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Strom zwischen Ost und West

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Gemeint ist der Strom kulturellen Lebens und Geschehens, der in der Geschichte der Welt und ihrer Völker immer, wenn auch mit verschieden starkem Wellenschlag, zu verfolgen ist. Oft wird dieser Strom aber von vielen Menschen, auch solchen, die sich mit Kultur befassen, gar nidn gesehen oder er ist in Vergessenheit geraten. Wenn wir heute uns selbst gegenüber ehrlich sein wollen, so müssen wir Mitteleuropäer bekennen, daß uns seit sehr geraumer Zeit der Osten Europas zum mindesten ein großes Fragezeichen bedeutet. Unsere Stellung und Haltung zum russischen Raum und seinen Völkern hat wohl am besten Professor P. Alois Mager OSB (Salzburg) umrissen, der vor längerer Zeit schon in einem Vortrag darauf hinwies, daß heute aus dem Osten Europa junge Kulturströmungen zu erwarten seien, die noch ungeformt sind, und daß es Autgabe des Abendlandes sei, diesen Strömen eine entsprechende Form zu geben. Den meisten Hörern mag diese Forderung neu und überraschend erschienen sein. Dabei war es nur ein Anknüpfen an alte, heute allerdings vergessene Traditionen. Wir kenne/i. um nur ein Beispiel zu nennen, fernöstliche Einflüsse in der abendländischen Kunst etwa des 15. Jahrhunderts, umgekehrt verzeichnen wir mit Stolz die Wege abendländischer Mönche und Kaufleute, die im Fernen Osten zu hohen Ehren gelangten. Und der Osten Europas? Seit rund tausend Jahren können wir hier immer wiederkehrende Wechselbeziehungen zwischen dem russischen Raum und dem europäischen Abendland beobachten Beziehungen, bei denen Kultur und Wirtschaft oft aufs -ngstc miteinander verbunden waren oder einander ergänzten. Trennung und Berühr :ng von Ost- und Westkultur bildeten dabei den Wcllensdilag des nie ganz versiegenden Stromes. Heinrich Lützcler („Die Kunst der Völker“) sagt hiezu: „ ... Neben der Antike ist der morgenländische Osten für das Werden der abendländisdien Kunst von Bedeutung. Sein Einfluß wird spürbar in der italienischen, französischen und deutschen Kunst, zum Teil bis um 1400, und stets in der Frühzeit, bevor das eigentlich Nationale erwacht. .. Beim Zusammenbruch des römischen Weltreiches ist der Raum der Kultur zur Antike und zum Osten hin weit offen. Bald verengt er sich aber und auf das Endzeitalter folgt das Zeitalter der Gründung. Hier schließen sich die Völker gegen das Fremde ab. sobald sich das Eigene zu erschließen beginnt.“

Hieraus erklärt sich, daß der Osten in seiner weiteren Kultur- und Kunstentwicklung in der Hauptsache auf sich selbst angewiesen war, trotz gemeinsamer Grenze mit dem mittel- und südeuropäischen Raum keine größere Gemeinsamkeit kannte und daher selbständ'g und uns fremd blieb bis auf den heutigen Tag. Allerdings ist es so, daß uns das Fremde, Ferne des Ostens immer eher ins Auge fällt als Dinge, die uns gewohnt und selbstverständlich erscheinen. Macht man sich jedoch die Mühe, einmal den geheimnisvollen Schle'er zu heben, der für uns über allem östlichen ausgebreitet zu sein scheint, so kommen wir zu dem überraschenden Ergebnis, daß in größeren Teilen des Ost-, vor allem des russischen Raumes westüdi-abendländische Elemente gestaltenden Einfluß gewonnen oder zusammen mit den im Osten überwiegenden byzantinischen Kulturformen im bodenständigen, das heißt russischen Rahmen neue, vielleicht einmalige Gestak angenommen haben. Wer als h:tlerischer Zwangssoldat nach Osten gehen mußte und nicht die Sdieuklappen Goebbelsscher Propaganda vor den Augen trug, mußte, je weiter er ins Innere Rußlands kam, die eben aufgestellte Behauptung immer wieder bestätigt fmden.

