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Ruf ans andere Ufer

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Die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens, nach Aufgabe und Ziel, steht in dieser Zeitenwende vernehmlicher und quälender vor ungezählten Hunderttausenden. Daß ihr die rechte Antwort gegeben werde, ist zum großen Anliegen des denkenden, verantwortungsbewußten Christen geworden. Daraus erfließen Gedanken, Sorgen und Wünsche, die mannigfach nach Ausdruck verlangen.

„Die Furche“ hält sich deshalb immer wieder verpflichtet, einer solchen freien Aussprache aus dem innersten Drängen des gläubigen Menschen im Rahmen sachlicher Erörterung Raum zu geben. „Die Furche“

Die Kirche ist in ihrer Bestimmung auf 1 den Menschen ausgerichtet. Objekt der Seelsorge ist nicht irgendein Kollektiv, die Gattung „Mensch“ etwa, sondern der Einzelmensch. Der wesentliche Standort der Seelsorge ist daher dort, wo die Menschen sind. Die Situation der modernen Groß-stadtseelsorge ist vornehmlich durch die Tatsache gekennzeichnet, daß die Kirche, der sakrale Raum, nicht mehr im gleichen Umfang wie früher Zentrum eines geordneten und in vorgegebenen Bindungen gefaßten Lebens ist. So ist nun die Kirche gezwungen, aufzubrechen und den Standort der Menschen, wo immer sie hausen, zu dem ihren zu machen. Seelsorgearbeit wird zur Missionsarbeit, zur steten Bewegung, wird mobilisiert und motorisiert. In dem Ausmaß, in dem die Verstetigung des Lebens und des Besitzes aufgehoben wird, muß sich auch die Kirche ihrer umfriedeten und gesicherten Heimstatt entäußern und mit Teilen ihrer Organisation auf Wanderschaft gehen. Vielleicht das stärkste Symbol für diese Entwicklung ist das Mitwandern der Kirche mit den deutschen Ostflüchtlingen als ihr letztes Stück Heimat.

Wo steht der Proletarier? Zur Kirche und zum Priester vermag er, fast aus „Tradition“, den Weg jetzt nicht zu finden. Wo soll ihm also Gottes Wort verkündet werden? Etwa in seinem' Heim? Dieses ist in der großen Stadt oft nicht mehr als ein Schlaf- und Eßraum. Der Standort der Großstadtseelsorge von heute ist in einem weiten Umfang der Betrieb, der ein einheitliches geistiges Milieu darstellt, eine Massenseele und einen Massengeist besitzt und aus einer kollektiven Interessenlage den Arbeiter formt *. Gegenwärtig ist es aber der Seelsorge kaum möglich, in den Betrieb vorzustoßen und die Grundwahrheiten des Dekalogs dem Arbeiter an seinem Arbeitsplatz zu künden. Vielleicht ist morgen die Chance gegeben. Mit neuen Menschen und neuen Methoden aus dieser Zeit. Der Ruf der Kirche zum anderen Ufer will drüben nicht aufgenommen werden. Aus verschiedenen Gründen, aber zumal, weil die noch vorhandene christliche Substanz bereits zu schwach ist und die Stimme der Kirche nicht gehört werden will. Frankreich in seinen heroischen Arbeiterpriestern, die sich in einem urchristlichen Enthusiasmus opfern, hat einen Weg gewiesen; Frankreich aber hat Hunderttausende katholischer Arbeiter, vor allem in der jungen Generation, die unmittelbare Apostelarbeit zu leisten vermögen und jene Atmosphäre für das priesterliche Wirken schaffen, in der die Menschen aufgelockert und bereit sind, Gottes Wort zu hören.

Noch ein zweites hat die Stellung der Kirche dieser Zeit maßgeblich geändert: die Zivilisation.

Es ist müßig, sie etwa als das endgültig Gewordene, als das Greisentum nach dem starken Leben, als Intellekt, nach der Seele der Kultur und in ähnlicher Weise abzu-tun. Die Kirche hat sich nicht mit Wertungen in dieser Richtung zu befassen, sondern in jeder Phase des Ablaufes der Welt bis an das Ende der Zeiten Gottes Wort zu künden. Auch die Zivilisation ist eine stete seelsorgliche Aufgabe und bedarf eigener Methoden der Wortverkündigung, insbesondere ihre stärkste soziologische Entsprechung, die große Stadt. In ihr ist die absolute Heimatlosigkeit verkörpert, in ihren Steinquadern erscheint das Verbundensein mit der Natur aufgehoben; und alle Energie ist nach außen gerichtet. In der

* Interessante Darstellungen zum Betriebsmilieu gibt Walter Frühauf in Heft II der Veröffentlichungen des Wiener religionspsychologi-sdien Forschungsinstituts, Wien 1927, in einem Aufsatz „Die Religion der Industriearbeiter, aus dem Grunde ihres Milieus dargestellt“.

