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Stadtbauplanung zwischen Ruinen

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Die hierarchische Stufenordnung der mittelalterlichen Gesellschaft fand ihr Abbild im Anlageplan der deutschen Städte, Je nachdem sich die Machtfaktoren und ideellen Werte örtlich überlagerten. Die Bischofsstadt bekam im vorhinein ein anderes Gesicht als der Handelsplatz und dieser wieder ein anderes als die um die kaiserliche Pfalz oder den Sitz eines Herzogs gescharten Wohnstätten der Hörigen, Reisigen und Schranzen. Landschaftsmäßig entwickelte sich die bauliche Gestalt angepaßt der Lage einer Stadt an Fluß oder Bergrand, Seeufer oder am Kreuzungspunkt von Straßen in der Ebene. Rein ästhetisch genommen, waren die Baukörper eine Weiterbildung landschaftlich bestimmter Grundformen durch die Impulse der großen abendländischen Stilepochen, abgewandelt nach dem verfügbaren Material.

Die meist aus dem Mittelalter herrührende Anlage deutscher Städte hielt im großen ganzen noch der modernen Industrialisierung und Umgestaltung des Verkehrs stand, von deren radikalen Vertretern allerdings oft als unzeitgemäßes Hindernis betrachtet. So stilfremd sich die neuen Warenhäuser, Verwaltungsbauten und die privatkapitalistischen Bausünden der wilhelminischen Zeit in ihre Kerne einschoben, einer langen Tradition folgend, wenn auch mühsam, suchte jede Stadt ihr besonderes Gesicht zu wahren. Selbst in den rapid vom Dorf zur Großstadt angeschwollenen Gründungen der ausgesprochenen Industriegebiete in Oberschlesien und an der Ruhr fühlte sich die neuere Baukunst zur Schaffung von Stadtkernen mit lokaler Eigenart verpflichtet, mitunter gewiß nur stilistische Wechselbälge, mitunter jedoch etwas wie echte Atmosphäre im Ausdruck unserer Zeitenwende erzeugend.

' Mit schonungsloser Härte hat der Krieg hier zugeschlagen. Mag man es durch militärische Zwecke rechtfertigen oder nicht, jedenfalls finden wir uns der Tatsache gegenüber, daß die meisten deutschen Städte nicht nur schwer getroffen, sondern viele gerade in den historisch wertvollen Teilen vernichtet sind. Das Ulmer und das Freiburger Münster ragen einsam aus einem Trümmerfeld, als das sich eine Jahrhunderte hindurch organisch gewachsene Umgebung heute darbietet, die heiligen Kirchen Kölns liegen in Schutt, vom Frankfurter Römer, der alten kaiserlichen Krönungsstätte, steht nur noch eine Gespensterfassade ohne überdachtem Raum und baulichen Hintergrund, die Häuserzeilen Alt- Hannovers zusamt dem Leibniz-Haus sind eingeebnet, das Mannheimer Nationaltheater, die Stätte der Neugeburt unseres Dramas, ist rauchgeschwärzte Ruine in einer Steinwüste, die sich nach Quadratkilometern bemißt, von Würzburg, der plastisch-baulichen Vision Riemenschneiders und Neumanns, blieb nach zwanzig Minuten losgelassener Hölle kaum noch ein Sechstel übrig. Selbst an kleineren Orten, wie in Freudenstadt, erfährt man lediglich aus einem frisch gemalten Schild, daß man sich auf dem alten Marktplatz befindet, und gewahrt von der schönen romanischen Kirche nur mehr Mauerreste.

