6687385-1962_22_16.jpg
Digital In Arbeit

Seltsames Makedonien

Werbung
Werbung
Werbung

DIE UNBERÜHRTE LANDSCHAFT nimmt unser Herz gefangen. Sie verlockt uns, trotz manch schlechter Straße immer tiefer in ein Gebiet einzudringen, das wie kein anderes in Europa urtümlich, wild und voll bestrickenden Reizes ist. Steile, kahle Berge tragen noch ihre Schneekronen, wenn unten im Tal schon die Mohnfelder leuchten. Störche spazieren gravitätisch auf dem endlosen Schachbrett der Tabak- und Baumwollfelder oder schauen gelangweilt den schwarzzotteligen Wasserbüffeln, furchterregenden Ungetümen zu, die sich behaglich in den Pfützen wälzen. In undurchdringlichen Wäldern hausen Bären, Luchse und Wölfe. Kirchen und Klöster spiegeln ihre rotweiße Schönheit im tiefen Blau der Seen. Minarette streben zum südlichen Himmel und aus den Moscheen treten Männer mit Turban und Fez über kühngeschnittenen Gesichtern. Slawinnen in der bunten Pracht ihrer reichgestickten Gewänder und Skipetarenfrauen in Pluderhosen drehen heute wie einst die Handspindeln. Angesichts dieses verwirrenden Kaleidoskops von Völkern und Kulturen drängt sich die Frage auf: Wer sind denn eigentlich diese Makedonier? Sie ist nicht leicht zu beantworten, denn jenes Volk, welches durch Philipp und Alexander in das Blickfeld der Geschichte gerückt war, ist längst ausgestorben.

„DAS LEBEN VERGEHT, DIE STRASSEN BLEIBEN“, sagt der makedonische Bauer. Immer war die Mo-rawa-Vardar-Furche eine der großen Leitlinien der Völkerbewegung. Frühzeitig öffneten wichtige Straßenzüge der hellenistischen Kultur den Weg nach dem Norden, zu Illyrern, Thrakern und Panoniern. Griechische Händler aus Durazzo und Saloniki trieben lebhaften Tauschhandel. Davon geben aufgefundene Vasen der kretisch-mykenischen Stilperiode, die archaische Mänade von Tetovo und Terrakottafiguren von Tanagratyp Kunde. Reiche Schätze liegen noch unter Weideland und Feldern verborgen, es fehlen die Mittel zu planmäßigen Grabungen. Immer wieder stößt der Pflug des Bauern auf Zeugen großer Vergangenheit, ziehen Fischer mit ihren Netzen Götterstatuen aus den Flüssen. Im 2. vorchristlichen Jahrhundert besiegten die Römer den Makedonierkönig Perseus und legten die Via Egnatia als Fortsetzung der Via Appia bis an die Pforte des Orients. Auf ihr marschierten bewaffnete Legionen, brachten friedliche Kaufleute mit Tee, Speze-reien und kostbaren Seidenstoffen auch östliche Philosophie und Mystik aus dem sagenhaften Morgenland. Auf der Via Egnatia zogen die Verkünder des Evangeliums und fanden zahlreiche Anhänger. In der erst zum Teil ausgegrabenen antiken Stadt Stobi an der Mündung der Cerna Rieka in den Var-dar wurden fünf christliche Basiliken freigelegt. Sie zeigen mit polygonalen und Rundbauten deutlich das Vordringen orientalischen und byzantinischen Geistes. Bei der Teilung des Römischen Reiches fiel die Provinz Makedonien an Ostrom. In den Stürmen der Völkerwanderung siedelte hier ein südslawischer Stamm. Kampf gegen die angrenzenden Serben und. Bulgaren war sein Schicksal, bis es um die Jahrtausendwende dem Zaren Samuil gelang, ein mäohtiges Imperium zu gründen, dessen Grenzen sich bis zur Adria erstreckten. Zar Samuil residierte in Ohrid, dem antiken Lihnidos, dessen strategische Bedeutung schon die Illyrer zu schätzen wußten. Auch als die Byzantiner das junge Großreich zerschlugen und es wiederum mit dem oströmischen Reich vereinigten, blieb Ohrid, Sitz eines Erzbischofs, das geistige und religiöse Zentrum des südwestlichen Balkans. Sein Einfluß reichte bis Kiew und Nowgorod. Die Brüder Kyrillös und Methodiös aus dem nahen Saloniki hatten die Heilige Schrift aus dem Griechischen ins Altslawische übersetzt, ihr Schüler, der heilige Kli-ment, gründete in Ohrid eine berühmte Theologie- und Buchmalerschule. Im ganzen Land entstanden Kirchen und Klöster, gar mancher byzantinische Künstler unterbrach seine Reise nach dem Westen und schuf gemeinsam mit den heimischen Künstlern Monumentalmalereien, die zu den weltberühmten Kulturdenkmälern zählen. Diesem blühenden religiösen und künstlerischem Leben setzte der schicksalsschwere St.-Veits-Tag des Jahres 1389 ein jähes Ende. Sultan Murad II. besiegte am Amselfeld die slawischen Heere, fünf Jahrhunderte bestimmten die Türken das Geschick des Balkans und prägten sein Antlitz. Noch klagen schwermütige Volkslieder vom Leid der Niederlage, noch „blutet“ jeden Frühling das Amselfeld aufs neue, wenn die Blume Bozur ihren purpurroten Teppich über das Schlachtfeld breitet. Wieviel vom Türkenschreck auf das Konto politischer Propaganda zu buchen ist, bleibt dahingestellt. Eine gewisse religiöse Toleranz ist den Osmanen nicht abzusprechen. Makedonien nahm einen einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung, dach die politische Größe war dahin. Viele Kirchen wandelten sich zu Moscheen und unter dem Leichentuch weißer Tünche erloschen die leuchtenden Fresken.