Einbeziehung der Tatsache „Zivilisation“ in den Wirkbereich der Seelsorge liegt aber einer der entscheidenden Ansatzpunkte einer Neuformung des großstädtischen Christentums und insbesondere einer Auflockerung des Verhältnisses zur Industriearbeiterschaft.

Jede Ordnung ist nur des Menschen wegen und nicht um ihrer selbst willen da. Ordnung aber heißt Sidierung des Gemeinwohles. Um dieses Gemeinwohles willen steht die Kirche als Ordnungsmacht auch in der Welt, wenn auch heute nicht mehr in unmittelbarer Wirksamkeit.

Der Kapitalismus als Maßlosigkeit im Eigentumsgebrauch und als Zuchtlosigkeit im Eigentumserwerb steht wider die Ordnung. Also ist er zu verurteilen. Nicht aus Ressentiments, sondern um der Ordnung und um des Gemeinwohles willen. Die Verurteilung des Kapitalismus aller Riten muß aber ohne Kompromiß erfolgen. Der Gedanke einer „Arbeiterfreundlich-keit“ mag in einer Zeit, in der hinsichtlich der betrieblichen Größenordnung noch das Handwerk erhebliche Bedeutung hatte, als mutige sozialreformatorische Geste möglich gewesen sein. Heute wie immer gilt es aber nicht, „arbeiterfreundlich“ zu sein, sondern die Partei der Entrechteten zu nehmen, wo immer Unrecht geschieht. Nicht aus Taktik. Sondern damit der Mensch sich wieder zur Person erheben kann.

Die große Stadt hat alle dörflichen Abgrenzungen endgültig aufgehoben. Es wäre widersinnig, sich heute noch eine Stadt wie Wien als Anhäufung von Dörfern vorzustellen, innerhalb deren Gemarkungen alles Leben sich abspielt. In der Großstadt wird auch die ausschließliche Pfarr-seel sorge bei allen jenen Menschen versagen, die kein Bewußtsein für ihren lokalen Umkreis, ihren Bezirk oder ihren Bezirksteil haben, sondern überall im städtischen Raum daheim sind. Gerade beim Arbeiter ist der lokale Patriotismus am schwächsten. Es wäre daher gewagt, die Arbeiterseelsorge pfarrlich zu begrenzen. Ganz besonders gilt dies für die Versuche zum Aufbau einer Arbeiterjugendorganisation.

Zu den Formen des Kultes ist zu sagen, daß sie oft in erfreulicher Weise da und dort in diese Zeit hineinwachsen. Man sehe sich einmal eine Gottesdienstgestaltung so etwa in manchen Arbeiterpfarren Wiens an, in Floridsdorf oder in Favoriten, und wird zu dieser Erkenntnis kommen. Noch aber fehlt die kirchliche Feiergestaltung und Brauchtumsform, die auf die Psyche des Arbeiters und des Großstädters, ausschließlich auf diese, abgestellt ist. Wie vielfältig ist da auf der anderen Seite das — freilich in Jahrhunderten gewachsene — dörfliche Brauchtum. Wer etwa den Versuch macht, das Handbuch von Korenn ** in dieser Richtung zu untersuchen, wird feststellen, daß die Möglichkeiten der Entfaltung eines kirchlichen Arbeiterbrauchtums bei der gege-

