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Schriften, Sprachen und Kultur

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Wenigen Gebildeten ist es bewußt, wieviel Entscheidendes die Forschungsergebnisse des als historische Hilfswissenschaft geltenden Spezialfaches der Epigraphik zur Kenntnis der Geschichte, Verwaltung und Religion der antiken Welt beitragen. In mühseliger Kleinarbeit, die sich oft über Generationen von Gelehrten erstreckt, werden die schriftlichen Überreste der großen vorderasiatischen und mittel-meerischen Zivilisationen gesammelt, entziffert, übersetzt, gedeutet und haben, als einzige unverfälschte Zeugen der Vergangenheit, wahrhaft „lapidaren“ Aussagewert. Den Code dieser historischen Dokumente in Stein und Ton eingegraben, auf Papyrus oder Stoff gemalt, auf Münzen geprägt oder auf Waffen und Wände geritzt zu dechiffrieren, ist das ureigenste Anliegen jeglicher Epigraphik.

Das 19. Jahrhundert scheint für die Epigraphik eine Zeit der glücklichen Entdeckungen gewesen zu sein. Seit dem Beginn der Enträtselung der Keilschrift durch Friedrich Grotefend im Jahre 1802 eröffneten sich überwältigende Aspekte im Hinblick auf die Geschichte und Kultur Vorderasiens der letzten drei Jahrtausende vor Christi Geburt. Die Keilschrift, von den Sumerern zu Anfang des dritten Jahrtausends vor Christi erfunden, wurde unter anderem von den Akka-dern und Babyloniern, den Hethitern, Assyrern und Persern verwendet, und noch um 50 nach Christi bedienten sich die Astrologen der Länder am Euphrat und Tigris dieser als Geheimschrift.

Mit der Auffindung einer dreisprachigen Felsinschrift des Dareios I. in Behistun in Altpersisch, Elamisch und Babylonisch und deren Entzifferung durch H. G. Rawlinson war die Möglichkeit zur Aufschlüsselung weiterer Keilschrift, bedienten,, gegeben.'.Qnjiej jiß'igroßen Leistungen!' GiftfeleH^s undf seiner Nachfolger wären uns der Inhalt der Gesetzestele des Hammurapi, 1903 in Susa geborgen und seither im Louvre aufbewahrt, oder der Tontafeln der Keilschriftbibliothek des Assur-banipal mit der Sammlung babylonischer und assyrischer Literaturdenkmäler, heute im Britischen Museum, für immer verschlossen geblieben.

Der „Stein der Rosette“, den einer von. Napoleons Generälen während des ägyptischen Feldzuges erbeutete und nach Frankreich brachte — auch er fand den Weg ins Britische Museum

—, mit griechischem, ägyptischem und demotischem Text, bildete den Ausgangspunkt für die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen. Einem französischen Gelehrten, Champollion, glückte es, den Schlüssel zur Auflösung der Hieroglyphen, den ,heiligen Eingrabungen“ der ägyptischen Priester und Könige, zu entdecken und 1822 in einer Publikation vorzulegen. Als Begründer der Ägyptologie ist Champollion in die Geschichte der Wissenschaften eingegangen.

Nicht alle der kostbaren Schriftdenkmäler in Stein und Ton beziehen ich auf die Welt der Götter und Könige; viele davon erzählen von Handelsgeschäften, banalen Aufzeichhungen kleiner und großer Kaufleute im Urbanen oder interurbanen, aber auch internationalen Geschäftsverkehr. Sc wissen wir aus Tontafeln ägyptisch Ausgrabungen, daß man sich im interzonalen .^andejsvejkeir s;des Vor: deren Orients um. 14.00 ,yor, Christj auch in Ägypten der. Keilschrift bediente.

Lange Zeit hindurch bemühte mar sich vergeblich um die Enträtselung der kretischen Schriftdenkmäler — als Linear A und B in der Gelehrtensprache bezeichnet —, die in mehr als 2000 Tontafeln von Knossos und weiteren aus Pylos und Messenien vorlagen. Auch ein Professor der Wienei und später der Prager Universität Bedrich Hrozny, der sich erfolgreich, an der Dechiffrierung der hethitischer Schriftdenkmäler beteiligt hatte, mußte seine Bemühungen um die Entzifferung der kretischen Schrift einstellen. Erst vor wenigen Jahren hatten die zähen Anstrengungen zweier Engländer, Ventris und Chadwick, Erfolg. Sie stellen auf Grund ihrer Untersuchungen fest, daß Linear A unter dem Einfluß der ägyptischen Hieroglyphen entstanden ist und Linear B sich selbständig daraus als kretische Silbenschrift entwickelt hatte. Nun kennen wir auch die Sprache der Griechen des 2. Jahrtausends vor Christi; ihre Burgen und Paläste sowie ihre goldreichen Nekropolen hat uns die Archäologie schon lange erschlossen.

Die Phöniker, die im regen Handelsverkehr mit den Völkern des Mittelmeeres und des Vorderen Orients sowohl die ägyptischen Hieroglyphen als auch die babylonische Keilschrift kennengelernt hatten, bildeten sich mdWih SMWrlnerr? dämlich Keilschrift und Bilderschrift, ihr eigenes BiicKstabeÜä^ifiDe??' 'Diese übernahmen die Griechen um 900 und erweiterten es durch Einfügung von ihrer Sprache angepaßten Vokalzeichen zu dem noch heute grundlegend gültigen Alphabet. Der Vielfalt griechischer Dialekte (Attisch, Ionisch, Böotisch, Kypriotisch usw.) entsprach eine Vielfalt regionaler Alphabete. Einem dieser Alphabete haben auch die Etrusker ihre Schriftform entlehnt.

