Schönheit der Geschwindigkeit

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Der Futurismus, die radikale Avantgarde Italiens, ist seit 1912 zum ersten Mal in Wien zu sehen.

Wohl kaum eine Kunstrichtung ist widersprüchlicher als die italienische Avantgardebewegung Futurismus. Faszinierend, weil sie einen sozialkritischen, multimedialen Kunstbegriff formulierte, der heute mehr Aktualität denn je besitzt. Die Kunst wurde als etwas verstanden, das sich nicht von sich aus, sondern aus dem Kontext heraus erneuern muss. "Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild", lautete die zukunftsweisende Devise der auf Grenzüberschreitung ausgelegten Bewegung, in der die Idee und nicht das Werk im Zentrum stand.

Zugleich verherrlichte der Futurismus mit seinem übersteigerten Geniekult Gewalt und Krieg, war stark nationalistisch orientiert, was später zur Unterstützung des Faschismus durch den Rädelsführer der Gruppe führte. Nicht wegzuleugnen ist auch die Frauenfeindlichkeit des elitären Männerbundes, folgt doch gleich in den ersten Schriften auf die "Verherrlichung des Krieges" die "Verachtung des Weibes".

Begonnen hat alles am 20. Februar 1909. Denn an diesem Tag wurden die Leser der Pariser Zeitung "Le Figaro" mit einem höchst ungewöhnlichen Text überrascht. Unter dem Titel "Manifest des Futurismus" proklamierte der junge, wohlhabende Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti eine Weltanschauung, in deren Zentrum die radikale Erneuerung von Gesellschaft und Literatur steht. Propagiert wird dabei die gewaltsame Zerstörung der vorherrschenden bürgerlichen Kultur und deren Tradition zugunsten einer auf die Zukunft ausgerichteten Kunst, die in ihren Ausdrucksformen der modernen Technik und der großstädtischen Massengesellschaft entsprechen soll. Der in Alexandria geborene studierte Jurist bedient sich dabei der Form des politischen Manifests: "Wir wollen die kämpferische Bewegung, die fiebernde Schlaflosigkeit und den Faustschlag preisen. Wir erklären, dass der Glanz der Welt um eine neue Schönheit reicher geworden ist, um die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennautomobil ist schöner als die Nike von Samothrake".

"Den Faustschlag preisen"

Den enthusiastischen Forderungen des charismatischen Literaten mit dem Spitznamen "Koffein Europas" schlossen sich bald Künstler aus unterschiedlichsten Sparten an. Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini unterzeichneten das Manifest einer futuristischen Malerei, bald darauf erschienen Grundsatzprogramme für Plastik und Architektur. Der "Futurismus", für den Marinetti ursprünglich auch die Begriffe "Dynamismus" und "Elektrifizismus" erwogen hatte, wurde bald zu einer künstlerischen Bewegung mit weitreichender Wirkung. Mit Flugblättern überschwemmten die zukunftsorientierten Revoluzzer Straßen und Cafés, mit Aktionen und Skandalen schockierten sie das Bürgertum. Dabei wird der bewusst inszenierte Skandal, das Schockieren des Publikums und dessen Reaktionen als höchst futuristische Haltung verstanden. Ein Moment, das wesentliche Elemente der Kunst der sechziger Jahre vorwegnimmt - man denke etwa an Performance, Happening und Aktionskunst.

Italien, das bisher durch die Konzentration auf die klassische Erbschaft lange im epigonalen Spätimpressionismus vor sich hingedämmert hatte, bekam nun endlich eine Avantgarde. Allerdings entwickelte sich diese nicht langsam aus dem Streben nach formaler Erneuerung der Kunst auf der Leinwand, sondern wurde quasi in der Retorte erzeugt. Daher hatte man keinen einheitlichen Stil, um die angestrebten Ziele - Bewegung, Rhythmus und Gleichzeitigkeit - umzusetzen. Zunächst bedienten sich die Künstler der malerischen Mittel des spätimpressionistischen Pointillismus. Später zogen sie die kubistische Abstraktionstechnik heran, um Gegenstände aus unterschiedlicher Perspektive gleichzeitig darzustellen. Im Unterschied zu den Kubisten lehnten die Futuristen das Statische und Stilllebenartige ab. Bei ihnen musste alles vibrieren und flimmern. Wie mit Röntgenstrahlen durchleuchtet sollten die Bilder erscheinen.