So konnte es geschehen, daß man eines Tages an das Ufer des oberen Dnjepr kam und überrascht stehenblieb. Denn das Bild, welches sich dem Besdiauer bot, schien so gar nicht mit den allgemeinen Vorstellungen übereinzustimmen, die man von östlicher Baukunst hatte, daß man an eine Fata Mor-gana glauben wollte. Da lag auf hügeligem Gelände eine Stadt, umgeben von einer starken Mauer mit vielen Türmen, ein Bild, das an Öberitalien erinnern mußte, an Verona, an Este vielleicht oder eine der vielen anderen mittelalterlidien Siedlungen dieses Raumes. Und über die Mauer empor ragte das Wahrzeichen der Stadt, die Kathedrale. Wohl gleißten fünf vergoldete Kuppeln im Sonnenlicht, erinnerten daran, daß man in Rußland sei, doch ein Blick auf die Fassade, auf die Fenster ließ das Bild eines österreichischen Earockstiftes auftauchen. Welch seltsames Zusammenspiel östlicher und westlicher Kulturelemente! Und doch ist diese Stadt, es handelt sich um Smolensk, nur eines von vielen Beispielen, an denen sich der Nachweis führen läßt, daß schon in längst vergangenen Jahrhunderten Menschen aus dem Osten den Weg ins Abendland gefunden haben und daß Vertreter mittel- oder südciropäischer Länder die Straße nach dem Osten gezogen sind. Allerdings waren die Menschen, die damals furchtlos und offenen Auges nach Osten oder Westen gingen, keine eroberungssüchtigen Krieger, sondern Gesandte ihres Kulturkreises, welche ihre Kunst und Fähig-keten in den Dienst des Gastlandes stellten oder dort neues Wissen erwerben wollten. Die ganze Geschichte der Stadt Smolensk berichtet immer wieder von solchem Kulturaustausch zwischen Ost und West. Schon ihre Gründung geht ja auf die Söhne des Warägers Rurik zurück.

Smolensk spielte durch viele Jahrhunderte hindurch eine große Rolle als Festung. Hier brachen sich die Mongolenhorden auf ihrem Zug gegen Nordrußland und fluteten zurück in die Steppen der Ukraine, und gegen Westen war Smolensk das wichtigste Vorwerk der Hauptstadt Moskau. Der Ort war daher schon frühzeitig befestigt worden. Die erste Befestigungsanlage war, bedingt durch den Waldreichtum des Landes, ein hölzerner Wall, der sich aber in den Litauerkriegen des 15. und 16. Jahrhunderts als zu schwach erwies. Nach der Wiedereroberung der Stadt durch die Truppen des Zaren Wassilij III. von Moskau, 1514, ging man noch im gleichen Jahrhundert an den Bau einer für damalige Zeiten modernen Befestigungsanlage. Zar FeJor Joannowitsch schickte aber zuerst seinen Baumeister Fedor Saweliew Koin nach Sü Jdeutschland und öberitalien, um dort Festungsbau zu studieren. Fedor S. Koin nahm sich dort die Mailänder Stadtmauer zum Vorbild und errichtete hier im Osten ein fast getreues Gegenstück dazu. Die neue Stadtmauer von Smolensk wurde in der kurzen Bauzeit von nur sechs Jahren, 1596 bis 1602, aufgeführt. Sie hatte 36 Türme und 5 Tore. Ihre Länge betrug 7 Kilometer, die Höhe 6 bis 7 Meter und die Breite 4 bis 5 Meter. Noch heute ist ein Großteil der Smolensker Stadtmauer vorhanden und steht eine Reihe von Türmen trutzig hoch über dem Ufer des Dnjepr, daran erinnernd, daß man hier vojr 350 Jihren eine der damals wichtigsten russischen Städte nach abendländischem Muster befestigte.