HEUTE IST MAKEDONIEN, das „Lothringen des Balkans“ und ewiger Unruheherd, eine autonome Volksrepublik mit eigener Amts- und Schulsprache innerhalb des jugoslawischen Staatenverbandes. Da auch Bulgarien — im Primgebiet lebten 100.000 Makedonier — und Griechenland, dessen Makedonier weitestgehend hellenisiert wurden, Anspruch auf ihre „Brüder“ erheben, hat die jugoslawische Regierung, etwas gewaltsam, durch Aufnahme zahlreicher serbischer Wörter eine Sprache konstruiert, die bedeutend weniger Ähnlichkeit mit dem bulgarischen Idiom aufweist, als der ursprünglich in diesen Gebieten gesprochene bulgarische Dialekt mit altslawischen Einstreuungen. Das Nationaltheater in Skopje bringt klassische und moderne Werke in dieser makedonischen Sprache zur Aufführung. Die Regierung errichtet aber auch Kraftwerke, gigantische Fabriken und modernste Hotels, sie ist eifrig bemüht, die wilden, ungezähmten Hirten und Bauern mit allen Segnungen der modernen Zivilisation zu beglücken. Doch will es scheinen, daß sich die Makedonier als Partisanenkämpfer in der Einsamkeit ihrer Almen und Wälder wohler fühlten! Trotz strenger Gesetze und schwerster Strafen sind Blutrache, Brautkauf und Brautraub nicht ausgestorben, da und dort tragen noch Mohammedanerinnen die „Feredja“, den Schleier. Man muß sie tanzen sehen, diese kraftvollen, geschmeidigen Burschen, wenn sie beim Klang der Trommeln, der Zurla und Oboe, seltsamen türkischen Blasinstrumenten, die Schwerter beim Geistertanz schwingen oder mit ihren Mädchen den Kolo (Rundtanz) formen. Man muß sie singen hören, klagende, von der Melancholie der Steppe erfüllte Weisen, deren unaufhörlich wechselnder Rhythmus, archaischer Melos und orientalische Motive im Gegensatz zu den klassischen Gesetzen westeuropäischer Musik stehen und sich jeder Notation widersetzen. In Galicnik, einem Bergdorf inmitten eines verzauberten Buchenwaldes, in dem sich jeden Herbst die Wölfe zusammenrotten, werden alle Ehen des Jahres an einem einzigen Sommersonntag geschlossen. Festlich begehen die Pravoslawen den „Slawa-tag“, an dem ihre Familien zum Christentum übertraten — jeder Fremde wird zu Gast geladen. Von diesem „Heiratsdorf“ stammen die reichsten, auf dunklem Rot mit Gold und Silber gestickten Trachten. An Markttagen kommen die Bergbauern in die Städte und halten ihre Waren feil. Ein solcher Markt ist für den Fremden ein faszinierendes Schauspiel von Farben und unverfälschter Folklore.

