SPÄTER GLANZ UND AUSKLANG
Zur Ausstellung „Gotik in Österreich“ in der Minoritenkirche Krems-Stein
Zur Ausstellung „Gotik in Österreich“ in der Minoritenkirche Krems-Stein
Von 1250 etwa bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts spannt sich der Bogen der großen Ausstellung „Gotik in Österreich'“, die in der Minoritenkdrcfae von Stein (1264 geweiht, der Chor im frühen 14. Jahrhundert vergrößert) ihren hervorragenden Ausstellungsort gefunden hat. Sie umfaßt also einen Zeitraum, der vom Tode Friedrichs II. bis zur Kaiserkrönung Karls V. in Bologna (der letzten Kaiser-krönung durch einen Papst) reicht, eine ungeheure Zeitspanne, die die höchste Blüte der Scholastik ebenso umfaßt wie die deutsche Mystik, einen John Wiclif ebenso hervorbringt wie einen Johannes Hus. Sie sieht die Entstehung des Humanismus in Italien, mit seinem neuen Menschen- und Kulturbild der idealisierten Antike verpflichtet, die Gründung der Universitäten von Siena, Montpellier, Rom, Perugia, Orleans, Florenz, Pisa, Grenoble, Valladolid, Prag, Pavia, Krakau, Wien, Köln, Erfurt, Turin, Saint Andrews, Leipzig, Löwen, Poitiers, Glasgow, Greifswald, Basel, Trier, Saragossa, Uppsala, Mainz, Kopenhagen, Preßburg, Valencia, Wittenberg, Frankfurt a. d. Oder und Marburg, den späten Glanz und den Herbst des Mittelalters ebenso wie den Beginn der Reformation. Es ist eine reiche und reife, ja überreife Zeit, ihr Antlitz von ungeheuren Spannungen durchfurcht.
An ihrem Beginn liegt das endgültige Scheitern der Kreuzzüge, die erste Anwendung der Folter durch die Inquisition, an ihrem Ende stehen die Bauernaufstände und die Glaubenskriege, der Türkenzug bis vor Wien. Dazwischen Kriege, Pest (die Straßburg in einem Jahr 14.000, Breslau 30.000 Tote kostete) und Seuchen, die seltsame Erscheinung der Tanz- und Springwut und die düsteren Geißlerzüge. Geistliche und weltliche Macht liegen im Kampf, Gegen- und Nebenpäpste treten auf, Fürsten erheben sich gegen den Kaiser, Zank und Hader in den Städten und Ständen erschüttern die Luft. Habgier und Wucher sind zu Hauptlastern der Zeit ebenso geworden wie Fraß und Völlerei, Mord, Totschlag und Unzucht. Aus der Bedrohung einer immer brüchiger werdenden Epoche wuchsen die Sieben Todsünden immer dichter in das Leben und in die Bilder hinein und das allgegenwärtige Dasein des Todes erzeugte neben den „Totentänzen“ auch eine Verrohung der Sinne und den Zerfall der Moral. Immer mehr entglitten die Fundamente, während das Neue erst am Horizont heraufdämmerte und ebenso düstere wie helle Schatten vorauswarf.ie stellt sich nun diese Epoche, diese spannungsträchtige Zeit, in ihrer Kunst in der österreichischen Landschaft dar?
In einer Zeit, mit der die Ausstellung „Gotik in Österreich“ einsetzt, hatte in Frankreich die Gotik bereits ihren Höhepunkt erreicht. Sie konzentrierte sich dort von Anfang an auf den Gedanken des Gesamtkunstwerkes der Kathedrale, dem die Malerei in den Glasfenstern und die Skulptur zum Schmuck untergeordnet sind. Diese Einheit, die bis zur Spätphase der Gotik erhalten blieb, wurde außerhalb ihres Ursprungslandes nie erreicht, die einzelnen Kunstgattungen entwickelten sich bereits in Deutschland in weitgehender Eigenständigkeit und verschiedener Reifung. In Österreich etwa, finden in die Architektur relativ früh bereits gotische Formen Eingang — durch wandernde französische Baumeister — während in der Plastik erst um 1300 und unvermittelt das entsteht, was man als gotische Skulptur bezeichnen kann. So der erschütternde Cruzifixus aus der Dominikanerkirche in Friesach mit mächtig gewölbtem Brustkorb, dessen individuell durchgearbeitetes Gesicht und die mystisch expressive Betonung des Leidens schon viel von dem verraten, was sich hierzulande im Gefolge der französischen Gotik ausbilden wird. Ihr Einfluß ist stärker noch im Cruzifixus aus Mühlau bei Admont zu spüren, bei dem Eleganz und formale Geschlossenheit auf westliche Quellen weisen.
Dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts gehört die Figur des „Heiligen Ritters“ aus St. Florian an, den die Literatur entweder einer von Wien und damit von italienischer oder westlicher Kunst beeinflußten Werkstatt zuschreibt, oder einem mährischen Schnitzer, da damals zur gleichen Zeit auf unserem Boden die vielfältigen Einflüsse ihre Wirkungen geltend machten, die die Wissenschaft bis heute nur in den seltensten Fällen schlüssig entwirren kann.
Die Kunst der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wirkt in der Skulptur bewegter, dramatischer und bald manieri-stisch. Aus dieser Zeit, zu der die herzoglichen Siegel Rudolfs IV. gehören, der Tumbadeckel des sogenannten Rudolf-Grabes im Stephansdom und die Figuren des Herzoghauses Habsburg, die Madonnenstatue aus der Minoritenkirche und die Dreikönigsgruppe von Maria am Gestade sowie die Sonn-tagberger-Gruppe, ist in der Ausstellung nur der „Tumbadeckel des Markgrafen Aribo“ aus Seeon zu sehen. In ihr weicht die Typisierung einer stark auf die Natur bezogenen Individualisierung, die in den Gestalten gern elegant übersteigert wird.
Um 1400 schließlich haben sich die anderen europäischen Provinzen der französischen Hochgotik angeglichen, ein einheitlicher Internationaler Stil entsteht, der sogenannte „Weiche Stil“. Von Burgund, den südlichen Niederlanden, ausgehend, wirkt er ebenso in die Toscana wie nach Deutschland, Frankreich, Spanien und England. Seine Kennzeichen sind Anmut und Lieblichkeit, gepaart mit einer im Typischen beruhenden Idealisierung. Nun entstehen die „Schönen Madonnen“ ebenso wie die „Vesperbilder“, von denen besonders die Pieta von Altenstadt bei Feldkirch in Vorarlberg hervorzuheben ist, deren ursprüngliche Fassung unter einer Ubermalung des 19. Jahrhunderts zutage trat. Hierher gehört auch das „Heimsuchungsrelief“ vom ehemaligen Altar der Bozener Pfarrkirche des Meisters Hans von Judenburg, der „Sitzende Apostel“ aus Aflenz, und der „Hl. Erasmus“ aus Pittenhart bei Seeon.
Gegen die Mitte des 15. Jahrhunderts löst sich der weiche Stil in der Plastik auf und wird nun von stark realistischen Tendenzen beantwortet. Sie entfalten sich vorwiegend in Wien durch den Bildhauer Jakob Kaschauer während in Sterzing in Südtirol der Schwabe Hans Multscher arbeitet. Im allgemeinen aber ist das zweite Drittel des 15. Jahrhunderts durch ein Erlahmen der schöpferischen Kräfte gekennzeichnet.
Die letzten drei Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts bringen eine noch deutlichere Reaktion gegen den internationalen Stil, die als Abwehr von der Frührenaissance verstanden werden muß. In dieser „Endgotik“ dominiert im Wiener Raum die bedeutende Persönlichkeit Nicolaus Gerhaerts von Lej'den, dem die Grabplatte Friedrichs III. in Wiener Neustadt zu danken ist. Aus seinem Kreis stammt die „Stehende Maria“ aus Passau. Die zweite große Bildhauerpersönlichkeit dieser Zeit war aber Michael Pacher, dessen St. Wolfganger Altar das Gesamtkunstwerk der Gotik, wie es sich auf unserem Boden gegenüber Frankreich in kleinerem Rahmen verwirklichte, repräsentiert. Von ihm sind drei Statuetten von diesem Altar und eine „Thronende Muttergottes“ zu sehen. Ein wahrer „horror vacui“ erfüllt nun diese Zeit, jeder Raum und jede Fläche werden nun gefüllt und zu beleben versucht. Hierher gehört auch der Altarschrein von Erasmus Grasser aus Oppenlberg und das Werk des Meisters von Kefermarkt. Hervorzuheben ist noch der „Schmerzensmann“ aus Hollenthon, während der in seiner Gesamtheit aufgestellte Flügelaltar aus St. Wolfgang in Grades noch einmal vor Augen führt, wie das Gesamtkunstwerk der Gotik zu verstehen ist.