Im Jahre 1491 erschien das am reichsten illustrierte Buch des 15. Jahrhunderts, die Weltchronik des Hartmann S c h e d e 1 aus Nürnberg. Rund zwei Jahrhunderte später baute ein Baumeister gleichen Namens, Gottfried Schedel aus Nürnberg, zusammen mit seinem Sohne die heute noch stehende Kathedrale von Smolensk, eine der drei schönsten Kirchen Rußlands. In fast vollendeter Art ist hier die Vereinigung von christlich-abendländischer mit byzantinischer Kirdienbaukunst unter dem Vorzeichen russischer Stil- und Kultansprüche gelungen. Schon an der Außenform wird die Begegnung westlicher und östlicher Stilelemente sichtbar. Die ganze Anlage entspricht unseren Wehrkirchen an Donau und Rhein, die Fenster sind süddeutsd'e Spätrenaissance, aber gleich darüber weisen uns die starke Aufgliederung der Dachgesimse und die fünf vergoldeten Türme auf den Osten hin. Der Bau war 1677 von dem russischen Baumeister Korolkow begonnen worden. Erst 1712 berief Peter der Große den Nürnberger Baumeister Gottfried Schedel, der mit der Fortführung und Vollendung des Baues betraut wurde. 1772 war das Gotteshaus vollendet und vereinigte in sich byzantinischen Stil, russische Holzschnitzkunst, Metalltechnik und Beleuchtungseffekte mit abendländischen Einflüssen zu märchenhafter Pracht. Eines fällt dem kundigen Besucher der Kirche sofort auf; die kleine, aber wunderschön geschnitzte Kanzel. In der russischen Kirche gibt es keine Kanzel, aber für den Nürnberger Baumeister gehörte zu einer Kirche auch die Kanzel und so bekam die Smolensker Kathedrale eine echt süddeutsche Kanzel Das größte Schaustück ist aber der gewaltige Ikonostas, welcher dem Lettner unserer mittelalterlichen Kirchen entspricht und als Bilderwand den Altarräum trennt. Diese Wand ist mit ihrer Höhe von 26 Metern und einer Breite von 28 Metern zugleich die größte Holzschnitzerei der Welt, die überdies vollständig vergoldet ist. Hier haben die Russen, beeinflußt durch den Holzreichtum des Landes, unsere schmiedeeiserne Kunst des Mittelalters nachgebildet. Es ist keine einfache Kerbschnitzerei, sondern jede einzelne Ranke, jedes Blatt, jede Traube sind bis ins Letzte durchgebildet. Bei den zwischen den Rankensäulen befindlichen Bildern sind neben den Russen auch süddeutsche, italienische und holländische Maler vertreten. Der Ikonostas selbst entstammt der Schule des Michailow (1740—1751). Also auch hier treffen wir immer wieder auf Einflüsse aus Ost und West, die sich trotz ihrer so verschiedenartigen Herkunft doch zu harmonischer Einheit verdichten. Zu den größten Kunstschätzen des Gotteshauses gehört ferner ein 1541 in Moskau fertiggestellter Gobelin in byzantinischem Stil, während den Hintergrund des Altarraumes die von einem Russen angefertigte Kopie der Raffael-schen Madonna bildet.

Diese Beispiele mögen genügen, um die jahrhundertealte Verflechtung östlichen und westlichen Kulturgestaltens aufzuzeigen. Sie sollen aber auch die historische Begründung geben für die oben aufgestellte Forderung nach Aufgeschlossenheit gegenüber dem Osten unseres alten Kontinents Denn wenn schon vor Hunderten von Jahren Menschen des Abendlandes als Boten ihres Kulturkreises ohne Scheu dem Unbekannten entgegentraten, zu einer Zeit, in der es noch keine ausgebaute Publizistik gab, die uns heute Entfernungen viel leichter vergessen läßt, dann haben wir erst recht die Verpflichtung, gerade auch im Gegensatz zum hitlerischen Eroberungswahn, als Erben christlich-abendländischer Kulturaufgaben die oft noch ungezügelten und überschäumenden Wogen kulturellen Entwicklungsdranges aus dem Osten Europas in den schon vorhandenen Kanälen aufzufangen. Ein neuer Verschmelzungsprozeß wird dann unserem Erdteil einen neuen Kulturaufstieg bringen und erneut den Primat immer wieder lebendig werdender christlich-abendländischer Kulturfähigkeit unter Beweis stellen. Denn so wie der Abend dem Morgen entgegenblickt und den Tag nach der sengenden Glut des Mittags in harmonischer Ausgeglichenheit vollendet, immer wieder von neuem vollendet, so erwartet das Abendland offenen Auges und bereiten Willens das Morgenland den Osten, um nach dem verderbenbringenden Brand des Krieges und seiner Nebenerscheinungen den Tag der Menschheit wieder einmal zu harmonischer Vollendung zu bringen. Das ist die immer wieder verpflichtende von Gott gestellte Aufgabe des christlichen Abendlandes, dessen Herz immer und ewig Österreich heißt!

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