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„Stadt” ist mehr als eine Ansammlung von Steinen

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Ein Bild der Kirche als Freundin aller entwickelt der Mailänder Kardinal: Die Großstadt ist als Herausforderung zu begreifen und verlangt von der Kirche auch ungewöhnliche Initiativen.

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Ein Bild der Kirche als Freundin aller entwickelt der Mailänder Kardinal: Die Großstadt ist als Herausforderung zu begreifen und verlangt von der Kirche auch ungewöhnliche Initiativen.

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Das Problem der Stadt berührt uns alle; entweder haben wir selbst das Leben in einer solchen zugebracht, oder Studium oder Arbeit hat uns mit ihr konfrontiert. Heute ist die Stadt zum Menschheitsproblem geworden, da in allen Kontinenten ein explosives Wachstum der Städte registriert wird: 40 Prozent der Weltbevölkerung müssen mit dieser Lebenssituation zurechtkommen. Die Großstadt ist ein Ort der Verdichtung von soziologischen Phänomenen und von verschiedenen Lebenserfahrungen. Man muß auf all diese Faktoren achten, darf aber auch nicht vergessen, daß klar zwischen religionssoziologischer Analyse und theologischer Wahrnehmung zu unterscheiden ist. Ein Symposion in Mailand hat eine verbreitete Grundstimmung der Angst festgestellt; die Kirche ist heute gefordert, in diese Situation hinein die Botschaft Jesu zu tragen.

Gibt es die große Stadt als eine Einheit? Die moderne Großstadt hat den Gesamtraum in Regionen aufgespaltet (Verwaltungsbereich, Industriezonen usw.). Andererseits hat sich der private

Bereich enorm entwickelt, bis zu weitgehender Isolation der Stadtbewohner. Zudem gibt es viele Gruppierungen, sogar Subkulturen mit eigenen Lebensformen; zwischen all diesen besteht meist kaum Kontakt. Wer kann, flieht für Wochenende, Kurzferien oder Urlaub aus der Stadt, eine Tatsache, die für die Aufrechterhaltung der Pastoral große Probleme schafft.

Kann man heute die Großstadt als einen Ort des Heiles sehen? Man kann die Frage auch so stellen: Gilt die Evangelisation auch der Stadt als solcher oder nur den einzelnen Bewohnern? Ich verweise hier auf die Überzeugung, die in den alten Großstädten nicht nur eine Einheit, sondern auch einen Ort des Heiles sah. Man kann die schönen Worte von Giorgio La Pira, einst Bürgermeister von Florenz, in Erinnerung rufen: „Die Städte haben ihr eigenes Leben, ihr autonomes Sein, geheimnisvoll und tief: sie haben ein charakteristisches Antlitz, sozusagen eine eigene Seele und ein bestimmtes Schicksal: sie sind nicht zufällige Ansammlungen von Steinen, sondern geheimnisvolle Wohnungen von Menschen und - ich möchte geradezu sagen - in bestimmter Weise geheimnisreiche Wohnungen Gottes. Gloria domini in te videbitur”. Das pa-storale Wirken der Kirche kann deswegen auch die säkulare Stadt motivieren, in sinnvoller Weise ein Echo der göttlichen Liebe und Zuwendung im eigenen Leben dankbar anzunehmen. So muß auch die Großstadtseelsorge sich den Problemen der Fragmentierung und Anonymität der Gesellschaft bereitwillig stellen, damit das psychologische und spirituelle Wohl der Glaubenden wie der Nicht-Glaubenden beachtet wird.

Eine dritte Frage bezieht sich auf die sogenannte „neue Evangelisation”. In den europäischen Großstädten leben Gruppen von lebendigen Christen neben lauen Christen und solchen, die ihre Taufe gleichsam vergessen haben. Es steigt auch die Zahl der Unge-tauften und derer, die anderen Religionen angehören. Das bedeutet, daß die Pastoral im eigentlichen Sinn sich mit missionarischen Aktivitäten verbinden muß. Hier sind besonders die Laien gefragt, zur Evangelisation beizutragen, nicht nur durch ihr Beispiel, sondern auch durch deutliches Beziehen eines christlichen Standpunktes, besonders im freundschaftlichen Dialog oder geschwisterlichen Gespräch.

In einer Großstadt soll diese Evangelisation auch ökumenisch sein. Alle christlichen Konfessionen stehen heute vor denselben Herausförderungen und müssen lernen, ihnen gemeinsam zu begegnen. Für ökumenische Zusammenarbeit soll Raum sein -durch Vernetzung der gemeinsamen Elemente, Feiern und Aktionen, aber auch durch Betonung des Eigenständigen.

Ein grundlegendes Problem ist, den kontemplativen Geist wiederzugewinnen und wieder verfügbar zu werden gegenüber dem Wort Gottes, den Verheißungen und Plänen Gottes, der in Christus das Heil auch unserer gegenwärtigen Welt anbietet; wir müssen zeigen, daß die Kraft des Wortes Gottes heute nicht geringer ist als in den ersten Zeiten des Christentums, daß es auch heute möglich ist, christliche Gemeinden aufzubauen, die in einer Großstadt Zeugen der Freunde des Evangeliums, des Vertrauens in das Kommen des Reiches Gottes sind.

In meiner pa-storalen Praxis in Mailand fand die oben genannte grundlegende Option des Wortes Gottes ihre spezielle

Ausprägung in einigen Projekten, die dieses Wort in den Mittelpunkt holen und darauf hingerichtet sind, die persönliche Vertrautheit mit dem Schriftwort zu erleichtern.

Pfarre bleibt wichtig

Eines der Projekte ist die Schule des Wortes, die versucht, möglichst viele Jugendliche um den Bischof zu versammeln, damit sie Zugang finden, gemeinsam das Wort der Schrift zu lesen und zu meditieren. Solche Zusammenkünfte mit Jugendlichen habe ich gleich zu Beginn meines bischöflichen Dienstes initiiert: sie haben Tausende Jugendliche in den Mailänder Dom geführt. Diese Initiative wird heute in allen Städten der Diözese fortgesetzt.

Aber es gibt in der Großstadt viele, die sich von solchen Angeboten nicht ansprechen lassen. Für sie habe ich an eine ungewöhnliche Initiative gedacht, das Podiumfiir die Nicht-Glaubenden. Ich bin dabei von der Erfahrung ausgegangen, daß jeder Mensch im Innern sowohl die Stimme eines Glaubenden als auch eines Nicht-Glaubenden spürt. Ich wollte diese Stimmen öffentlich hörbar machen, indem ich auch Nicht-Glaubende eingeladen habe, öffentlich darüber zu sprechen, welche Gründe sie haben, nicht zu glauben, und wie sie mit diesen Fragen umgehen. Diese Begegnungen haben Tausende von Personen interessiert, weil sie weder apologetische Abhandlungen darstellen noch eine lehrmäßige Darstellung des Glaubens, sondern vielmehr die Ängste des heutigen Menschen zur Sprache bringen.

Aber auch diese Initiativen erreichen nur einen begrenzten Personenkreis, sie berühren nicht die Masse der Städter. Dafür bleibt als bevorzugtes Projekt, das wir mit Entschiedenheit unterstützen, die Pfarre, das alte traditionelle Projekt territorialer Präsenz. Mittels der Pfarre ist es immer noch möglich, auch in der Großstadt ein engmaschiges Netz zu bilden - unabhängig von sozialen oder kulturellen Bedingungen. Auch in der Großstadt hat die Pfarre ihre Funktion nicht verloren; sie soll vielmehr Zentrum des Lebens nach dem Evangelium werden.

Wenn es einen Ort gibt, wo große Vielfalt von Trägern der Pastoral möglich ist, ist dies gerade die Großstadt. Neben den Pfarren gibt es eine große Zahl katholischer Schulen, daneben unzählige Vereinigungen (in Form von Gruppen und Bewegungen), Hilfsorganisationen medizinischer und karitativer Art, Kulturzentren und Universitätsinstitute christlicher Prägung. Manche Ordensgemeinschaften gestalten besondere Orte in Hinblick auf Spiritualität und Pastoral.

Großstadtseelsorge ist aber nicht so sehr ein Problem alter und neuer Initiativen, sondern auch ein Problem des Arbeitsstils. Diesen muß die Pastoral in der Großstadt finden.

■ Kommunikativer Stil Die Pfarre der Großstadt ist in Gefahr, abseits zu stehen. Die Gestalt des Christlichen, die sich in ihr verwirklicht, scheint nicht mehr die Stadt, nicht einmal das Stadtviertel gut zu erreichen. Das ist nicht nur auf mangelnden Willen der Gläubigen zurückzuführen, sondern ist ein Effekt der Kommunikationsweise der modernen Stadt. Daher ist systematische Anstrengung notwendig, um zur Geltung zu bringen, was sich in unseren Gemeinden bewegt. Es gilt, wirksame Kommunikationssysteme der Pfarren untereinander und der Pfarren mit der Stadt aufzubauen.

■ Der Pastoralstil der Bildung. Die Präsenz der Kirche in der Großstadt kann nicht von der Erziehung der Jugend absehen. Die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft muß das Bewußtsein wachhalten, daß die Zukunft des Zusammenlebens von der Freiheit und der Verantwortlichkeit der jungen Menschen abhängt, die in diesem Kontext leben.

■ Stil des taktvollen Unterscheidungsvermögens: Man muß lernen, die Stadt mit Augen wahrzunehmen, die liebevoll, geduldig, barmherzig, freundlich, vorausschauend, herzlich sind. Man muß das verborgene Gute erkennen, das im Herzen vieler Menschen dieser Stadt lebt, die Angst und das Verlangen nach Gott, bewußt oder unbewußt, ist in vielen vorhanden. „Viel Volk nämlich gehört mir in dieser Stadt”, sagt der Herr(Apg 18,10). Man muß das Wirken des Heiligen Geistes spüren - in jedem Winkel der Stadt und in jedem anonymen Gesicht, dem wir begegnen.

■ Stil der Strahlkraft und des Entgegenkommens: Es handelt sich darum, dem Leben der Pfarren und christlichen Gemeinden der Stadt einen Stil der Aufmerksamkeit für den einzelnen zu vermitteln, einen Stil des Zuhörens, der Bereitschaft, sich auf die Leute einzustellen. Es ist wichtig, deutlich zu machen, daß jeder als Person mit seiner inneren Würde angenommen wird.

■ Stil der Verantwortung: Es ist notwendig, für ein stärkeres gemeinsames Bewußtsein der Stadt tätig zu werden, auf kirchlicher wie auf kommunaler Ebene. Dabei gilt es, die notwendigen Unterscheidungen im Blick zu behalten, in den Christen der Stadt deutlicher das Bewußtsein zu schaffen, als Kirche ein Subjekt zu sein (nicht nur eine Institution), mit spezieller Physiognomie und verändernder Wirkung durch das Evangelium. Wir müssen uns anstrengen, ein Bild der Kirche als das einer Freundin aller zu bieten, einer Kirche, die für alle offen ist, welche sich Fragen über das Leben, über den Sinn der Verantwortung im Umgang mit den Dingen dieser Welt stellen.

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