Wir stehen vor demZusammen- bruch einer nicht wieder herzustellenden Welt baulicher Fassung städtischen Lebens. Und dies Leben selbst, es hat sich grundlegend geändert. Wo ist die regionale Abgeschlossenheit als Vorbedingung örtlicher Atmosphäre geblieben? Wer in der Umgebung des Münchener Hauptbahnhofs heute eine Straße erfragen will, stößt erst nach einem Dutzend vergeblicher Versuche auf einen Einheimischen. Wohin man in Deutschland auch reist, gleichzeitig kann man die Mundarten aller Gaue neben slawischen Sprachen und Jiddisch hören. Man befindet sich im Kessel eines ununterbrochenen Umtriebes verpflanzter Menschen. In den verfügbaren und nicht von Besatzungsmächten beschlagnahmten Räumen hausen die Menschen dicht gedrängt. Manche haben sich in den Kellern der Ruinen oder in Gartenhäusern eingerichtet, und sie tun es meist mit Anstand, sie treten aus dem Schutt, bürsten sich ab und keiner sieht dem Herrn mit der Aktenmappe neben dir der Tram an, daß er mitsamt Frau und.zwei Kindern in einem notdürftig ausgebäuten Gartenhäuschen wirtschaftet. Gewiß, es gibt daneben auch noch mäßig besetzte, mit neuzeitlichem Komfort eingerichtete Wohnungen, aber solche Unterschiede fichten sich wenig mehr nach ehedem gewohnten Abstufungen der Klassengesellschaft. Der dir die Koffer zur Bahn tragen hilft, kann ein baltischer Baron sein, und der im Wagen vorbeifährt, ein reichgewordener Schwarzschlächter, der Chauffeur des Lastwagens war früher Fliegerleutnant und der kleine Mann aus Leitomischi handelt jetzt erfolgreich mit Juwelen.

Was geschieht nun mit den Trümmern, deren Vorhandensein die unstabilen Verhältnisse aufdringlich unterstreicht? Es wird weggeräumt, es wird gebaut, in einigen Städten wenig, nur das Notdürftigste erfassend, in anderen, wie in Stuttgart, mehr. Aber man ist sich im allgemeinen darüber klar, daß die manchenorts gewiß lebhafte private und städtische Initiative vor der vorhandenen Aufgabe im Grundsätzlichen bisher versagt hat. Die entstandene Sachlage heißt ja die Frage grundsätzlich stellen: Soll man, wo Flickwerk nicht mehr möglich ist, versuchen, zerschlagene geschichtliche Bauten mit Wiederherstellung des früher en umgebenden S t raße n ge w i r res erneut zu errichten, oder soll man, heutige Verkehrs- und Gesundheitsforderungen berücksichtigend, die Gestaltung der künftigen Stadt nach vollkommen geänderten Plänen anstreben? Das erste wäre ein Versuch museumshafter Rekonstruktion, das zweite verlangt einen Verzicht auf das geschichtlich gewordene und von gestern her noch gewohnte Stadtbild. War doch die mittelalterliche Stadt nicht anders wie die antike im großen ganzen nach einem historischen Werdeschema zustande gekommen: angelehnt an eine Burg oder nicht, meist am irgendwie ausgezeichneten Punkt eines Flußlaufes, umgab sich ein Markt mit Häusern. Die von hier wegführenden Straßen und ihre Querverbindungen ergaben eine Art von Spinnennetz, in den Maschen dicht bebaut, mit eigentumsmäßig begründeten Abweichungen von der geometrischen Grundform. Je nach praktischen Erfordernissen entstanden Nebenmärkte und je nach repräsentativem Bauwillen drängten sich im Kern die sakralen und profanen Bauten der Gemeinschaft zur Stądtkrojie zusammen. Die im 11., 12. Jahrhundert aufgeb.aute, im .15. Jahrhundert vielleicht erweiterte Stadtmauer mit Graben und Wallförmiger Befestigung konnte in einem späteren Zeitpunkt niedergelegt worden sein und als- Ringstraße das Bindeglied zu den Vorstädten gebildet haben. Im älteren, baulich wertvolleren Stadtkern überwog meist ,eine ungesündere Wohnweise, die mehr .durchlichteten Vorstädte pflegten aus einer Dutzendware neuerer Mietshäuser und Villen zu bestehen, soweit sich hier nicht rußige Fabrikviertel anreihten. Wenn nun also eine Stadt ganz zerstört ist, bietet sich die einzig artige Gelegenheit, ihren Kern als Verkehrs- und Handelszentrum, beziehungsweise Sammelpunkt der Kultur- und Verwaltungsbauten nach veränderten Gesichtspunkten neu zu schaffen, bauästhetisch an nichts Vorhandenes mehr angelehnt. Wo keine historische Stadtkrone mehr besteht, kann ungehindert in die Höhe gebaut werden, wofür die Eisenbetonkonstruktion die technische Voraussetzung bietet. Eine solche vom traditionsgebundenen Menschen beklagte, dem neuzeitlichen Architekten erwünschte tabula rasa liegt jedoch selten vor. Es gilt noch Bauten von künstlerischem und geschichtlichem Wert, und sei es als Ruine, zu retten. Die Kompromißlosen verlangen Ausbesserung oder Wiedererrichtung, die radikal Modernen fordern Beseitigung der Reste. Hier ist man auf den Ausweg gekommen, Werte zu erhalten und andererseits ihre Entstellung zu vermeiden, indem derartige Bauten, eingebettet in neu anzulegende Grünanlagen, mitten in der Stadt stehen bleiben sollen, die Stadt im übrigen jedoch aus vielgeschossigen Wohnblocks, in der Straßen führung nach den Bedürfnissen des heutigen Verkehrs ausgerichtet, neu aufzubauen wäre.