Es war eine farbenfrohe bunte Epoche, das zeigen die Gewänder auf den Bildern ebenso, wie die uns in ihrer ursprünglichen Fassung erhaltenen Statuen, die Freskenreste der reich geschmückten Kircheninterieurs genauso wie die Glasmalerei, die bei uns zwar nicht die unerhört reiche und vergeistigte Entfaltung wie in Frankreich fand, deren hohe handwerkliche Qualität aber in schönen Beispielen zu sehen ist. Dazu kommen auch die reich illustrierten Manuskripte, von denen wesentliche Werke ausgestellt wurden, den Schwerpunkt in den Donaugebieten hervorhebend, die Textil-kunst mit dem eindrucksvollen „Fastentuch aus Haimburg“ in Kärnten und den reich bestickten Mitren, Kasein und Antependien und schließlich die Werke der Tafelmalerei, die ebenso wie die Werke der Plastik lange Zeit unter den Einflüssen aus' dem Westen und Süden standen.
Wenig ist uns aus der Frühzeit erhalten. Nach dem Auftakt des Verduner Altares, dieses Schlüsselwerkes, klaffen Lücken, und die Ausstellung setzt erst mit dem 15. Jahrhundert ein. Hier ist es aber nun gelungen, seltene Stücke zum erstenmal nach Österreich zu bringen, Arbeiten, die sonst ihren Standort in Troppau, Pettau, Warschau und London haben. So etwa die beiden Tafeln des Meisters der Linzer Kreuzigung, die „Geißelung Christi“ aus Gran und die „Taufe Christi“ aus Warschau, Werke des ausklingenden Weichen Stiles, den Pettauer Altar Conrad Laibs, bei dem Pisanello und Alti-chiero aus Oberitalien nachwirken, die „Marienkrönung“ des Meisters Großgmain aus Prag (der aus der Werkstätte Rue-land Frueaufs d. Älteren stammt), „Christus unter den Schriftgelehrten“ vom Meister von Mondsee aus' der Vaduzer Sammlung des Fürsten von Liechtenstein, der „Moulinser Altar“ vom Meister aus Uttenheim (Südtirol), der im Louvre eben restauriert wurde, und die kleine Tafel aus dem Umkreis Michael Pachers mit der „Thronenden Madonna und Heiligen“, die sonst nur in der National Gallery in London zu sehen ist,
Der Verzicht auf Überschneidungen mit vorangegangenen Ausstellungen und die Schwierigkeiten der Beschaffung lassen auch hier wie in der Skulptur einige Hauptwerke vermissen, doch sind der „Meister von Maria am Gestade“ mit seiner „Marienkrönung“, die für den Einfluß der niederländischen Malerei zeugt, der „Meister des Schottenaltares'* mit dem rechten inneren Flügel seines Werkes, die „Strahlenkranzmadonna aus St. Lambrecht“, Rueland Frueauf der Ältere mit dem hervorragenden „Männerporträt“, sein Sohn mit einer „Kreuzigung“, Michael Pacher mit zwei bedeutenden Tafeln, von denen die eine durch ihren schlechten Erhaltungszustand Aufschluß über Pachers Technik und Zeichenstil gibt, Friedrich Pacher durch den „Katherinen-altar“ aus Brixen und schließlich Max Reichlich durch die „Votivtafel des Florian Waldauf“, würdig vertreten.
Auch über die Entwicklung der Zeichnung als selbständige künstlerische Äußerung, die mit der Entfaltung des Weichen oder Internationalen Stiles zusammenfällt, geben einige wesentliche Exponate Auskunft. Einblattholzschnitte und Kupferstiche runden das Bild auf diesem Gebiet der Graphik ab.
Nicht vergessen werden dürfen aber auch die Beispiele der Eisenkunst, das Kunstgewerbe, Bucheinbände, Apothekergefäße, Zinn, Glas, Waffen, Landkarten und schließlich die Glocken, von denen Österreich die schönsten ■und musikalisch wertvollsten Europas aus dieser Zeit besitzt. Rechnet man dazu, daß die Architektur dieser Epoche in anschaulichen Photographien und Standortübersichten repräsentiert wird, so ergibt sich das Bild einer Ausstellung, die im Zusammenhang mit dem ausführlich und ausgezeichnet erarbeiteten reichhaltigen Katalog hervorragend geeignet ist, einen eindringlichen Einblick in eine Epoche zu geben, in der auch auf unserem Boden der Glanz und die Erschütterungen großer Ereignisse in Europa nachwirkten, das Sterben und Abblühen der Gotik des Mittelalters seinen spezifischen Ausdruck fand.