Das Geheimnis der Etrusker

Keines der mehr als 10.000 Exemplare zählenden etruskischen Schriftdenkmäler auf Aschenurnen und Grabwänden, Hausrat und Schmuckstückes hat seinen Inhalt, über das gelegentlich geglückte Lesen eines Eigennamens hinaus, preisgegeben. So harrl der längste Text in dieser wahrscheinlich vorderasiatischen Sprache, eir Opferkalender auf einer Mumienbind in Agram, noch immer der Dechiffrierung. Doch die Verlautbarungen einiger Gelehrter der Gegenwart, dei Auflösung der etruskischen Sprach nähergekommen zu sein, geben berechtigten Anlaß zu neuen Hoffnungen Vielleicht werden sie bald in der Lag sein, aus der Fülle des vorhandener epigraphischen Materials Konkretes über dieses Volk und seine Herkunft zu erfahren.

Wie die Etrusker, so haben skr auch die Umbrer, Osker und Latinei griechische Lautzeichen angeeignet. Das so entstandene lateinische Alphabet, mit wenigen Änderungen aus dem Griechischen übernommen, herrscht seit den Tagen der Römischen Republik in den meisten Schriftsprachen West-, Mittel- und Nordeuropas.

Bevor wir uns aber der griechischen und lateinischen Epigraphik zuwenden, müssen wir einer Schriftform gedenken, die in den Jahren der jüngerer Geschichte Mitteleuropas viel Verwirrung gestiftet hat. Laut gelehrten Lexika beschäftigte man sich bereit; seit dem 16. Jahrhundert „wissenschaftlich“ mit den Runen (von Raunen = geheimnisvolle Kunde?), und diese sollen, nach der Meinung einiger, dem nordetruskischen, dem lateinischen oder dem griechischen Alphabet nachgebildete Zeichen und Buchstaben darstellen, andere wollen darin dtgermanisch-keltische Begriffszeichen erblicken.

Als das bisher älteste Denkmal mit Runenzeichen gilt eine Spange aus Dänemark, die dem 2. Jahrhundert nach Christi angehören soll, mit dem Name* WIDUHUDA Waldhund eft-geritzt. Doch'weniger anf epigraphische Dokumente sind die Runentexte auf Wikinger-Grabsteinen um die Jahrtausendwende, sind Wetterzauber in Stein gehauen und das in Runenschrift aufgezeichnete Landrecht von Schonen aus dem Jahre 1300. Zwischen dieser ersten Gesetzeskodifikation eines nordischen Volkes in Runenschrift und dem Codex Hammurapi in Keilschrift liegen rund 3000 Jahre kulturgeschichtlicher Entwicklung im Vorderen Orient.

Ende des 19. Jahrhunderts systematisch aufgebauten Wissenschaft der Epigraphik konnten viele Irrtümer richtiggestellt werden. Aufsätze über Themen der griechischen und lateinischen Epigraphik finden sich in arr chäologischen, altphilologischen, aber auch in eigenen Fachzeitschriften. Die großen Standardwerke dieser Wissenschaft jedoch, wie zum Beispiel das Corpus Inscriptionum Latinarum, von Th. Mommsen 1883 im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften begonnen und bis 1931 fortgeführt, und die Sammlung der „In-scriptiones Graecae“ derselben Akademie oder die als Parallelarbeit von der k. u. k. Akademie der Wissenschaften in Wien initiierte Herausgabe der Tituli Asiae Minoris. deren bisher letztes Faszikel 1941 erschienen ist, oder De Rossis Inscriptiones Christianae Urbis Romae von 1888, bilden den Ausgangspunkt für jegliches Inschriftenstudium.

Als eine posthume Würdigung der epigraphischen Leistungen, österreichi-scher-Gelehrter, wie Kubitsche1<7 Dö zus seh tsnnä vbrjfiH snis JrloßM maszewski, Premerstein oder Wilhelm, darf es gewertet werden, wenn der 4. Internationale Kongreß für griechische und lateinische Epigraphik zwischen dem 17. und 22. September 1962 in Wien stattfindet. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften und das Institut für Alte Geschichte, Archäologie und Epigraphik der Universität Wien haben Fachgelehrte aus aller Welt zur Teilnahme an diesem Kongreß, der unter dem Ehrenschutz des Bundesministers für Unterricht steht, aufgefordert. Diejenigen, die dieser Einladung Folge geleistet haben, werden während dieser Woche die Ergebnisse ihrer neuesten Forschungen in einem der 40 angekündigten Kurzreferate einem kleinen Kreis von mit diesem Thema genügend Vertrauten vorlegen und von den im Programm vorgesehenen Diskussionen mit den Fachkollegen wertvolle Anregungen empfangen. Die Vorträge werden lateinische Inschriften von Spanien bis zur Dobrudscha, griechische aus der Zeit der Klassik bis in die römische Epoche behandeln; die Themen umfassen Einzelkapitel aus den Gebieten der Verfassung und Verwaltung, des Militärs und der Religion der griechischen und römischen Welt und werden für zukünftige Forschungsarbeiten richtungweisend sein.

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