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Schöpfer der neuen Musik

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PORTRAITS UND STUDIEN. Von H. H. Stuckenschmidt. Suhrkamp-Verlag. 300 Seiten. Preis 16.80 DM

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PORTRAITS UND STUDIEN. Von H. H. Stuckenschmidt. Suhrkamp-Verlag. 300 Seiten. Preis 16.80 DM

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In der Reihe „Zwischen den beiden Kriegen“ (Suhrkamp-Verlag) erschien 1951 der Band „Neue Musik“ von H. H. Stuckenschmidt. Nun läßt der Autor ein kleineres, für breitere Kreise bestimmtes Buch mit 20 Kurzmonographien folgen. Beide Bücher gehören zum Besten und Instruktivsten, was seit 1945 über die neue Musik geschrieben wurde, und sind das Resultat einer dreißigjährigen mitschöpferischen Anteilnahme an der Entwicklung der Ars nova. Bereits 1927 wurde H. H. Stuckenschmidt, heute Deutschlands führender Musikkritiker und Professor für Musikwissenschaft an der Technischen Universität von West-Berlin, Musikreferent der Prager „Bohemia“, zwei Jahre später an der „BZ am Mittag“, später am „Börsenkurier“ in Berlin. Nach 1933 kehrte Stuckenschmidt, der wegen seines mutigen Eintretens für die „Verfemten“ Schreibverbot erhielt, ans „Prager Tagblatt" zurück. Nach Kriegsende war H. H. Stuckenschmidt (als Musikkritiker der „Neuen Zeitung“, durch Vorträge, Rundfunkkommentare und als Initiator von Kursen) der.. ąktiy?te .pnd angesehenste Mentor der „zeitgenössischen ' Musik. Dlį „vęrliegėpde ’ Sammlung von Portraits und Studien ist jenen Komponisten gewidmet, die als die „Schöpfer der neuen Musik“ anzusehen sind und für deren Werk sich Stuckenschmidt eingesetzt hat.

Die Reihe beginnt mit den in den sechziger Jahren geborenen Pionieren der neuen Musik (Busoni, Debussy, Satie) und endet’ mit Hans Werner Henze, Jahrgang 1926. Zunächst, ohne Anführungszeichen, einige Charakterisierungen in freiem, sinngemäßem Zitat: Busoni, der Autor des „Entwurfs einer neuen Aesthetik der Tonkunst“ von 1906, Komponist, Dichter. Pianist, Lehrer und Polyhistor, Weltbürger aus Instinkt, Ueberzeugung und universaler Kunstgesinnung; Debussy, der sanfte Rebell, der Meister des feinsten Pianissimo, der Apostel des linken Pedals, der zu jenen Künstlern gehört, für die das Synästhetische zu einem schöpferischen Stimulans ersten Ranges wurde; Ravel, der ein Werk von mänadisch-festlichem Charakter schuf und dessen Kunst Surrogat war für das nicht Gelebte; J a n ä č e k, der Antiurbanist, dessen Musik den Stempel einer impulsiven, ganz und gar unabhängigen Persönlichkeit trägt; B a r 16 k, dem die Synthese von Großstädtischem und Volksliedgeist gelang und dessen Partituren den Eindruck von Ingenieursarbeit machen, die von großartiger Eingebungskraft getragen ist; Varese, der sich am konsequentesten von aller musikalischen Vergangenheit abgewandt hat, Schöpfer einer radikal neuen Aesthetik, Prophet eines neuen Raumgefühls in der Musik; de Falla, in dessen Musik Volkslied und Tanz, religiöse Mystik und maurisch-exotische Rhythmik zu einer Synthese verbunden sind, die nur das Genie zustande bringt; Strawinsky, vieldeutig wie Picasso, zwischen Ikoneneinfalt und stromlini- ger Schnittigkeit tausend Möglichkeiten des arrivierten Denkens demonstrierend, dessen Weg die Leuchtspur des Zeitgeistes zeigt und die Modernität resümiert; Schönberg, der Ausdrucksmus’ker par excellence, der die künstlerische Wahrheit höher bewertet als die vage und wandelbare Schönheit: Alban Berg, in dessen Musik die rauschhaften Erlebnisse in ständigem Kampf mit den ordnenden, disziplinierenden Kräften der Vernunft liegen; Webern,

