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Soziologie des Filmpublikums

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Im Anfang der jahrtausendealten Theatergeschichte steht der triebhafte Drang des Menschen nach Äußerung des gesteigerten Lebensgefühles in Lust und Schmerz, die ihrerseits wieder eine zeremonielle Formung und Gestaltung in rythmischer Erhöhung fordert. Das Zeremonielle also, in seiner höchsten Vollendung eine Art Gottesdienst, ist die Urform des Theaters, zurückzuführen auf die Sehnsucht des Menschen, dem täglichen Leben gesteigerte Form zu verleihen.

Ganz anders steht es um das Kino und sein Publikum. — Am Urbeginn der kurzen, aber reichen Geschichte des Films finden wir alles andere als Kult und Weihe. Da liegen technische Bedingungen und industriell-materialistische Berechnungen, da tritt Sensationslust an die Stelle höherer Kultstimmung, die Hochachtung vor dem technischen Wunder an die Stelle theatralischer Weihe. Im gleichen Augenblick, da der Indu-strialismus einmal seine Fangarme nach diesem technischen Wunder ausgestreckt hat, drängt sich Absatzkalkulation, Erfolgsgier und Gewinnsucht beherrschend in den Vordergrund, Begriffe, die sich beim Theater erst wesentlich später entwickelt haben.

Das Publikum nun, in der Urgeschichte des Theaters eine wahrhaft gläubige Masse, hingegeben dem Mythus einer zeremoniellen Kunst, in der weiteren Entwicklung noch immer vom geheimnisvollen Geist des Theaters erfüllt und umhüllt, fand den Weg zum Film; anfangs lediglich über die Brücke dsT reinen Sensation, des Neuartigen. Der Film aber glaubte anfangs nur durch „lebende Bilder“, durch „Abbildung“, durch Re-p r o d u k t i o n der primitivsten Alltags-szenen seine Mission erfüllen zu müssen. Als aber die ersten Süchte befriedigt waren und das Publikum wieder abzufallen drohte, tat die Filmproduktion einen Schritt weiter, um die Besucherzahl zu halten, ja zu vergrößern. Man kam von der Sensation der technischen Gegebenheit zur Sensation des Stoffes, dessen einzige Bestimmung es war, Anziehungskraft auszuüben. Das Publikum blieb nun auch wirklich treu — aber es nahm den Film nicht so ernst, wie man eben die Kunst an sich ernst nimmt. Es suchte einfach Unterhaltung, geistige Entspannung, Abwechslung. Diese Triebe beherrschen die Urgeschichte des Filmpublikums und spielen — wir wollen uns darüber nicht hinwegtäuschen — noch bis in die unmittelbarste Gegenwart herein die erste Rolle.

Vom Publikum aus gesehen, ergeben sich also zwei grundverschiedene Visierlinien für den Film und das Theater: Man geht in das Theater — und steigt damit in die höhere suggestive mythische Gewalt des Theaters; man geht ins Kino — und bleibt innerlich doch nur auf dem Boden des Alltäglichen, von dem man höchstens für ein bis zwei Stunden befreit werden will. Man fordert — bewußt oder unbewußt — vom Theater höhere ethische Werte, vom Kino jedoch bloß möglichste Auflockerung, sucht ablenkende Spannung, um sich zu entspannen und sein Ich vorübergehend zu vergessen.

Man darf sich nun nicht etwa in falscher Sentimentalität verleiten lassen, die Absatzspekulation des Films schlechthin zu verurteilen. Die technisch-industrielle Grundlage der Filmproduktion ist eben einmal eine genetisch gegebene Tatsache und läßt sich auch mit höchstem Idealismus nicht hinwegleugnen. Das Filmunternehmen steigt und fällt nun einmal mit der Besucherzahl, die wegen des Massenartikelcharakters des Films alle Theatermaßstäbe übertreffen muß. Aber es ist an der Zeit, daß endlich einmal eine Synthese der Elemente Kunst und Technik, Ästhetik und Wirtschaft, Ethos des Inhalts und Absatzgarantie gefunden wird.

Billigerweise versteht man, daß sich das Filmunternehmen nach dem Geschmack des Publikums richtet; abzulehnen aber ist die Methode der Geschmacksergründung und damit der Typisierung des Publikums. Denn sie führte bisher in ihrer unpsychologischen Oberflächlichkeit schließlich nur soweit, daß einfach der Besucher zum Sündenbock für das Geschmacklose und Unästhetische in der Produktion wurde. „Das Publikum will es so...“ wurde gewohnheitsmäßig und bequem zur Entschuldigung für die eigene künstlerische Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit.

Und die Methode? — Höchst einfach und bestechend. Man richtete sich nach dem Kassenerfolg der Gesamtaufführungen eines Stückes oder suchte nach probatem amerikanischem Muster statistisch festzustellen, welche Szenen etwa eines Lustspiels die meisten Lachsalven hervorlockten, welche Einstellungen eines Sensationsstücks die meisten Spannungen erregten, um auf Grund dieser Ergebnisse und Erfahrungen das Rezept für die weitere Produktion zusammenzustellen.

Ein ungeheurer und gar nicht so ungefährlicher Irrtum, weil man eben von vollkommen falschen psychologischen Tatsachen ausgeht. Lachsalven, Spannungen zeigen ja nur affektbedingte Augenblickserfolge an, bieten aber keinerlei kunstkritische Maßstäbe. Ein wahres ästhetisches Urteil bildet sich niemals im Augenblick der Darbietung, sondern erst nach einer ganz bestimmten Zeit innerer Apperzeption, einer Selbstprüfung und inneren Auseinandersetzung zwischen der Welt des Spieles und der des eigenen

Idis. So kann es geschehen, daß ein Film im Augenblick ganz ungeheure Begeisterung erweckt — aber keine Begeisterung hinterläßt, daß ein anderer Film wieder — um den Gegensatz besonders scharf zu prägen — vielleicht mit einiger Zurückhaltung aufgenommen wird — und tiefe innere Werte, Werte der Besinnung, der inneren Harmonie und Erhöhung schenkt.

