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Stirbt das Kino?

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Roman Herle über das Phänomen des Kinosterbens.

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Roman Herle über das Phänomen des Kinosterbens.

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Eine Zauberhand klopft an die einstmals so unerschütterlichen Felsen unserer Lichtspieltheater, und im Nu verwandelt sich das „Theater des kleinen Mannes“ in einen Supermarkt, ein Geldinstitut, eine Großwäscherei.

Als erste weitweite Freizeitbeschäftigung in Amerika erkannt und hochgepäppelt, ist das Kino unserer Tage weitgehend der fundamentalen Umstrukturierung und Ausweitung eben dieser Freizeit zum Opfer gefallen, wovon Fernsehen und Motorisierung nur der sichtbarste Ausdruck sind.

Es gibt eine Krise des Films und eine des Kinos. Die beiden decken sich nicht überall so verheerend wie ln Österreich und Deutschland. Von der Krise des Films soll hier nicht weiter die Rede sein. Sie ist ein ästhetisches Problem, weithin ungeklärt, und scheint unter anderem irgendwie mit der Kommerzialisierung des Films (damit der Fesselung, Sterilisierung schöpferischer Potenzen) und der Emanzipation des Publilkumsgeschmackes zusammenzuhängen und im übrigen reparabel zu sein.

Soziologisch interessanter ist das Absterben des Kinos in seiner heutigen Form. Es reicht so tief in die Masse und Elite hinein, daß eine Zukunftsvision im „Rheinischen Merkur“ kürzlich die einzige Überlebenschance des Films allen Ernstes darin sieht, sich aus dem Kinoraum zurückzuziehen und analog der Schallplatte als 8-mm-Massenfilm „ins Heim“ zu kommen (auch das Fernsehen wird immer nach Filmen, allerdings besonderer Art, verlangen).

Tu felix Austria?

So gehen trotz der verzweifelten Gegenstöße des Films mit Sex und Krimi das Publikumsinteresse und damit die Besucher- und Kinozahlen makaber-munter weiter zurück.

Nicht weniger als 351 Betriebe sind (nach Dr. Handl, Fachverband der Lichtspieltheater) in Österreich von 1960 bis zum Stichtag 15. 9. 1969 unter die Räder gekommen (diese Zahl hat sich in den letzten Monaten noch vermehrt). Auf Bundesländer aufgeteilt, ergibt sich folgendes Bild: Burgenland 15, Kärnten 13, Niederösterreich 107(!), Oberösterreich 76, Salzburg 6, Steiermark 57, Tirol 11, Vorarlberg 3 Wien 63 = zusammen 351.

Was nun?

Österreich ist ein mit Kinos „übersetztes“ Land. Das oben aufgezeigte Kinosterben wäre also als eine natürliche Auslese, als „Gesundschrumpfungsprozeß“ anzusehen, wenn — ja, wenn der Prozeß, im Einzelfall ja gewiß schmerzlich, im ganzen gesehen aber nicht „letal“, schon abgeschlossen wäre. Realisten, nicht Schwarzseher, rechnen aber damit, daß in absehbarer Zeit in Österreich noch 150 bis 200 Kinos ihre Tore werden schließen müssen!

Gewiß: Es fehlt derzeit den österreichischen Lichtspieltheatern die Attraktivität des heimischen (und des guten deutschen) Films, die — o alte „Maskerade“-Herrlichkeit! — wieder Besucher anlocken könnte. Aber weitum ist von einer Renaissance des österreichischen Spielfilms nichts zu seihen. Im Budget 1970 — um das umstrittene Kapitel staatlicher Filmförderung zu berühren — fehlt laut „Film- und Kino-Zeitung“ im dafür zuständigen Handelsministerium jedweder Ansatzposten für Filmförderung, das Bundeskanzleramt sieht ganze 2 Millionen für die Austria- Wochenschau vor, und die an sich sehr rührige Filmabteilung des Unterrichtsministeriums wird Mühe haben, mit den ihr zugewiesenen 19,7 Millionen den Betrieb in der Sensengasse, die Subventionen für Vereinigungen und die Produktion von Kultur- und Unterrichtsfilmen usw. zu bewältigen. Da auch die Privatunternehmer und Mäzene ausgestorben sind, ist von hier aus für das österreichische Kino in der nächsten Zukunft nichts zu erwarten. (Ob, wieweit und wann sich die vom Unterrichtsminister bei der jüngsten Kulturfllm-Preisverleihung erwogene großzügige, gesetzliche, staatliche Filmförderung auswirken wird, bleibt abzuwarten.)

Was also nun?

Hier scheiden sich die Geister. Pessimisten meinen: Film und Kino liegen in Agonie. Die Optimisten sehen einen Lichtstrahl: In den USA, wo das Auto nur mehr Fortbewegungsmittel, nicht wie bei uns noch Teil der Freizeitbeschäftigung, und das Fernsehen schon alltäglich ist wie bei uns vor 20 Jahren der Hörfunk, steigen wieder die Besucherzahlen und Umsätze und werden wieder neue Kinos eröffnet. Danach würde sich nicht die Frage stellen, ob es mit unseren Kinos wieder aufwärts gehen werde, sondern nur: wann.

So oder so: Film und Kino stehen an einer Wegkreuzung. Man hat, als die Sonne hoch stand, die Kinos einmal weltliche Kirchen genannt, in die sehr viel mehr Menschen hineingehen als in die eigentlichen Gotteshäuser.

Nun blitzt und donnert es.

Die säkularisierten Tempel beben.

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