6780752-1969_42_13.jpg
Digital In Arbeit

Stokowski bei den Teenagern

Werbung
Werbung
Werbung

Nicht hur eine Sehenswürdigkeit und eine musikalische Rarität, ja Kuriosität sondergleichen, sondern auch ein internationales künstlerisches Ereignis: der „great old man“ des Konzertpodiums, der 87 Jahre alte Leopold Stokowski,an der Spitze eines Jugend-Auswahl-Sinfonieorchesters aus neun Ländern, das gelegentlich zusammengestellt wurde, um J. S. Bachs Passacaglia und Fuge in c-Moll; Beethovens Sinfonie Nr. 7, Mozarts Klavierkonzert in d-Moll mit der Solistin aus Milano, Maria Isabella de Čarli, die bei Professor Kurt Leimer in Salzburg studiert, und Tschaikowskys Phantastische Ouvertüre zu „Romeo und Julia“ zu spielen. Dies war nur der Schlußakkord des Ersten Internationalen Festivals der Jugendorchester in St. Moritz —, einer wahren Marathonkonzertdarbietung. Die einmalige musikalische Festivität verdiente es, nicht nur als eine kuriose, musikalische Rarität erwähnt zu werden. Warum? … Den „Darums“ gibt es viele!…

An die 1200 junge Musiker aus Übersee und Europa kamen nach St. Moritz, um ihr Können zu zeigen. Kein einziger „Langhaariger“, „Blumendkind“ oder „Gammlermusiker“ war zu entdecken. Alle solide, soi- gnierte, bescheidene und begeisterte Jungsinfoniker, die meisten aus der Teenagerklasse.

Das „International Festival of Youth Orchestras“stand unter dem Patronat der Schweizerischen Verkehrszentrale, weiterer schweizerischer und internationaler Organisationen, darunter der Cornfeld-Rossevelt’- schen lOS-Foündation, die neulich — uti figūra doceį — auch in gute Musik, wohl zum erstenmal in der Finanzgeschichte, investiert.

Der schweizerische Bundespräsident, Ludvig von Moos, richtete eine festliche Grußbotschaft in englischer Sprache an die kleinen und jungen Virtuosen und sagte unter anderem: „Jedesmal, wenn unser Land als Forum für ein internationales Treffen dienen kann, fühlen wir uns glücklich und geehrt. Dies ist ganz besonders der Fall, wenn Jugendliche sich in der Schweiz zusammenfinden, um sich hier auf dem kulturellen Feld zu messen und sich gegenseitig anzuspornen… Darf ich gleichzeitig meiner Hoffnung Ausdruck geben, daß die aus den verschiedensten Ländern stammenden jungen Künstler nicht nur das kulturelle Leben eines unserer schönsten Alpentäler mit ihren Konzertvorträgen bereichern werden, son-

dern sich auch mit der Bevölkerung, deren Lebensart und Bestrebungen vertraut machen können.“

Und wie! Viele Stokowskis der Hotellerie und der Kochkunst schwangen ihren Dirigentenstab und Kochlöffel mit der selben „künstlerischen“ Begeisterung. So könnte der Schreiber dieser Zeilen im Cresta Palace-Hotel in Celerina unter Stabsführung des Direktors Bieri auch einem kulinarischen Festival beiwohnen…

Die Geschichte des Internationalen Festivals der Jugendorchester begann eigentlich in einem Zahnarztstuhl in London im Frühjahr 1967. Patient war Blyth Major, Direktor und Dirigent des Midland Youth Orchestra; der Zahnarzt war Lionel W. Bryer, selbst ein guter Amateurviolinist. Zwischen zwei Tiefbohrungen erzählte der Patient über seine Sorgen mit der Planung und Durchführung der Sommertournee seines ambitiösen Jugendorchesters. Der Zahnarzt mit der Geige schlug ihm seinen Lieblingswinterferienort, Zermatt, vor. So organisierten die zwei passionierten Musiker eine Tournee in die Schweizer Bergwelt, die ein so außerordentlicher Erfolg wurde, daß die Organisatoren gleich an die Durchführung eines großen internationalen Treffens von den berühmtesten Jugendorchestern der Welt dachten. Es folgten zwei Jahre harte Arbeit, Planung, Organisation, bis die Idee in die Tat umgesetzt werden konnte. Als Ort des Festivals wurde St. Moritz gewählt: die Ruhe der Engadinerseen und die majestätische Oberengadiner Bergwelt sollten nicht nur als Kulissen und goldenen Rahmen dienen, sondern die jungen, begeisterten Musiker zu Bestleistungen anspornen.

