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Rückkehr zur Biennale?

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Venedig hat im Laufe seiner Geschichte viele Rivalen gehabt. 130 Jahre lang kämpfte es mit Genua um die Vorherrschaft. Daß in Venedig im Rahmen der zweijährigen Kunstausstellung der Film als Zweig der zeitgenössischen Kunst zu Worte kommt, ist erst zwanzig Jahre her, aber die letzten fünf Jahre sehen einen Wettstreit zwischen Venedig und Cannes um die Ausgestaltung und die Bedeutung ihrer Filmfestspiele. Cannes hält die Festspiele im April ab und hat eie in einem neugebauten Festspielpalast konzentriert. Venedig hält sie im August ab, hat den eigentlichen Festspielen internationale Konkurrenzen des Kultur- und des Kinderfilms angegliedert und den Filmpalast am Lido heuer durch einen Vorbau erweitert, der bis zum nächsten Jahr vier Stockwerke haben und zu einem Zentrum der Filmkunst und der Filmgeschichte werden soll. Auch organisatorisch hat Venedig alle Anstrengungen gemacht, Cannes zu übertreffen und den Vorführungen durch die Anwesenheit der Darsteller und der Regisseure und durch den gesellschaftlichen Rahmen einen erhöhten Glanz zu geben.

So konnte man nur um eines nicht herumkommen: um das Angebot der Filme. Denn für beide Festivals (dazu noch für das dritte in Berlin) steht nur das gleiche Jahresangebot von Filmen zur Verfügung, und der April — die Vorführzeit für Cannes — liegt — da die Filme meist so hergestellt werden, daß sie zur Wintersaison vorführbereit sind — für eine reichere Auswahl günstiger als der Augusttermin von Venedig.

Es ist symptomatisch, daß Professor Walter Stainton, der im Auftrag des National Board of Review of Motion Pictures den zum Ende der Stummfilmzeit erschienenen „25-Jahr-Ka- lender des Filmfortschritts“ bis zur Gegenwart fottführte, das Wort „Fortschritt" aus dem Titel weggelassen hat. Werke, welche die Entwicklung des Films weiterführen (Und also dem Statut von Venedig entsprechen), sind heute spärlicher als vor zwei Jahrzehnten, eine Schau der Filmkunst steht also vor schwierigen Auswahlproblemen.

Das spürte mäh auch in Venedig. Für die lange Dauer der Filmkunstschau —- 22 Tage — gab es nicht genug wirkliche Filmereignisse. Der französische Film „ J e u x Ihtefdits", der den Großen Preis bekam, stand in mehrfacher Hinsicht repräsentativ für Tendenzen, welche die wesentlichen Filme unserer Zeit charakterisieren: er zeigte in einer umheimlichen und erschreckenden Realistik die Auswirkung der Kriegszerstörung, in diesem Fall auf Kinderseelen, er beobachtete mit aus Erkenntnissen der Tiefenpsychologie genährten Einsichten und er stellte die Anklage und Erschütterung einfach vor den Zuschauer hin ohne Lösung. Diese Geschichte von den Kindern, die Friedhof spielen — Verbotene Spiele —, ist furchtbar und großartig zugleich, eine Konfrontierung mit dem Schrecken und der seelischen Zerstörung. So auch der — äußerliche — argentinische Film „D i e Wasset fließen trübe", der mit im Fluß dahintreibenden Leichen beginnt und in die Hölle ausgebeuteter Sklavenarbeiterlager im Innern des Urwaldes führt, oder der mexikanische Film „Der Schal der Soledad", der vom Wirken eines Arztes unter verzweifelten sozialen und materiellen Bedingungen in einem mexikanischen Dorf berichtet. Daneben der Film aus Israel „Die getreue Stadt", der die aus Krieg und Lagern nach Israel gekommenen Kinder in den Krieg zwischen Arabern und Juden um die Staatwerdung Israels stellt. Von anderer, stillerer Art ist das Johnny-Belinda-Thema „Mandy", die Geschichte eines taubstummen Kindes, über dessen Erziehung sich die Eltern entzweien, der dritte Film des jungen britischen Regisseurs Alexander Mackendrick.

Auch der große Filmmonolog „Der Tod des Handlungsreisen den" nach dem Bühnenstück, großartig im Ineinanderfließen von Realität und Erinnerung, eine glanzvolle Schauspielerleistung, ist ein Drama der Desillusion, die Tragödie eines verpfuschten Lebens.

So steht als Ausnahme — ein Kunstwerk, in dem John Ford, der Regisseur des „Verfolgten", des „Informer" und anderer Werke, seiner irischen Ahnenheimat ein witziges, lebenssprühendes, aus individuellen, erdver- wurzelten Bauerngestalten geformtes dichterisches Denkmal setzt — nur der Film „T h e Quiet Man' diesen düsteren Werken gegenüber, ein Gipfel im Lebenswerk dieses Regisseurs, der mit Recht den katholischen Filmpreis dafür heimtrug.

Der deutschsprachige Film, der in Cannes noch mit je einem wesentlichen Werk aller drei Länder vertreten war, fehlte praktisch. Denn die „Sündige Grenze", ein realistischer Film, der am Lido einen Achtungserfolg errang, hatten die Deutschen selber nicht vor

geschlagen, und die Schweiz und Österreich hatten keine Spielfilme gemeldet. Audi diese Absenz ist kennzeichnend für die materielle und mehr noch für die gegenwärtige geistige Situation des deutschsprachigen Films.

Audi der religiöse Film blieb ohne überragende Leistungen. „Das Wunder von Fatima , schwächere Nachfolge des Berna- dettefilms, blieb in Venedig ohne Preis, und „Judas“, ein spanischer Film um ein Passionsspiel, erwies sich als provinzieller Versuch. Der privat gezeigte saubere und würdige Spielfilm über „Papst Pius X. ist fast ein Dokumentarfilm, dessen Höhepunkt das Konklave der Papstwahl ist.

Neu im Programm der Filmbiennale war die Rückschau, welche die Kinemathek von Mailand in 15 Nachmittagen über den italienischen Stummfilm gab, neu war die noch improvisierte Einbeziehung des Experimentalfilms im Rahmen einer Sonderschau.

Daß Venedig sich mit diesen beiden Erweiterungen seiner Schau nicht mehr nur dem zeitgenössischen Film, sondern auch dem historischen Vergleich zuwendet und das auch dadurch zum Ausdruck brachte, daß es auf den Eröffnungsempfang verzichtete und die dadurch ersparte halbe Million Lire einem Fonds für Stipendien für filmwissenschaftliche Forschungen widmete, der sich durch weitere Widmungen bis zum 1. September bereits verdoppelt hatte, unterstreicht das Streben der Männer der Biennale, die Filmkunstausstellung zu einem Zentrum der Bestrebungen für den künstlerischen Film zu machen.

Dennoch sollte man überlegen, ob nicht doch eine Rückkehr zur Biennale, ein alternierendes Veranstalten der jährlichen Olympiade des Films, dem Gedanken der Filmfeste mehr dienen könnte. Man brauchte dabei auf die jährliche Vorführung der Filme in Cannes und in Venedig nicht zu verzichten, aber man könnte sich begnügen, nur jedes zweite Jahr, einmal an der Riviera, das andere Mal in der Lagunenstadt, Preise zu verteilen Und für diese Preisverteilung das ganze Angebot der Filme des Jahres heranzuziehen. Auch die 13. Mostra der Filmkunst in Venedig erwies: es gibt nicht genug wesentliche Filme für zwei oder gar für drei Filmfestivals im Jahr.

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