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STIFTER, HOFMANNSTHAL UND DIE FUTUROLOGEN

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Die Futurologen des Tübinger Wickert-Institutes erklären in einem „Report 85“, daß die düstere Stress-Zeit des XX. Jahrhunderts nur eine Episode der Weltentwicklung gewesen sei, vorübergehend wie Eiszeit oder Steinzeit, denn bis zum Jahrhundertwende werde man die Wirtschaft krisenfest regulieren, den durchschnittlichen Intelligenzquotienten steigern und als eine der wichtigsten Industrien die „Bildungsindustrie“ aufbauen können. Vergessen wurde bei solcher Voraussicht nur, daß viele Folgen der düsteren Stress- Zeit irreversibel bleiben, zum Beispiel die Zertrümmerung des zentraleuropäischen Großreiches, die existentielle Gefährdung seiner Nachfolgestaaten, die Polarisierung all ihrer Bemühungen in ständigem Attachement oder Abwehren den umgebenden Großräumen gegenüber. Geist und Phantasie als; Vorwärtstreibende Kräfte’enfwickelit. sich in diesen ‘unter bleibendem .Schicksalsdruck stehenden Ländern im ‘Wider-, sprach zur Rieäßt. Es kömmt zü Ausbrüchen höÖeräer“ Melancholie, zweifelnder und verzweifelnder Erkenntnis, Mystik und Nihilismus begegnen einander, desperate Grenzüberschreitungen nach Innen werden zur Gewohnheit, utopische und schöpferische Geistigkeit verdichtet sich zu erstaunlicher und reicher Präsenz.

Und dies geschieht, während eine weithin an wirtschaftlicher und technischer Effizienz erstarkende Weltzivilisation sich um Kulturleistungen und Kulturprestige bemüht, die „Auctoritates“ künstlerischer und wissenschaftlicher Werke an sich zu ziehen, zu fördern, zu steigern versucht. Mitteleuropa und insbesondere Österreich müssen unter solchen Umständen zur Fundgrube werden.

Freilich wußte schon Hofmannsthal in seinen antithetischen Aufzeichnungen zu „Preußen“ und „Österreich“ zu sagen, daß in Preußen mehr Tüchtigkeit, in Österreich mehr Menschlichkeit, aber auch mehr Lässigkeit vorkommt. Hofmannsthal selbst, in seinem Schaffen und Schicksal von der „furchtbaren Lehre der Epoche“ bedrängt, entrückt in das Geisterreich eines ästhetischen und ethisch reich dimensionierten, weitgebreiteten, unvollendeten und unvollendbaren, von der Umwelt kaum erfaßten, erkannten oder gar gewürdigten Werkes, war auf deutsche Verleger, Bühnen und Publikationsmöglichkeiten angewiesen. Und als nach dem zweiten Weltkrieg eine Rückführung und Zusammenführung des verstreuten, in die USA und nach England geretteten Nachlasses in die Reichweite kulturpolitischer Erwägungen eintrat, da bewies sich die österreichische Lässigkeit aufs neue,, denn es gab ja so vieles Erbe so vieler geistiger Prominenz, und ein so minimales Budget für kulturelle Aufgaben. Und dem alten Mitteleuropa mit seinen Zentren Wien und Prag begann man die Sorgen um Hofmannsthal und Schnitzler, Musil und Broch und Kassner und Wittgenstein, um Rilke und Kafka und Freud gerne abzunehmen.

Wie die Griechen zum Bildungserlebnis für Rom wurden, fast so ähnlich wurden diese Großen zu den „exemplaria graeca“ der modernen Welt; und mit ihnen einer, in dem man mehr und mehr den Vorläufer erkennt, der Deutschböhme Adalbert Stifter. Wenn Cicero .seinem Freund Atticus in Athen schreibt: „ .. . schicke alles an Kunstwerken, was du beschaffen kannst…, du kannst dich auf meine Kasse verlassen …, hebe nur ja deine Bücher für mich auf .und lasse mich hoffen, daß ich sie als Eigentum erwerben kann…“ (Cicero: Briefe und Reden, Goldmann, München), dann müssen wir eine zeitgemäße Parallele darin sehen, daß Hofmannsthals Werk in Einzelbänden seit 1947 in Frankfurt erscheint, und daß nun sehr große Teile des Nachlasses im Freien Deutschen Hochstift zur Erforschung, Bearbeitung und Publizierung versammelt wurden, wobei die „Stiftung Volkswagenwerk“ und die Thyssen-Stiftung die nötige finanzielle Hilfe leisteten. Drei Komplexe fanden so eine dauernde Heimstatt:

Der Komplex der Handschriften der Houghton Library der Harvard University in den USA, bestehend aus Unge- drucktem, Skizzen und Entwürfen, der als Leihgabe nach Frankfurt kam.

Die im Besitz der Familie befindlichen Werkhandschriften, ebenfalls eine Dauerleihgabe.

Der sogenannte „Londoner Nachlaß“, hauptsächlich Briefe, von der „Stiftung Volkswagenwerk“ erworben und im Freien Deutschen Hochstift deponiert.