Nicht alle Anmeldungen konnten berücksichtigt werden. Es wurden daher nur zwölf Jugendorchester ausgewählt und zur Teilnahme eingeladen. Sie selbst, ihre Dirigenten, Solisten und Programme verdienen einige vorstellende Worte:

The Midland Youth Orchestra, Birmingham: Zweifellos der Star des Festivals, unter der Leitung des „Vaters der Idee des internationalen Treffens“, Blyth Major; die straffe

Sinfonikerkompanie aus Birmingham (102 junge Musiker) spielte Brahms „Akademische Festouvertüre“, mit Walter Susskind am Dirigentenpult. Dann folgte das Cellokonzert von Dvorak, Op. 104, mit dem 22jährigen ungarischen Cellist, Tamas Iglöi. Nach der Pause wurde die Sinfonie Nr. 2 von Sibelius vorgeführt.

Toronto Youth Symphony(Kanada); Dirigent Jacob Groob, Gastdirigent Rogaland Ungdomssymfoniorkester, Sandnes, Norwegen: 71 junge Musiker unter der Leitung von Kare Opdal und des Gastdirigenten Zde- nek Lukas. Der blutjunge Violinist Ole Böhn ist ihr Solist gewesen. Gespielt wurden: Haydn „London- Symphonie“ Nr. 104; G. Tveitt „Sätze aus der Suite von 100 Volkslieder von Hardanger“ und Beethoven „Violinkonzert in D“ Op. 61.

Glarner Musikkollegium, Schweiz: Walter Susskind. 99 Musiker. Programm: Weber „Oberon“-Ouvertüre; John Weinsweig „Divertimento für Flöte und Streicher“, Solist: Chri- stibe Overall, mit neun Jahren bereits ein musikalisches Wunderkind; Beethovens 5. Sinfonie, Op. 67.

Komorni Orchestr Lidova Skola Umeni Mlada Boleslav:Das einzige Orchester aus Osteuropa. Ein Kammerensemble aus der CSSR, bestehend aus 26 Mitgliedern, unter der Führung von Josef Noväk, wobei Walter Susskind wieder als Gast-

dirigent eingeschaltet wurde. Die jungen tschechoslowakischen Musikenthusiasten gaben zwei Konzerte, mit den folgenden Darbietungen: L. Purcell „Suite für Streicher“; Jan Zach „Symphonie in A“; Boccherini „Konzert für Cello und Streicher"

Solist: Jiri Sladecek; Jiri Benda „Symphony in B-Flat“ und Janacek „Suite für Streicher“; II. Karel Stande „Orchester Quartett“; Boccherini „Konzert für Cello und Streicher“; Janacek „Suite für Streicher“; Mozart „Divertimento in D, K. 136“ und Benjamin Britten „Simple Symphony“.

Haarlems Jeugd Orkest Driehuis, Holland: Dirigent Andrė Kaart, Gastdirigent Zdenek Lukäs, Solist: der 21jährige Cellowunderknabe Maarten Kloos. Gespielt wurde von den 95 Jungsinfonikern hervorragend, und zwar die folgenden Nummern: Rossini „Semiramis“ Ouvertüre; Carlos Chavez „Toccata für Schlagzeug“; Willem Pijper „Sechs Adagios“; Willem Pijper „Konzert für Cello“ und Beethoven „Jena- Sinfonie“.

Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, West-Berlin: Ein mittelgroßer Klangkörper mit 71 Mitwirkenden, darunter mit auffallend vielen Japanern, unter der Stabsführung von Professor Richard Kraus. Mit einem anspruchsvollen Programm: Mozart „Symphonie Concertante“ (K. Anh. 1. Nr. 9); drei Tänze aus dem „Dreispitz“ von M. de Falla und Bartök „Concerto für Orchester“.

Ein kleines Orchester aus St. Moritz,

diesmal nur mit zehn Musikern in Erscheinung getreten, als Begleiter für die Jungvirtuosen: Rudolf Aschmann — Geige, gleichzeitig Dirigent, Niklaus Tschudi — Geige und Jürg Fischbacher — Oboe. Ihr Programm: Marcello „Konzert für Oboe und Orchester“, Vivaldi „Concerto Grosso Op. 3. Nr. 8“, J. S. Bach „Konzert für Violine, Oboe und Orchester“, Peter Mieg „Toccata, Arioso, Gigue für Streicher“ und schließlich Hindemith „Fünf Stücke für Streichorchester“ Op. 44, Nr. 4.