Auch diese Lösung kann nur für einige Städte gelten, und abgesehen von der Finanzierung erhebt sich außerdem die Frage, die an die Grundlagen des Rechts und der Entschlußbildung in der Demokratie rührt. Auf einer dem Wiederaufbau Nürnbergs gewidmeten Sitzung stellte sich heraus, daß die Aufräumungs- und Bauarbeiten unter Beibehaltung privatrechtlicher Grundsätze völlig undurchführbar sind. Es könnte wohl die Ausschürfung der zum Steinbruch gewordenen Stadtteile, der Transport und die Verteilung dieses Baumaterials nach Eigentumsrechten gemeinsam geregelt werden. Welches Bild jedoch entstünde, wenn der einzelne nach Gutdünken bauen darf? Der eine hängt am mittelalterlichen Patrizierhaus, das, im modernen Zeichenbüro erdacht, eine Fälschung wäre, der andere wünscht eine Stahl- und Glaskonstruktion, die zu den noch stehenden historischen Bauten wie die Faust aufs Auge paßt. Wo wiederum ein einheitlicher moderner Bauplan der erwähnten Art vorlag, wie in Mainz, ausgehend von den Baugedanken Corbusiers, wurde er von den Stadtvätern abgelehnt. Soll nun die diesen Plan befürwortende Besatzungsbehörde der Stadt ihr neues Gesicht wider den Willen ihrer legalen Vertreter geben?

So stellt Deutschland heute ein Expert mentierfeld dar, in dem sich sämtliche politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ethischen Probleme der abendländischen Situation spannungsvoll überschneiden. In Österreich wohl stark spürbar, in Belgien schon weniger, aber kaum in der Schweiz oder in Schweden, vermag man sich die Weltweite der Entscheidungen aus akuten täglichen Anlässen vorzustellen.

Es geht im einzelnen um Selbsterhaltung, im ganzen um den Rahmen für kommende Geschlechter, und die Gestalt der künftigen Stadt trägt daran gewichtigen Anteil. Die Maßstäbe haben sich verändert. Die Sachlage zwingt zur grundsätzlichen Neueinrichtung. Wer die Zukunft richtig einschätzt und danach handelt, gründet sicher, mag auch die Gegenwart noch so hoffnungslos erscheinen.

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