dessen später Ruhm beweist, daß. das Allerweichste das Allerhärteste überwindet; M i 1 h a ü d, der wie kein anderer klar und eindringlich die Züge des mediterranen Menschen trägt im Nebeneinander von tragischem Pathos und burleskem Spaß; Messiaen und die Jeune France, in deren Kunst eine wenig beachtete Komponente des französischen Geistes aufbricht: ihre Neigung zu mystischer Religiosität und romantischem Unendlichkeitstraum; Dallapiccola, der unerbittlich suchende und bohrende Geist, dessen Schaffen vom Adel des Leidens gekennzeichnet und Dokument unseres konfliktreichen Jahrhunderts ist: Paul Hindemith, in seiner Jugend Enfant terrible der neuen Musik, im Alter einem scholastischen System der Weltdeutung zustrebend; Prokofieff, dessen Werke musikalischen Skulpturen gleichen und dessen Melodik einen Zug von unaufdringlicher und doch nicht zu bremsender Kraft hat; Schostakowitsch, mit revolutionären Anfängen, kühl grimassierend und polyphon, in den späteren sozialrealjstischep Kqlos- salgemälden Mähler und Tschaikowsky verpflichtet; B’rftten, mühelos šelaf fend und sich durchsetzend, universell begabt und mit hoher synthetischer Kraft ausgestattet; schließlich . H e n z e, in der Spannung eines geistigen Doppellebens aufgewachsen, nach Absolvierung der Zwölftonschule unabhängig von allen dogmatischen Fesseln komponierend, mit Zügen des Spielers und des Lyrikers . . .

Von den 20 Komponisten, die Stuckenschmidt mit ebensoviel Sachkenntnis wie Brillanz porträtiert, ist etwa die Hälfte noch am Leben. Nach der (obenerwähnten) ersten Gruppe der Pioniere folgt eine jüngere, in den achtziger jähren geborene (Varėse, Webern. Strawinsky). Dazwischen steht Schönberg, Jahrgang 1874. Nach. 1900 sind nur vier Komponisten geboren: Schostakowitsch, Messiaen, Britten und Henze. Etwa die Hälfte der „Schöpfer der neuen Musik" sind Romanen; Deutschland ist durch zwei, Oesterreich durch drei Komponisten vertreten. Die neue Musik, wie Stuckenschmidt sie — richtig — sieht, ist also eine universelle, zumindest, eine europäische. Diese Universalität spiegelt sich aber auch in den zahlreichen Querverbindungen zur Philosophie, Literatur und bildenden Kunst der Epoche, deren hervorragender Kenner der Autor .ist. So fügen sich diese 20 Einzelporträts zu einem Panorama europäischer Geistesgeschichte dieser ersten Jahrhunderthälfte.

Zum Schluß die Frage, die nicht etwa lautet: „Was fehlt?“, sondern eher: „Wen wünscht man bei einer künftigen Neuauflage noch in diesem Parnaß der modernen Musik anzutreffen?" Von älteren Komponisten: Skrjabin und Roussel; aus der mittleren Generation Honegger, Malipiero, Hauer, Martin und Wladimir Vogel; nicht fehlen sollten Ernst K r e n e k und Kurt Weill, beide Jahrgang 1900. Aus der Gruppe der Orff und Egk, Liebermann und Hartmann, Einem und Berger ist vielleicht inzwischen Boris Blacher zu den Mitschöpfern der neuen Musik aufgerückt. Auffallend ist auch, daß Amerika noch keinen prominenten Vertreter der Ars nova aufzuweisen hat. Vielleicht ist es George Gershwin . ..

H. H. Stuckenschmidt ist 30 Jahre lang unentwegt für das wertvolle Neue eingetreten. Was er-über die Kunst von Alban Berg, wohf besonders im Hinblick auf dessen „Wozzeck“, sagt, gilt auch für die neue Musik im allgemeinen: „Es gehört zu den tröstlichen Eigenschaften großer Kunst, daß auch verborgene, esoterische Elemente in ihr auf magische Weise Gewalt bekommen über die Menschen." — Und Busoni, der Vater der neuen Musik, läßt seinen Doktor Faust singen- „Nur der blickt heiter, der nach vorwärts schaut." Von dieser spirituellen Heiterkeit und humanen Zuversicht, die den Autor beseelt, teilt sich auch dem Leser etwas mit. Und diese gleichsam „tonische" Wirkung ist. so scheint uns, das Erfreulichste an Stuckenschmidts neuem Buch.

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