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„Sanios“ und „Santeros“ im Rio-Grande-Tal

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Der Reisende, der, von Chikago kommend, in Albuquerque, New-Mexiko, den mit der obligaten Klimaanlage ausgestatteten Zug der Santa-Fe-Bahn verläßt, ahnt noch nicht, daß ihn dies Jules-Verne-hafte Gebilde aus Stahl, Glas und Aluminium — es sieht mehr einem Flugzeug oder einem Weltraumschiff als einem Eisenbahnzug ähnlich — wie eine Zeitmaschine zwei Jahrhunderte zurück mitten in das altspanische Haciendaleben führt. Ein gleichfalls stets auf 19 Grad Celsius abgestimmter „Greyhound'-Auto-bus wird ihn dann in wenigen Stunden weiter nach der neumexikanischen Bischofsstadt Santa Fe und vielleicht sogar in verborgene Seitentäler des Rio Grande bringen. Dieser Fluß — der größere Teil seines Wassers läuft unterirdisch — speist eine Kette von grünen Oasen inmitten der roten Wüste von New Mexiko, Reservationsgebiet zahlreicher Indianerstämme, wie der Cochiti, Zia, Zuni, Nambe, Pojoaque, Picuris, Tesuque. Die reinrassigen Pueblo-Indi-aner sprechen untereinander noch die vielfältigen Dialekte des Uto-aztekischen als Geheimsprache, deren Struktur bisher noch wenige Weiße klären konnten) die anderen, nicht in den Reservationen lebenden Indios sind ganz im Bäuerlich-Mexikanischen aufgegangen und sprechen nur mehr Spanisch und einige Worte Amerikanisch.

Seit den Tagen Juan de Onates, der 1598, von einigen Franziskanerpatres begleitet, in das Tal des Rio Grande vorstieß, ist dort in den Wüstenoasen eine merkwürdige, in Europa so gut wie ganz unbekannte indianisch-christliche Mischkultur entstanden. Die Franziskaner kamen über 1000 Meilen weit von Ciudad de Mejico zu Fuß gewandert, um die Rothäute zu bekehren. Sie trugen kaum mehr als Holzkreuz und Rosenkranz mit sich. Ihr Auftrag war, Klöster zu errichten, Kirchen zu bauen und den Indianern das Evangelium zu predigen. Nur zweimal im Jahr kamen zu ihrer Verpflegung aus der Hauptstadt schwerbewaffnete Konvois von Ochsenwagen mit den wichtigsten Gebrauchsgütern für die Eremiten in der Wüste. Zum Unterschied von den blutrünstigen Prärieindianern setzten die Indios der Pueblosiedlungen den weißen Patres kaum ernstlichen Widerstand entgegen. In der dreihundertjährigen Geschichte der spanischen Kolonisation in Neu-Mexiko wissen die Chroniken nur von einer einzigen Indianerrevolte zu berichten. Dennoch war das Missionsweik der Franziskaner in dem riesigen Gebiet (es umfaßte die gegenwärtigen Staaten Neu-Mexiko, Arizona, Teile von Texas, Colorado und Utah) nicht leicht. Zwar lernten die Indianer mit der den Naturkindern eigenen Begabung rasch Spanisch. Doch wie konnten den analphabetischen Indios die abstrakten Begriffe des christlichen Glaubens auf einfache Art sinnfällig gemacht werden?

Die Franziskaner griffen in ihrem Erziehungswerk auf die mittelalterliche Bildsymbolik zurück.

So entstand in Neu-Mexiko die primitive Kunst der „Santeros“, der Heiligenbildmaler und -Schnitzer, eine Kunst, die sich bis in die letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts erhalten hat und merkwürdig starke Gemälde (retablos) und Statuen (bultos), darstellend die Dreifaltigkeit und Heilige (Santos), hervorgebracht hat, deren Stil in seiner grellen Ausdruckskraft merkwürdig an Bildwerke der europäischen Romanik, ja sogar an die koptische Kunst erinnert. So ergibt sich aus der

Abgeschlossenheit der Wüstengemeinschaften das Kuriosum einer Spätblüte „mittelalterlicher Kunst“ in der Neuen Welt, während in der Alten bereits die Aufklärung sich in den rationalen Formen des klassizistischen und josephini-schen Stils widerspiegelt. Der pompöse und ekstatische Jesuitenstil der mexikanischen Hauptstadt ist in dem 1000 Meilen entfernten Puebloland nicht mehr zu spüren, denn die schöpferische Kraft der indianischen Künstler hat ihre eigene strenge Art der Darstellung gefunden. So stellt die Kunst der Santeros von Neu-Mexiko das eine Extrem der lateinamerikanischen Kirchenkunst dar, das andere liegt im barocken Überschwang des Platereskstils von Tepotzotlan, von Lima, von Cuzco und Bogota.

New Mexiko war eine arme Provinz. Wenn die Hauptstadt nicht genügend Heiligenbilder für die Kirchen und Kapellen liefern konnte, waren die Missionäre gezwungen, entweder selbst welche herzustellen oder indianische Künstler zu beauftragen. Die Kunst der indianischen Santeros beginnt, wenn man die wenigen frühen auf Büffelhaut gemalten Bilder von der Hand der Franziskaner ausnimmt — sie sind fast alle verlorengegangen —, um 175Q.

Es gehört zum Wesen der Volkskunst, daß ihre Meister in einer bescheidenen Anonymität verbleiben. Von 35 Malern und Bildhauern Neu-Mexikos werden nur drei Namen genannt. Jose Aragon, der einzige Santero, der seine Bilder signierte — er lebte zu Beginn des 19. Jahrhunderts —, sein Schüler M i-guel Aragon und ein Maler, der entweder M o 11 e fi o oder M o n i 11 o hieß. Doch ist dieser Meister besser als unter dem umstrittenen Eigennamen durch den Beinamen der „C h i 1 i-M a 1 e r“ bekannt. Auf seinen Retablos wiederholen sich abstrakte rote Formen spanischer Ornamentik, die den roten Chili-Pfefferschoten Neu-Mexikos ähnlich sehen.

Die Themen der Santeros sind immer die gleichen: die heilige Dreifaltigkeit, die in ganz Mexiko verehrte „Strahlenkranzmadonna“, genannt Virgen de Guadelupe, die Jungfrau von Atocha und von populären Heiligen insbesondere der Bauernpatron San Isidoro von Madrid, Santiago, der Mohrerjkämpfer, St. Ignatius von Loyola, Franziskus von Assisi und überraschenderweise der hl. Nepo-muk, dessen Verehrung in Neu-Mexiko vor allem ein Werk der Laienbruderschaft der „Penitentes“, der Büßer war, die aus dem Tertiarierorden der Franziskaner hervorgingen. Heute noch genießen die Penitentes in den Oasen von Neu-Mexiko als religiöse Geheimgesellschaft eine gewisse Machtstellung. In den Häusern ■ der Penitentes haben sich die meisten der Santos und Bultos erhalten, die nun in den Museen von Santa Fe, Taos, Colorado Springs, Denver und in der Hispanic Society zu New York zwar besser konserviert werden als in den kleinen Dorfkirchen am Rio Grande, doch ihrer natürlichen Umgebung entrissen, ein trockenes Herbariendasein führen.

Nur einige der Heiligenbilder sind noch in abseits gelegenen Kapellen Neu-Mexikos anzutreffen, so in Rancho de Taos und in der einsamen Kirche von Chimayo im Tesuque-Indianergebiet.

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