt, daß der Prozeß der Machtausübung im Verfahren der Legislative abgeschlossen ist... Der politische Charakter der Justiz ist um so stärker, je weiter das fremde Ermessen ist, daß die ihrem Wesen nach generelle Gesetzgebung der Justiz notwendigerweise belassen muß. Die Meinung, daß nur die Gesetzgebung, nicht aber die .echte' Justiz politisch sei, ist ebenso falsch wie die, daß nur die Gesetzgebung produktive Rechtserzeugung, die Gerichtsbarkeit aber nur reproduktive Rechtsanwendung sei... zwischen dem politischen Charakter der Gesetzgebung und dem der Justiz besteht nur eine quantitative, keine qualitative Differenz“ (Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein? Berlin 1931, S. 14 f.; vgl. S. 21).

Da sehen wir, wie wenig dahintersteckt, nämlich wissenschaftlich wenig — und wieviel zugleich dahintersteckt, nämlich machtideologisch, bei Redewendungen, die man aus Kreisen der Politiker wie aus solchen der Wissenschaft vernimmt: Dies oder jenes sei eine politische, nicht aber eine rechtliche Frage oder Entscheidung!

Keiner wird den anderen irren, keiner weicht aus der Erkenntnis: Den Richterstaat kann man vom Rechtsstaat nicht losreißen! „Denn Recht und Gericht sind untereinander so wesensverbunden, daß ein Widerspruch zur Gerichtsbarkeit notwendig einen Widerspruch zum Recht bedeutet... In der Unabhängigkeit der Gerichte erblickt man eben an sich schon eine Garantie für die Rechtmäßigkeit des zu setzenden Aktes“ (Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichts-barkeit, VVDStRL 5 [1929], S. 119, 51). Und in den „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre (1911/1923, S. 35) steht zu lesen: „Kein Recht ohne Gericht.“

Ich hätte freilich nicht Kelsen in einem fort zu zitieren brauchen; ich habe meinen „Richiterstaat“ (Wien 1957) und mein „Verfassungsgericht“ (Wien 1963) selbständig entworfen und rechtsontologisch zu begründen versucht. Doch meine ernsten Kritiker bekennen sich zu Kelsen. So mag der Meister sprechen!

Wer A sagt zur Rechtsherrschaft, zum Rechtsstaat, muß B sagen zum Richterstaat, dem Staat, in dem der Richter das letzte Wort hat, dem Staat, wo am Ende eines jeden Rechtserzeugungsverfahrens, einschließlich der Gesetzgebung, ein Spruchkörper entscheidet, der am Zustandekommen des Aktes, der in Frage steht, nicht beteiligt war und der keinem wie immer gearteten subjektiven Willen, sondern einzig dem objektiven Sinn der ranghöheren generellen Norm unterworfen ist, füglich als unabhängig im Sinne von weisungsfrei und in diesem Sinne als neutral angesprochen wird, aber auch als unabhängig im Sinne von Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit der Gerichtsmitglieder.

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