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Sammelrufe im Islam

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Istanbul — Beyoglu, Ende Jänner

Mohammed Ali J i n n a h, der Präsident der Muselmanischen Liga und Führer der 90 Millionen Muselmanen Indiens, gab kürzlich nach einem Besuch in Kairo der Hoffnung Ausdruck, daß es in absehbarer Zeit möglich sein wird, eine Konferenz der muselmanischen Führer Indiens, Ägyptens, Saudi-Arabiens, der Levante, des Iran sowie aller übrigen Länder, in denen die muselmanische Bevölkerung vorherrschend ist, einzuberufen. Alle diese Völker, sagte er, hätten zahlreiche gemeinsame Interessen und würden bei einer gegenseitigen kulturellen und ideologischen Verständigung durch ständige Fühlungnahme viel gewinnen. Im besonderen betonte Jinnah das Interesse, das die Muselmanen Indiens an den derzeit hochaktuellen politischen Problemen des Mittleren Orients nehmen.

Mit diesem Hinweis spielte der indische Muselmanenführer auf die seit etwa Jahresfrist sich steigernde Annäherung zwischen den arabischen Ländern und der Türkei an, die nun, nach einem seit dem Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches ein Vierteljahrhundert hindurch völlig getrennten, diametral gegensätzlich entwickelten Eigene leben, zufolge der durch den zweiten “Weltkrieg völlig veränderten weltpolitischen Konstellation wieder zueinander finden. Die Türkei, die sich vom slawischen Block bedroht fühlt, rückt innerlich vom Balkan ab und besinnt sich auf ihre jahrhundertelange gemeinsame Tradition sowie die gemeinsamen Interessen, die sie mit der arabischen Welt verbinden. Außenminister Hasan Sa k-a hat die neue türkisch Außenpolitik im Oktober 1946 in einem Interview, das er der arabischen Zeitung ,E1 Cumhuriye*, Aleppo, gewährte, mit dem Satze gekennzeichnet: „Die Türkei bietet den benachbarten arabischen Staaten die Hand, um mit ihnen eine solide Freundschaft aufzubauen.“ Vorher und seither waren und sind mancherlei Ereignisse und Gesten in dieser Richtung zu verzeichnen: So die im März 1946 in Ankara erfolgte Unterzeichnung des türkischirakischen Freundschaftspaktes, der anschließende Türkeibesuch des libanesischen Staatspräsidenten Bechara el. Khuri, der spontane Besuch, den König F a r u k von Ägypten im Hochsommer gelegentlich seiner Jacht-Kreuzfahrt im Mittelmeer dem türkischen Hafen Mersin abstattete, und eben jetzt der Besuch König Abdullahs von Transjordanien sowie die bei dieser Gelegenheit erfolgte Unterzeichnung des t ü r ki s c h - transjordanischen Freundschaftsvertrages. Der jn unterrichteten Kreisen bereits in Aussicht gestellte baldige Türkeibesuch des ägyptischen Königs sowie der damit verbundene Abschluß eines Freundschaftspaktes zwischen der Türkei und Ägypten dürften die neue türkisch-arabische Freundschaft ganz wesentlich erweitern und wohl den stärksten Tragpfeiler für das neue politische Gewölbe bilden, das nach den Plänen seiner Baumeister den Frieden und die Stabilität im Nahen und Mittleren Osten gewährleisten soll.

König Abdullah erklärte gelegentlich seines jüngsten Besuches in Ankara, die Türkei und die arabischen Länder müßten sich aufs neue zusammenschließen, um in dieser Union ihren einstigen Glanz wiederzuerlangen. Nur im solidarischen Zusammenschluß könnten die Völker des Orients heute ihr Heil finden. Die Türkei sei der leuchtende Stern dieses Orients, seine Avantgarde. Er hoffe sehr, daß auch die übrigen arabischen Völker das türkisch-transjordanische Beispiel nachahmen werden. Abdullah ging dabei über diese unter der Bezeichnung ,Orientblock' bekannte neue politische Kombination noch weit hinaus und sprach davon, daß sich nidit nur die Länder des Nahen und Mittleren Orients, sondern auch der Iran, Afghanistan und Nordafrika, ja selbst das mohammedanisch-indische Pakistan verständigen müßten, um ihre territoriale Intregrität zu sichern und dem Orient seinen alten Glanz wieder zu verleihen. Er schlug damit ausgesprochen panislamitische Töne an, die an die gleichen Saiten anklingen, wie sie Jinnah angeschlagen hat.

Dieser Gleichklang ist nicht zufällig. Er entspricht einer neuen Entwicklung — zum Teil ist es eine Rückentwicklung —, die durch die Aufspaltung der Welt in zwei mäditige Kräftegruppen bedingt ist. Auf der gleichen Ebene erscheint uns die Rede, die der Istanbuler Abgeordnete H a m-d u 11 a h Suphi Tanriöver, eine markante Persönlichkeit des türkiichen Geisteslebens, gelegentlich der Debatte über das neue Budget des türkischen Unterrichtsministeriums jüngst in der Großen Nationalversammlung zu Ankara zur Frage der Erziehung der türkischen Jugend gehalten hat. „Wir müssen es uns zur Aufgabe machen“ — sagte Tanriöver — „den türkischen Kindern wieder Religionsunterricht zu geben.“ (Dieser ist in den türkisdien Schulen seit den kemalistisdien Reformen abgeschafft.) Gewisse Besonderheiten, führte er weiter aus, könnten eine bestimmte Zeit vernadilässigt werden. Unter dem Umstand, daß die Religions'ehre im Laufe der Geschichte vorübergehend in die Hände von Nichtwissern geriet, wie dies auch in der türkisdien Gesdiidte leider der Fall gewesen sei, hätten mandie Völker gelitten. Individuen und Nationen aber hätten es verstanden, ihre Religion wieder auf die ihr gebührende Stelle zu erheben. Die Türkei dürfe, nicht mehr zögern, das gleiche zu tun. In der Argumentierung dieser seiner Forderung betonte Tanriöver vor allem die Notwendigkeit, die m o r a 1 i- ( $chen Eigenschaften des türkischen Volkes zu entwickeln, um es gegen gefährliche Tendenzen zu wappnen, was eben zwr Voraussetzung habe, daß der Religion die ihr als moralische

Quelle des türkischen Volkes zukommende Bedeutung wiederum beigemessen werde.

Die Forderung Tanriövers nach Rückkehr zu dem in der Kemalistischen Türkei staatlicherseits bewußt vernachlässigten Islam, ein Ruf, den der Redner zweifellos aus hohen ethischen Beweggründen heraus erschallen ließ, hat in der islamitisdien Weit ein kräftiges Edio gefunden- Die starke Abkehr vom Islam, wie vom orientalischen Geistesleben überhaupt, hatte die arabische Welt mehr und mehr der neuen Türkei entfremdet. Bewußt oder unbewußt, enthält die Forderung Tanriövers somit auch ein für die neue türkisch-arabische Freundschaft wesentliches Moment. Der Kernpunkt seiner Forderung liegt zweifellos in dem Satz: „... die moralischen Eigenschaften des türkischen Volkes zu entwickeln, um dieses gegen gefährliche Tendenzen zu wappnen.“ Diese Zielstellung entspricht durchaus dem eigentlichen Sinn des engeren Zusammenrückens von Türkei und arabischer Welt, ihrer gemeinsamen Bemühung, einen Einbruch der zerstörenden Gewalten zu verhüten, die sich auch in der islamitisdien Welt drohend ankündigen, im Nahen ind Mittleren Osten und weit darüber hinaus im afrikanischen Raum und bis nach Indien und China. Die Träger dieser Kräfte wissen sich überall den gegebenen Verhältnissen geschickt anzupassen, und sind in diesen Ländern bemüht, durch Vorschieben eigener muselmanischer Parteigänger als Freunde des Islams zu erscheinen.

Doch die Führer dieses Angriffes auf die islamitische Welt begegnen heute schon hellhörigen Gegnern. Die Welt wird Zeuge eines spannenden Kampfes auf Leben und Tod sein können, in dem sich zwei geistige Mächte erster Ordnung, eine uralte, aber kaum noch überaltete, und eine junge gegenüberstehen.

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