Montgomery County Youth Orchestra, Bethesda, Maryland, USA: Wahrscheinlich das größte Jugendorchester mit 119 Musikern, Chefdirigent: Chester Petranek, Gastdirigent: Zdenek Lukäs. Mit dem folgenden klassisch-konservativen Programm: Wagner „Fliegender Holländer“ Ouvertüre, Mendelssohn „Violinkonzert“ Op. 64 mit einer der größten Versprechungen der neuen amerikanischen Musikgeneration, Sarah Hersh und Dvorak „Symphonie Nr. 8“, Op. 88.

San Diego Youth Symphonie, San Diego, Kalifornien, USA: Louis J. Campiglia’s prachtvolle Jugendorchester, mit dem Gastdirigenten Walter Susskind, bestehend aus 84 Mitgliedern. Der sehr junge Arturo Del- moni spielte von Bruch das „Konzert für Violine“, Nr. 1 in g-Moll, Op. 26. Außerdem standen auf dem Programm: Beethoven „Egmont“ Ouvertüre und Mussorgsky „Bilder von einer Ausstellung“.

The Greater Boston Youth Symphony,Boston, Mass., USA: Leiter: Walter Eisenberg, Gastdirigent Zdenek Lukäs. Solist war der mit 17 Jahren bekannte Cellist, Roger Low. Fünf anspruchsvolle Stücke wurden von den 101 Jungsinfonikern vorgetragen: Rossini „La Gazza Ladra“ Ouvertüre; Haydn „Konzert für Cello“ in C; Hindemith „Symphonische Metamorphosen über Themen von Weber“; Debussy „Nocturnes“ von Zoltän Kodäly „Häry- Jänos-Suite“.

Youth Orchestra of Greater Fort Worth, Fort Worth (Texas, USA): Der Dirigent John Giordano stellte das bunteste und modernste Programm zusammen, mit dem Kontrabaßsolisten Robert Barney, der kaum volle 18 Jahre zählt. Zdenek Lukäs wirkte als Gastdirigent mit. Zum erstenmal wurde aufgeführt: William Latham’s Ouvertüre „American Youth Performs“. Danach folgten: Ralph Guenther „Hirtengedicht für Streicher“; Martin Mailman „Prelude und Fuge“; Merrill Ellis „Kaleidoskop für Orchester und Elektronik“; Rossini „Variationen auf Saite G über ein Thema von Paganini“; Bartök „Rumänische Tänze“ und Vittorio Giannini „Symphony Nr. 2“.

Für das Festival wurde eigens eine Konzerthalle in St. Moritz bereitgestellt, und jeden Abend spielte ein Orchester in diesem festlichen Saal. Neben den öffentlichen Konzerten wurden geschlossene Orchesterproben und Festivalseminare veranstaltet. Und Leopold Stokowskischloß den Kreis mit dem Paradekonzert der Besten von den Besten. Zwei Stipendien wurden gestiftet, und zwar: ein Stipendium der IOS-Stif- tung für den besten jungen Dirigenten, mit einem Jahr freiem Studium bei einem berühmten amerikanischen Dirigenten und ein Studium für den besten jungen Violinisten, mit einem Jahr Studium bei Professor Max Rostal in Bern.

Ein Alphorn eröffnete vor dem Festival Hall die Einweihungszeremonie. Drinnen ertönten die Fanfaren der teilnehmenden Orchester mit nicht weniger als 147 Musikern. Auf dem Hausberg von St. Moritz, dem Cor- vatsch, fand eine „Glühweinparty“ beim Mondschein statt.

Viel wesentlicher ist, daß das Festival jährlich veranstaltet und auch zu einer „Ost-West-Musikbrücke“ ausgebaut werden soll. Es war eine Augenweide, die mehr als 1000 fast befangenen, stillen, andachtsvollen, sowohl äußerlich als auch innerlich gepflegten jungen Musiker zu sehen und zu hören. Daß es noch sowas heutzutage überhaupt gibt?!… Mit Bach, Beethoven, Mozart, Sibelius, Kodäly und Bartök läßt sich nur schwerlich gammeln, und Dvoraks Cellokonzert könnte man weder oben-ohne noch unten-ohne würdig vortragen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung