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Schöpfung und Unendlichkeit

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Ein Kodex der Wiener Nationalbibliothek, einer französischen „Bible moralisee“ aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, zeigt in einer schönen Miniatur den Schöpfer, aus dessen Hand das Weltall hervorgegangen ist, wie er mittels eines Zirkels das Weltall abmißt und seine Grenzen festsetzt. In der Mitte des Weltalls sehen wir die Erde, umgeben von den Sphären der Gestirne, Sonne, Mond und Sterne, um die sich weiterhin sdialenförmig die Sphären des Feuers, des Wassers und der Luft lagern. Die Gegenüberstellung Gottes in seiner überweltlichen Größe, mit seinem alles durchdringenden, ordnenden Blick, und der Schöplung in ihrer Vollendung, aber auch ihrer zugemessenen Beschränkung, ist eine gute Symbolisierung des mittelalterlichen Weltbildes in seiner Gesdilossenheit. Nur Gott ist unendlich — Größe, Masse und Ziel der Sdiöpfung aber sind begrenzt, auf Gott hingeordnet.

Spätere Epochen des europäischen Denkens haben diese Einheitlichkeit des Weltbildes verloren. Eine auf die alltägliche Raumerfahrung des Menschen und auf die klassisdie Physik gestützte Naturphilosophie glaubte für Raum und Zejt Unendlichkeit annehmen zu müssen. Es ist ja auch für das aus der gewöhnlichen anschaulichen Erfahrung abgeleitete Denken des Menschen nicht vorstellbar, daß der uns umgebende Raum nicht endlos sein sollte, daß er irgendwo eine Grenze haben sollte, hinter der ja wieder nur „Raum“ sein könnte. So hat sich der Begriff vom unendlichen Raum gebildet, vom unendlichen und ewigen Weltall, der den pantheistischen Neigungen der Aufklärungszeit entgegenkam und von ihnen genährt wurde. Der Schöpfung wurde so ein Attribut zugebilligt, das bisher als göttlich empfunden wurde. Der Gottesbegriff wurde farbloser, die Natur vergöttlicht.

Die moderne Physik hat eine Entwicklung genommen, in der die Vorstellung vom „unendlichen Weltall“ keinen Platz mehr hat. Es ist eine der „paradoxen“ Aussagen der Relativitätstheorie, daß das Weltall endlich sei und man seine Größe berechnen könne. Diese Aussage hat nur einen Sinn bei Beziehung auf ein vier-dimensionales System, bei dem die Zeit als vierte Dimension eingeführt wird. Wir können mit dieser Aussage unmöglich eine anschauliche Vorstellung verbinden, und das muß auch so sein. Denn unsere Raumanschauung, unser anschaulicher Raumbegriff, hat sich infolge des Baues unseres Organismus und seiner Sinnesorgane ausschließlich auf Grund von Erfahrungen gebildet, in denen wir von den physikalischen Grundlagen der Relativitätstheorie nichts bemerken konnten. Diese basiert nämlich, wie jede Aussage einer empirischen Wissenschaft, auf Experimenten und Messungen, also letzten Endes Eindrücken, die durch unsere Sinnesorgane vermittelt werden. Sie sind jedoch von einer Art, die außerhalb des Bereiches unserer alltäglichen Erfahrung liegen. Wir mußten also infolge unserer beschränkten alltäglichen Erfahrung zu einer dreidimensionalen Raumanschauung kommen, zur Annahme eines „unendlichen“ Raumes, die physikalisch nicht haltbar ist. —

Man hat sich diesen scheinbaren Widerspruch an einem Gleichnis klarzumachen versucht. Stellen wir uns ein zweidimensionales denkendes Wssen vor, das in einer Kugeloberfläche von bestimmter Größe lebt und infolge des Baues seiner Sinnesorgane nur imstande ist, zweidimensionale, also flächenhafte alltägliche Erfahrungen zu machen. Dieses Flächenwesen wird in seiner Kugeloberfläche in der Meinung dahinleben, seine Welt sei unendlich, denn soviel es sich auch in seiner Flächenwelt herumbewegt, es kommt nie an ein Ende dieser endlosen Kugeloberfläche, es kann sich so ein Ende gar nicht vorstellen. Was sollte dahinter auch kommen als wieder Fläche? Daß diese Fläche gekrümmt ist, kann es aus seiner alltäglichen Erfahrung nicht merken, denn zum Begriff der Krümmung einer Fläche gehört die anschauliche Vorstellung eines Körpers, die diesem Flächenwesen vollkommen fehlt. Wenn dieses Wesen nun Wissenschaftler ist und Berechnungen und Versuche anstellen kann, dann wird es ihm gelingen, dreidimensionale Rechnungsarten zu entwickeln (so wie die Relativitätstheorie vierdimen-sionale) und Versuche anzustellen, die es zu dem Schluß zwingen, seine Flächenwelt sei gekrümmt (auch die Relativitätstheorie spricht vom „gekrümmten Raum“!) und ihre Größe sei beschränkt und berechenbar, allerdings nur berechenbar bei Einführung einer dritten Dimension. Es wird dann die Größe seines Weltalls durch die Formel der Kugeloberfläche angeben können.

Eine anschauliche Vorstellung wird allerdings dieses Flächenwesen damit auch nie verbinden können. Die Relativitätstheorie hat uns aber gelehrt, wissenschaftlich Aussagen auch dann als zwingend und vollkommen wahr anzuerkennen, wenn wir mit ihnen keine anschauliche Vorstellung zu verbinden vermögen. Der menschliche Geist hat sich damit über die ihm von der Beschränktheit seiner sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten gesteckten Grenzen zu übermenschlicher Höhe erhoben. Ein wahrer Triumph des Geistes über den Körper. In besseren Zeiten saß ich an einem schönen Sommerabend mit einem ungarischen Ingenieur auf einer Terrasse der wunderschönen dalmatinischen Insel Hvar, und wir sprachen über Relativitätstheorie. Zum Schluß meinte er, der menschliche Geist habe damit seine natürlichen Grenzen durchbrochen und habe sich zum Göttlichen erhoben, einen neuen Durchbruch zu Gott gefunden.

Wir sehen, daß die moderne Physik in eigentümlicher Weise die mittelalterliche Vorstellung vom endlichen Weltall wieder zum Leben erweckt hat. Wieder steht die Schöpfung in ihr zugemessenem Maß und Größe dem unendlichen Schöpfer gegenüber und unser Geist folgt ergriffen dem Zirkel in seiner Hand. Ich möchte da nicht mißverstanden werden. Ich will weder behaupten, daß das Mittelalter die Entwicklung der modernen Physik vorausgeahnt hätte, noch daß aus der modernen Naturwissenschaft sich unmittelbar ein ^Gottesbeweis ableiten läßt. Es sollte nur gezeigt werden, daß eine rein empirische Wissenschaft in ihrer neuesten Vollendung sehr gut mit einer lauteren Religiosität vereinbar ist und daß sich so die Einheitlichkeit und Erhabenheit des Weltbildes wiederherstellt, die uns seit dem Ausklang des Mittelalters verlorengegangen war.

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