1912 gingen Marinetti & Co bereits erstmals mit einer Wanderausstellung auf Reisen. In einem begleitenden Text gab man sich selbstbewusst und agitatorisch: "Ja wir sind jung und unsere Kunst ist unersehen revolutionär." Damals machten die jungen Wilden mit ihren Bildern auch in Wien Station. Das war allerdings auch schon das letzte Mal, dass der Futurismus hier zu Gast war. Grund genug für das Kunstforum, eine Futurismus-Schau zu veranstalten. Zwei Jahre bemühte sich die Kuratorin Evelyn Benesch, Highlights für das Wiener Publikum zusammenzutragen, was ihr mehr schlecht als recht gelang. Denn ein Großteil der futuristischen Meisterwerke hängt streng gehütet in italienischen Privatvillen. Das offizielle postfaschistische Italien hatte zunächst kein Interesse, Bilder einer Kunstbewegung zu kaufen, die in ihrer späten Ausprägung dem Faschismus nahe stand. Heute hat sich die Sichtweise freilich geändert. So schmückt Umberto Boccionis schreitende Figur mit dem tragenden Titel "Urformen der Bewegung im Raum" von 1913 seit der Euro-Einführung in Italien die 20 Cent Münze - im Kunstforum ist die Plastik als meterhohe Bronzeskulptur zu sehen.

Was man nun in Wien präsentiert bekommt, ist trotz eines Mangels an futuristischen Hauptwerken und der Aussparung jeglicher politischer Hinterfragung - man konzentrierte sich eben nur auf die Kernjahre des Futurismus von 1909 bis 1918, so die Argumentation der Direktorin Ingried Brugger - sehenswert. Zum einen lohnt ein Besuch schon allein wegen einzelner Gustostückerln, zum anderen inspiriert diese Präsentation zur tieferen Auseinandersetzung mit der Bewegung. Eine solche ermöglicht zwar nicht die Ausstellung, dafür aber die Lektüre des anspruchsvolleren Katalogbuches.

Wort-Bilder und Seh-Texte

Eines der eindrucksvollsten Bilder hängt gleich zu Beginn der Schau: Umberto Boccionis "Lachen" (1911) aus dem Museum of Modern Arts in New York. Thematisch eine Hommage an das Nachtleben, erinnert das Bild formal an das Staunen über die zersplitterte, bunte Bildwelt, das man als Kind beim Durchschauen eines Kaleidoskops hatte. Ein weiterer Höhepunkt der Ausstellung findet sich im Hauptraum: Carlo Carràs "Das Begräbnis des Anarchisten Galli" (1911) kam ebenfalls aus dem MOMA angereist. Dieses Meisterwerk aus den Anfangsjahren der Bewegung löst alle Forderungen der futuristischen Ideologie ein: Mit seinen rot-schwarz Kontrasten und der bewegten Masse, die durch das Gegenlicht schwerelos erscheint, wirkt das unheimliche, nahezu aggressive Bild wie eine visuelle Umsetzung eines politischen Manifests. Schade, dass das Kunstforum es nicht zum Plakatsujet machte und statt dessen ein unverbindlicheres, eher untypisches Frauen-Porträt auswählte, das noch wenig Futuristisches enthält. Mehr Zeit sollte man sich für die letzten Räume nehmen, denn hier sind die anderen Kunstsparten - Architektur, Mode, Foto, Film, Musik und vor allem die Literatur vertreten. Gerade die Papierarbeiten und die literarischen Neuerungen in Form von Wort-Bildern oder Seh-Texten gehören zum Interessantesten, was die italienische Avantgardebewegung hervorgebracht hat. So erklärte Marinetti bereits 1912 den "freien Vers" für überholt und setzte an seine Stelle "parole in libertà" (Worte in Freiheit). Unter "befreite Wörter" verstand der Gründer des Futurismus eine von den "Fesseln der Syntax befreite Sprache", die eine frei auf der Fläche verteilte Literatur ermöglichen sollte. Mit "parole in libertà" schuf Marinetti somit eine Grenzposition der Literatur, deren Auswirkungen bis in die experimentellen literarischen Verfahren der Gegenwart reichen.

Futurismus

Radikale Avantgarde

BA-CA-Kunstforum

Freyung 8, 1010 Wien

Bis 29. Juni

tägl. 10-19, Fr. 10-21 Uhr

www.kunstforumwien.at

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