Insgesamt sind das 30.000 Blatt Manuskripte, vom bekritzelten Straßenbahnfahrschein bis zu den großen Bühnen- und Prosawerken und zu Büchern mit Randbemerkungen, in denen sich der temperamentvolle Leser und schöpferische Dichter verrät. Eine Dotierung durch die Thyssen-Stiftung wird es ermöglichen, Forscher und Hilfskräfte zur Sichtung und Bearbeitung dieser Fülle zu beschäftigen, so daß der gesamte Textbestand überblickfoar gemacht und die Vorbereitung einer kritischen Edition des Gesamtwerkes begonnen werden kann. Zur Förderung dieser Pläne wurde unlängst in Frankfurt eine Hofmannsthal-Gesellschaft unter dem Vorsitz des bisherigen Frankfurter und nunmehrigen Baseler Ordinarius für Germanistik, Prof. D. Martin Stern, gegründet, ein Ereignis, das die Angehörigen und Freunde der Fami- lie und ein internationales Gremium von Wissenschaftlern,■ Verlegern, von Leitern und Delegierten kultureller Institutionen in das geschäftige „Äppelwoin-Chicago“ und in das Goethe-Haus am Hirschgraben rief, wo Prof. Dr. Richard Alewyn den Festvortrag über Hofmannsthals unvollendetes Werk hielt. Nach ihm ist das unvollendete Werk nicht nur Vorstufe, sondern „der große Stoff im flüssigen Aggregatzustand“. In sieben ausführlichen Referaten wurden die Umrisse der Lebensleistung Hofmannsthals erkennbar gemacht, die Umrisse des trotz Krieg und Katastrophen Erhaltenen, und die Aufmerksamkeit der etwa 170 Anwesenden blieb gespannt bis zum Schluß, als der letzte Redner, Generaldirektor Dr. Fiedler von der Nationalbibliothek Wien, am Ende seines Referates erwähnte, daß das Manuskript des Lord-Chandos- Briefes sich in Wien befindet.

Die Wiener Sorgen um das Grab des Dichters und um das Rodauner Schlößl nahmen einen breiten. Raum in den Besprechungen ein, denn die Ausgestaltung der Rodauner Wohnung Hofmannsthals zu einer Gedenkstätte scheint an finanziellen Schwierigkeiten zu scheitern. Es wurden neue Anstrengungen zur Lösung dieser Fragen beschlossen, außerdem soll die nächste -Tagung der Hofmannsthal-Gesellschaft 1971 in Wien stattfinden.

In Linz sind die Sorgen um Andenken und Werk Adalbert Stifters ähnlich gelagert. Die Stadt Linz will das Sterbehaus Stifters einer Straßenverbreiterung opfern, alte Pläne einer Zusammenführung des Nachlasses konnten und können nicht verwirklicht werden. Eine internationale Stifter-Tagung, veranstalt vom Adälbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich, unter Leitung von Dr. Alois Großschopf, führte in Bad Hall rund 60 Wissenschaftler, kulturpolitische Repräsentanten und Publizisten zu Gespräch und Planung, Referaten und Exkursionen zusammen. Mit der Erwerbung größerer Manu- skniptbestände durch die bayerische Staatsbibliothek wurde nunmehr München neben Wien, Linz, Prag und Genf (Sammlung Martin Bodmer) zu einem bedeutenden Zentrum der Stifter-Forschung. Als eine Folge dieser Konstellation und der reicheren organisatorischen Möglichkeiten mag es erscheinen, daß der Münchner Ordinarius Prof. Dr. Hermann Kunisch die Ausgabe einer neuen, modernen, historisch-kritischen Stifter-Edition vorschlug, und von der Tagung mit der Leitung dieser Ausgabe betraut wurde. Gedacht wird an eine rein philologische, zeitlos wissenschaftliche Ausgabe in 25 bis 30 Bänden, welche die alte, unvollendete Prag-Reichenbenger Ausgabe ersetzen soll. In Band I wird dasjenige Werk, das in der Stifter-Administration mehr und mehr an die erste Stelle rückt, „Die Mappe“, in allen vier Fassungen von Prof. Kunisch vorgelegt werden.

So mögen die Tübinger Futurologen Recht behalten: eine weltweite Bildungsindustrie beginnt sich zu etablieren, Standorte und Schwerpunkte spielen sich ein, in Deutschland, in Kanada, in Rußland und Amerika. Die Bildungsindustrie bringt Archive und Universitäten, Forscher, Finanziers und Verleger, qualifizierte, hochdotierte Hilfskräfte, modernste Ausrüstung und geschicktes Marketing zu erfolgreicher Zusammenarbeit. Österreich… liefert den Rohstoff: Autoren, Manuskripte, Gedenkstätten, Nachlässe, kaum oder wenig betreut, billig eingeschätzt, massenhaft vorhanden — Austriaca, nach denen die so clevere Weltzivilisation sich merkwürdigerweise sehnt.

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