** Hanns Korenn: „Volksbrauch im Kirchenjahr“, Salzburg 1934. benen Brauchtumssubstanz keine sehr großen sind.

Sollen wir un heute nicht einer barocken Formensprache entäußern und gilt dies nicht vielleicht auch bei manchen seelsorglichen Anlässen für den priesterlichen Habitus? Gerade aus der Erinnerung der Front weiß ich, wie unmittelbar dort der Priester, im Äußeren durch nichts von uns unterschieden, wirken konnte. Wem sind nicht die Erlebnisse eines Kriegsgefangenengottesdienstes in der Wüstenei des Lagers noch heute in stärkster Erinnerung? Jene Spontanität, jener Aufbruch verborgenster religiöser Impulse, da^ man den Kameraden, den priesterlichen Kameraden, der sonst ohne jede Kennzeichnung den gleichen Platz im Erdloch teilte, das Opfer darbringen sah! Vielleicht ist es da auch notwendig, das französische Beispiel erweist dies, gerade in der Arbeiterseelsorge auf die Bedeutung des Laien hinzuweisen. Es kann sogar sein, daß zuvorderst, zur Entlastung der Priester, eine „Entklerikalisierung“ in weiten Bereichen kirchlichen Lebens notwendig ist, um die Frontlinien wieder nach vorne verlegen zu können. In diesem Zusammenhange ist es angebracht„ darauf hinzuweisen, daß die oft zu starke begriffliche Unterscheidung zwischen Priester und Laien nur geeignet ist, eine Kluft aufzureißen, die zur Groteske des ..Laienchristentums“ führen kann, als ob es zweierlei Christentum gäbe.

Nicht allein auf die kultischen Formen sollte eine in dieser Zeit stehende Arbeiterseelsorge Bedacht nehmen, sondern auf jede Form der Reich-Gottes-Arbeit in der Welt. Manchmal mag es uns scheinen, als ob bestimmte Formen, etwa die bündischen oder andere, die allein gültigen wären. Ist denn christliches Leben nicht in einer unendlichen Vielfalt möglich? Ich kann mir vorstellen, daß es einem jungen Arbeiter in einer Jugendgruppe, in der nur grundgescheit gesprochen wird, wo jedes Wort und jede Geste genau abgemessen uifd mit einem tiefen Sinn versehen sein soll, nicht sehr wohl ist; vor allem, weil ihm ein solches Jugendreich nicht Entspannung, sondern eher noch neue Spannung bringt.

Nichts wäre . verderblicher in Österreich, als die politische Mündigkeit des Christen zu leugnen. Gerade der Arbeiter ist hellhörig und weiß in seinen besten Köpfen beispielsweise wohl Bekenntnis zur Nation und zu Geschichte von Reaktion zu unterscheiden. Wenn die Kirche sich zur Nation und Geschichte bekennt — und sie muß es tun — und damit zu seinem Vergangenen und Gegenwärtigen zugleich, wird sie gerade heute unendlich vorsichtig sein und jedes Wort wohl abwägen. Denn für den Arbeiter bedeutet — ob im gegebenen Falle mit Recht oder Unrecht ist gleichgültig — „Reaktion“ soviel wie Klassenkampf von oben, Fronarbeit, Zinskasernen und vorenthaltener Lohn. Die „gute alte Zeit“ war keineswegs immer so gut, wie man sie aus dem Pathos einer falschen Romantik heraus bisweilen darstellt. Die Kirche lebt der Gegenwart und hat auch das Gegenwartsglück des Gegenwartsmenschen zur Aufgabe.

Aus dem kurzphasigen Rhythmus neuzeitlicher Technik geformt, fehlt dem Arbeiter jedes Verständnis für eine rückwärtsgewandte Haltung. Ob das nun richtig ist oder nicht, ist wieder nicht Sache der Kirche, sondern eine Tatsache, mit der die Seelsorge zu rechnen hat.

Der Ruf nach der Elite war kaum je stärker als heute. Ist es aber nicht ein Widersinn, schon begrifflich, von Elite zu sprechen, wenn man nicht vorher Masse hat. aus der diese Elite sich zu bilden vermag? Das kann nicht vom Zentrum allein geschehen, sondern es gilt die Masse durch eine Popularisierung der Lehrverkündigung von der PeripHerle einzuholen. Nidit als ob ein Abstrich an der christlichen Lehrsubstanz überhaupt in Erwägung zu ziehen wäre. Es kommt auf die Formulierung und die Rücksichtnahme auf den Durchschnittsmenschen, vor allem in der Großstadt, an. Dieser, vielleicht sogar der Mensch an der Grenze der seelsorglichen Erfassung, steckt die Möglichkeiten der Seelsorge ab. Nicht der Asket ist das Ziel der Seelsorge, sondern das Volkschristentum, aus dem sich aus einer inneren Gesetzlichkeit eine Elite ablösen wird.

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