Im Affekt berühren sich im allgemeinen die Verhaltens- und Ausdrucksweisen der gesamten menschlichen Gesellschaft: über einen Sensationswitz lacht nahezu unterschiedslos jedermann, wenn die Wendung nur halbwegs geschickt und überraschend ist — eine Rührszene, einigermaßen wirkungsvoll gesteigert, entbehrt selten des berechneten Effekts. Aber der echte ästhetische Wert kann doch erst nach einer Zeit stiller Prüfung aufgedeckt, nach dem individuellen Maße der seelischen und geistigen Bildung erfaßt, erahnt, erfühlt werden — und gerade dieser Wert wäre einzig bestimmend für die künstlerische Mission des Films als Volkskunstwerk.

Und das sollte er doch sein: Volkskunstwerk I Darin liegt ja seine auszeichnende und besondere Eigenart vor dem Theater, daß er niemals bestimmte Gesellschafts- und Bildungsgruppen umfaßt und keinerlei soziologischem Bildungsprivileg untersteht, sondern wegen der ganz anderen und viel größeren Expansionsverhältnisse alle sozialen Schichten umspannt. Es muß also das Unternehmen von Anfang an ein Bil-dungskollektivum berücksichtigen. Eine soziologische Differenzierung erscheint bei ihm schon rein genetisch ausgeschlossen und würde höchstens zu höchst ungerechten und verlogenen Programmgestaltungen führen.

Hier also liegt der Vorzug und zugleich die unermeßliche Gefahr einer modernen Filmsoziologie: sie hat die unterschiedslose Bildungsmöglichkeit der gesamten

Menschengesellschaft in 'Einklang zu bringen mit den rein wirtschaftlichen Fragen um den größtmöglichen Absatz der Produktion. Diese ausgesprochene Volksbuchmission aber verleiht dem Film seinen eigentlichen ethischen Wertl

Welche Stoffe soll nun der Film, der somit Sache des ganzen Volkes ist, wählen und gestalten? — Alle Stoffe des Lebensl — Hier kann die Kraft des Volksbuchmäßigen schrankenlos ihr Spiel treiben. Hier kann der Film — weit über die stoffliche Differenziertheit des Theaters hinaus — Stoffe annehmen, die eben alle angehen, Stoffe, nicht ausgewählt nach dem Maße des Theaters, dargestellt auf dem hohen Kothurn der Bühne, sondern gewertet pur nach dem Maß des lebendigen Lebens und sorgfältig betrachtet unter der Lupe der Kamera. Da aber liegt auch das integrierende Kennzeichen für das Verhältnis des Filmpublikums zum Filmkunstwerk, daß es nicht mehr aus bestimmter Entfernung ein dichterisches Kunstwerk erlebt, sondern gewissermaßen mitspielend in die Wahrheiten des täglichen Lebens hineingezogen wird, an die kleinsten Dinge des täglichen Lebens heranrückt — und dies ohne sozialen und ohne Bildungsunterschied! So lernt es sein und seines Nebenmenschen Leben kennen, gewinnt Achtung vor den Geheimnissen, die ihm bisher verborgen geblieben waren, lernt die Andacht zum Kleinen, das ihm in der Beleuchtung und Durchleuchtung filmischer Kleinmalerei, Auflockerung und Analyse vorgeführt — also buchstäblich vor Augen geführt wird.

Alle Stoffe der historischen Vergangenheit und der unmittelbaren Gegenwart können so durch die filmische Analyse Spiegelbild des allgemeinen Lebens werden, weil eben diese Kunstgattung allein imstande ist, die bisher verborgensten Geheimnisse konkret und doch nach einem ganz bestimmten ästhetischen Auswahlprinzip zu entschleiern, welche die abstraktere und komplexere Kunst der Bühne gar nicht mehr erfassen kann. So gesehen, erhält erst die neue Kunst ihren soziologisch-künstlerischen Wert, wird sie vom sensationsgesättigten Machwerk über alle Entwicklungsstufen des Volksbuches zum Volkskunstwerk.

Die Filmproduktion — vor allem des Abendlandes — muß sich endlich der hohen Aufgabe bewußt werden, die ihr durch die eigenartigen soziologischen und künstlerischen Voraussetzungen gestellt sind. Sie wird vereinzelten Avantgardisten folgen müssen, ehe sich das Publikum nach dem Maße seiner ethischen und ästhetischen Urteilsfähigkeit des Wesens und der Bedeutung der neuen Kunstform bewußt wird, die Banalität des durchschnittlich Gebotenen als Verletzung empfindet und das Kino meidet. Jeglicher Kulturpessimismus, der dem Volk in seiner Gesamtheit einen Kunstwillen abspricht, ist verderblich und durchaus unberechtigt: es ist nie so überreizt, müde und abgespannt, daß es nicht doch das künstlerisch Wertvolle in Gehalt und Gestalt — selbst in der leichtesten Unterhaltung — dem billigen und gehaltlosen Machwerk vorzieht. Dafür haben schon einige wertvolle Filmschöpfungen Zeugnis abgelegt. Bloß muß man den Bekennermut besitzen, dies einzugestehen — nicht nur die Kritik, sondern vor allem auch die Produktion!

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