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Sainte Marie de La Tourette

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25 Kilometer von Lyon gibt es eine kleine Straße nach l'Arbresle. Sie führt durch einen Laubwald und läßt in keiner Weise die ungeheure Betonmauer vermuten, die plötzlich das Auge bannt. Es ist die gegen Norden gerichtete Kirchenmauer von Sainte Marie de La Tourette, einem der jüngsten Werke von Le Corbusier. In dem Dominikanerkloster haben sich im letzten Herbst für hundert Mönche die Tore geschlossen. Man sieht keine Arbeiter mehr, und das Gras der Wiesen hat die Spuren der Traktoren bereits verwischt. Das Gebet aus Beton des Jahres 2000 hat sich eingeschifft für seine Reise, durch die kommenden Jahrhunderte.

Le Corbusier, der ein sehr einfaches und naturverbundenes Leben führt, hat drei Jahre lang das Leben der Mönche studiert und ihr

Kloster in völlig unorthodoxer Weise entworfen.

Zur Verfügung stand eine sehr abschüssige Wiese, und die Aufgabe war, hundert Mönchen die Umgebung für ein einsames Leben in Kontakt mit der Natur zu schaffen. Deshalb beschloß Le Corbusier, das Haus auf der höchsten Stelle zu bauen und von oben her zu planen.

Kreuzgang auf dem Dach?

„Ich dachte einen Moment daran, den Kreuzgang auf das Dach zu verlegen, aber dann glaubte ich, daß das für die Mönche eine Art Flucht bedeuten würde, die ihr inneres Leben gefährden körinte. Ihr Leben ist großartig, kühn und sehr hart. Die Lieblichkeit des Himmels und die Wolken könnten es manchmal leicht erscheinen lassen. Wenn sie von Zeit zu Zeit dort hinauf-

gehen, wenn man ihnen gestattet hat, die Stufen zu ersteigen, die auf das Dach führen, so soll das für jene sein, die es sich verdient haben.“

Der klassische Kreuzgang ist ersetzt durch Galerien, die einander schneiden und die eine Verbindung mit den vier Flügeln des Gebäudes sichern. Es ist ein Schachbrett aus Beton und Glas, in lebendigen Farben gefleckt. Mauern und Decken in weiß, aber die Täfelung der Türen und die Entlüftungskiappen gelb und rot. Es sind Entlüftungskiappen, weil die Fensterscheiben unbeweglich sind. Das Kloster sollte in sich geschlossen, abgeschlossen von der Welt sein. Es sollte keine Fenster geben, die offen oder zu sein kön-r nen. Das vierseitige Kloster ist „funktionell“, das heißt, wie ein Werkzeug den Rhythmen des mönchischen Lebens angepaßt.

Ganz oben, die Zellen der Mönche:

Sie sind durch eine Längstspalte in der Höhe auf zwei Stockwerke aufgeteilt, die den Blick auf einen lichten Gang freilassen. Am Ende jedes Ganges Betonschilder, bei denen die Neigung so kalkuliert ist, daß die schwache Wintersonne eingelassen, die allzu heiße Sonne des Sommers aber abgehalten wird. Jede Zelle hat seine überhängende Loggia. Von außen glaubt man, eines der Klöster vom Berg Athos zu sehen.

„Ich habe die Zellen außen durch Loggien geöffnet, die begrenzt sind von Mauern, so daß die Augen nur Natur und die Ohren nur den Gesang der Vögel wahrnehmen können“, sagt dazu Le Corbusier.

In der Etage darunter wurden Gemeinschaftsräume und Zimmer für kleinere Gruppen untergebracht.

Das Refektorium, die Bibliothek, die Vortragssäle haben ungeheure Glaswände, der Länge nach geteilt durch schlanke Betonpfeiler, die mit dem Einfall des Sonnenlichtes spielen.

In der dritten Ebene entstanden, dem Terrain gemäß, drei beziehungsweise fünf Stockwerke. „Auf der Seite, wo die drei Stockwerke sind“, sagt Le Corbusier, „habe ich die großen Räume des Gemeinschaftslebens, das Refektorium und noch tiefer, das heißt ebenerdig, die Küchen untergebracht. Überall, wo die Gebäude nicht bis zur Erde reichen, habe ich den Boden mit Pfählen wieder eineefangen. Wenn ich nicht schon den Entwurf meines Klosters in der Höhe gekannt hätte, wäre ich dazu verurteilt gewesen, eine Veranlagung auf der Erde zu suchen und eine Art syrische Festung zu erbauen.“

Er mißt nach Menschen

Le Corbusier mißt nicht nach Metern, sondern nach Menschen. Das ist eine goldene Regel: Die Decken sind 2,26 m hoch, das ist die Höhe eines Menschen mit erhobenen Armen. Nicht aber in der

Kirche, denn „dort sind wir nicht mehr im Haus der Menschen, sondern es wird mit dem Maß Gottes gemessen“. Das sinnvolle Spiel der Proportionen ist gleichsam die mystische Grundlage für die Meßfeier. Die Mauern sind nackt, und die flache, 16 m hohe Decke bilden versiegelte Steinplatten. Der Altar aus Stein steht in der Mitte auf einem Sockel aus schwarzem Schiefer, zu dem man auf zehn Stufen heraufsteigt. Das Licht fällt aus einer zweck-

mäßigen Öffnung im Dach oder strömt hinter den Betstühlen herein, wo die Mönche sitzen. An die eine Seite der Kirche klammert sich eine Kapelle. Sie dient für Messen, welche die Mönche für sich selbst jeden Morgen lesen. Es ist eine Art Krypta, ohne Statuen, mit fünf Altären, erleuchtet durch den schrägen Tag, der in drei „Lichtrohren“ eingefangen wird.

Von außen schauen die Lichtrohre wie Kamine eines Passagierdampfers aus. Einer ist rot, der zweite ist schwarz und der dritte gelb. Im Inneren der Krypta wirkt das Licht wie Edelsteine, die nicht mehr ganz

mit den Maßen unserer Welt gemessen werden können.

Nach Jahren von Träumen und Visionen wurde das architektonische Werk ein Maximum an Eindringlichkeit und Perfektion. Seine Proportion und Harmonie haben ein unglaubliches Phänomen an Raum geschaffen. Orte beginnen tatsächlich physisch zu strahlen.

Aber in diesem Haus, das für Gott geschaffen wurde, hat Le Cor-busier nicht vergessen, daß dem Menschen sogar in seiner Begeiste-

rung für das Göttliche die Gnade versagt ist, perfekt zu sein.

Eines Tages, als der Meister auf die Baustelle kam, sah er zwei Arbeiter, die dabei waren, ein kleines Fenster zu verstecken, das nicht gelungen war.

„Dieses Fenster ist schlecht“, sagte Le Corbusier. „Das macht aber nichts. Lassen Sie es, wir werden darunterschreiben: Nichts ist unfehlbar.“

Vielleicht ist diese kleine Begebenheit typisch für Le Corbusier, der dauernd . nach den Sternen greift und sich dabei immer wieder selbst überbietet.

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