ZWIEGESICHTIG UND BUNT SCHILLERND sind Makedoniens- Städte! Ein Blick von der Zitadelle in Skopje, dem türkischen Üsküb, vereint alt und neu, Ost und West, Hochhäuser, Kuppeln und Minarette. Die engen Bazargassen der Altstadt zaubern ein Stück echtesten Orient in das Herz des Balkan. Ein freundlicher alter Muezzin öffnete die Mustafa-Pascha-Moschee. Die prunkvolle Marmorfassade verrät den einstigen Reichtum der mohammedanischen Gemeinde, die durch Umsiedlungsaktionen klein und arm geworden ist, die weiten Räume wirken verwahrlost. Dicht daneben, in einem Hof verborgen, läßt das schlichte Kirchlein Sv. Spas nichts von dem vollkommenen Kunstwerk in seinem Innern ahnen. Meister der Holzschnitzkunst verwoben am Ikonostas biblische Szenen mit Tier-, Frucht-und Blumenornamenten. So wie Skopje, bezaubern alle makedonischen Städte durch ihre Vielfalt und ihr orientalisches Kolorit. Auch in Ohrid ist der Westen eingebrochen. Bankgebäude und Palasthotels, Schulbeispiele modernster Architektur, kontrastieren seltsam mit dem steilen Gassengewinkel, in dem sich die vorragenden Obergeschosse der türkischen Häuser fast berühren. Düster und dunkel wacht die Zitadelle des Zaren Samuil über See und Land. In ihrem Schatten träumt das Kloster Sv. Iovan auf steilem Fels über dem samtblauen Wasserspiegel den albanischen Bergen entgegen. Ob am Morgen Nebel die Ufer verhüllen oder des Abends die versinkende Sonne eine goldene Lichtbrücke über die unbewegten Wasser spannt — immer ist der See von einer unwirklichen, traumhaften Schönheit, In der Tiefe tummeln sich Fische der Tertiärzeit, in archäisch anmutenden, viereckigen Booten werfen Fischer ihre Netze aus.

NOCH VOR KURZEM ahnten die Makedonier nichts von den kostbaren Fresken in den Basiliken Sv. Sophia und Sv. Kliment. Bei Restaurierungsarbeiten in der im 9. Jahrhundert auf den Fundamenten eines heidnischen Tempels erbauten Basilika und späteren Moschee Sv. Sophia entdeckte man unter der dicken türkischen Mörtelschicht Malereien, deren Kühnheit und Dramatik erschüttern. Der strenge Kanon und die Starre, byzantinischer Ikonographie wurde hier, weitab von der Kontrolle des Klerus in Konstantinopel, durchbrochen und von Dynamik und Pathos abgelöst. Mit psychologischer Meisterschaft und leuchtendem Kolorit realistisch dargestellte Menschen weinen und wehklagen, jubeln und frohlocken. Der sehr reife Engelfries gemahnt in seiner Süße und Eleganz an Botticelli, perspektivisch verkürzte Figuren vermitteln zwei Jahrhunderte vor Giotto die Illusion der Raumtiefe. Die Kirche wird ebenso wie die Basilika des hl. Kliment zum Museum umgestaltet. In diesem aus dem 13. Jahrhundert stammenden Gotteshaus, das immer dem Christentum erhalten blieb, erwachen nun die von stümperhafter Übermalung, Staub und Ruß verdeckten Fresken von ungewöhnlicher Schönheit zu neuem Glanz. Das kunstgeschichtliche Bild Makedoniens rundet sich, wenn wir im Ohrider Museum die wunderbaren Ikone in kunstvoll getriebenen Silberrahmen betrachten. Sie gehören einem Zeitalter an, in dem unter der Türkenherrschaft die Monumentmalerei ihr Ende fand und das kleine für Prozessionen und den Ikonostas meist doppelseitig bemalte Andachtsbild hergestellt wurde. Italienische und serbische Einflüsse sind deutlich zu spüren. Auf sattem Goldgrund tritt uns das heilige Geschehen in neuer, bewegter Darstellung entgegen.

Versunken ist das römische Imperium und das Reich des Zaren Samuil, verschollen die Schöpfer der Fresken und Ikone, nur noch wenige Gläubige folgen dem Ruf des Muezzins — „Das Leben vergeht, die Straßen aber bleiben.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung