Späte Experimente eines Vereinsamten

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Die Ernst Ludwig Kirchner-Ausstellung im Kunstforum der Bank Austria in Wien zeigt überraschend atypische Bilder des als "Großstadtexpressionisten" gestempelten Künstlers.

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Die Ernst Ludwig Kirchner-Ausstellung im Kunstforum der Bank Austria in Wien zeigt überraschend atypische Bilder des als "Großstadtexpressionisten" gestempelten Künstlers.

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Vor 60 Jahren nahm sich einer der zentralen Künstlerfiguren der Moderne das Leben. Der übersensible Maler Ernst Ludwig Kirchner sah sich in seinem Davoser Exil gefährdet und fürchtete, die Nationalsozialisten könnten nach dem Anschluß Österreichs auch in die Schweiz einmarschieren. Vorausgegangen war die Entfernung von über 600 Werken des renommierten Expressionisten aus deutschen Museen, die Verfemung als "entarteter Künstler" und die zunehmende Vereinsamung. Anläßlich des Todestages ist nun im Kunstforum der Bank Austria die erste umfassende Kirchner-Retrospektive in Österreich zu sehen - als Teil der Ausstellungsserie "Malerei des Expressionismus", die Hausherr Klaus Albrecht Schröder zu einem der Schwerpunkte des Kunstforums erklärt hat.

Die Ausstellung zeigt rund 170 Arbeiten Ernst Ludwig Kirchners: Von frühen Graphiken der Dresdner Studienjahre über Druckgraphiken der berühmten Berliner Zeit bis zu ungewohnten Bildern der letzten Davoser Jahre, die ein neues Licht auf Kirchners Werk werfen. Man vermißt zwar Hauptwerke der Berliner Jahre wie die berühmten "Straßenszenen", die nur spärlich vorhanden sind, ist aber überrascht über das atypische, monumentale Spätwerk, dem Kirchner selbst die Bezeichnung "Neuer Stil" gab.

Einen besonderen Schwerpunkt der Schau bildet die große Anzahl an Graphiken. Kaum ein anderer Künstler seiner Zeit hat ein derart umfangreiches ZeichnungsÏuvre hinterlassen wie Kirchner. Die Zeichnung erwies sich für ihn als geeignetes Ausdrucksmedium, um den eigenen Gefühlszuständen direkt und spontan Ausdruck zu verleihen. Unverkennbar und spannungsgeladen überzeugt der heftige Zick-Zack-Strich und die rasche kürzelhafte Darstellungsweise auf beinahe jedem seiner Blätter.

Bekannt wurde Kirchner vor allem als Protagonist der Künstlergemeinschaft "Brücke" in Dresden, die der damalige Architekturstudent 1905 gemeinsam mit Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl gründete. "Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt" lautete das bewußt antiakademisch orientierte Programm der ersten Künstlergruppe des Expressionismus. Die Freunde suchen nach einer von der Zivilisation unverbildeten "Kunst der Kunstlosigkeit", die subjektive Befindlichkeit soll in ureigenen Formen aufs Blatt gebracht werden. Um sich vom Realismus zu lösen und das Wesentliche in nur wenigen, raschen Strichen zu erfassen, trifft sich die kleine Gruppe wöchentlich zum "Viertelstundenakt". Im Sommer zieht es die Brücke-Künstler an die Moritzburger Seen, um jenseits der "Atelierdressur" im Freien zu baden und zu arbeiten.

Wegweisend sind für Kirchner zunächst Vincent van Gogh und die Fauves, insbesondere Henri Matisse. So weist die Mädchendarstellung "Marcella" (1910) in der großflächigen Farbigkeit und den vereinfachten Formen auf Kirchners Vorbilder. Bildaufbau und großflächige Formensprache macht Kirchner zum Träger der seelischen Empfindungen.

Zur Hauptinspirationsquelle wird die Begegnung mit der Kunst der Palau-Insulaner, die Kirchner 1910 im Dresdner Völkerkundemuseum entdeckt. In der kantig-flächigen, undetallierten Ausdrucksweise der "Primitiven" findet Kirchner das für seine Kunst gesuchte ursprüngliche Formenvokabular - er verarbeitet es in seiner Malerei, erkennbar an einem Bild wie "Sich kämmender Akt" (1913).

Durch die Übersiedlung Kirchners nach Berlin im Jahr 1911 eröffnen sich völlig neue Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Mit den ausschnitthaften "Straßenszenen" wird Kirchner zum Chronisten des bewegten hektischen Großstadttreibens schlechthin. Zum Hauptthema der Bilder erklärt er das Verhältnis zwischen Individuum und Masse im Chaos der Metropole. Die bevorzugten figuralen Motive seiner aggressiv gezeichneten Stadtszenen sind Prostituierte und ihre Freier - umgeben von Straßenversatzstücken wie Auslagen, Gehsteigen und Kutschen.

Von den Futuristen übernimmt Kirchner das Konzept der gleichzeitigen Darstellung zeitlich aufeinanderfolgender Geschehnisse. So ist die männliche Vordergrundfigur auf dem Bild "Berliner Straßenszene" (1913) in verschiedenen Phasen der Bewegung - einmal von vorne und einmal von hinten - gleichzeitig erfaßt.

Nicht unbedeutend für das zunehmende Gefühl der Vereinsamung, das sich in Bildern spiegelt, ist die Auflösung der Künstlergemeinschaft "Brücke". Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldet sich Kirchner freiwillig zum Militärdienst, gerät aber bald in eine existentielle Krise und wird wegen "Dienstuntauglichkeit" entlassen. Es folgt eine Zeit der Drogen- und Alkoholabhängigkeit sowie Aufenthalte in Sanatorien. Auch in dieser Zeit ist Kirchner künstlerisch tätig, seine psychische Destabilisierung verarbeitet er in Selbstbildnissen oder Holzschnitten wie etwa die Folge zu Adelbert von Chamissos "Peter Schlemihl" (1915), die er selbst "Darstellungen eines Verfolgungswahnsinnigen" nennt.

Zu einem erneuten stilistischen Wandel kommt es durch den Ortswechsel nach Davos. Hat Kirchner in den Jahren der Krise das kleine Format und die Graphik bevorzugt, so beginnt er nun wieder großformatig zu malen. Anstelle der Großstadtthemen ist die Darstellung der Alpenwelt und der Bergbauern getreten. Bewußt wehrt sich Kirchner in theoretischen Schriften gegen die Festschreibung zum Großstadtexpressionisten.

In den letzten Davoser Jahren setzt er sich anhand von Publikationen mit internationalen Kunstrichtungen auseinander, beschäftigt sich mit Picassos Kubismus, dem Werk Oskar Schlemmers und Le Corbusiers. Auch Elemente der Neuen Sachlichkeit fließen in Kirchners Spätwerk ein, in dem er eine abstrahierende Formen- und Farbensprache entwickelt. Kirchner sucht nach einem Mittelweg zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, schafft aber eine befremdliche Monumentalität und eine dekorative Ästhetik. Bilder wie die "Reiterin" (1931/32) oder das ein Jahr vor seinem Tod entstandene "Bogenschützen" zeugen von Kirchners späten Experimenten, nochmals einen "Neuen Stil" zu finden.

"Schafherde" (1938) nennt sich das letzte Bild Kirchners, das nach seinem Tod auf der Staffelei gefunden wurde. Es berührt in seiner Mischung aus idyllischer Alpenlandschaft und Menschenleere und wirkt wie ein letzter Stablitätsversuch - als hätte Kirchner zu der von ihm stets als bedrohlich empfundenen Wirklichkeit auf der Leinwand eine harmlose Gegenwelt entworfen.

Bis 28. Februar

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