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Taube können hören, Lahme wieder gehen

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Künstliche Hände, Beine, Herzen, Augen, Gesichter ... Die Medizin vollbringt wahre Wunder, um zerstörte Körperteile zu ersetzen.

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Künstliche Hände, Beine, Herzen, Augen, Gesichter ... Die Medizin vollbringt wahre Wunder, um zerstörte Körperteile zu ersetzen.

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Theoretisch ist am Menschen alles ersetzbar. Herz und Lunge, Niere und Blutgefäße, Auge und Ohr, Haut und Knochen ...

Einzige Ausnahme vielleicht - das Gehirn. Das „vielleicht” verdient, hervorgehoben zu werden, denn selbst die kühnsten Ideen von Science Fiction-Autoren vor 30 Jahren sind heute Realität oder stehen knapp davor. Das Wörtchen „nie” scheint aus-gedientzu haben, wenn es um die Leistungen der naturwissenschaftlichen Medizin geht, zumal wenn sie mit den Möglichkeiten der Technik gekoppelt wird.

Stanislaw Lern, berühmter Autor anspruchsvoller Utopien: „Als ich in den sechziger Jahren Romane geschrieben habe, dachte ich, daß es mindestens 200 Jahre dauern wird, bis meine Einfälle Wirklichkeit würden. Es war nach nicht einmal 30 Jahre so weit...!”

Professor Manfred Frey, plastischer Chirurg am Wiener AKII: „Mißt man nur das Volumen, so sind derzeit rund zehn Prozent des Körpers durch künstliche Organe und andere Kunstbestandteile ersetzbar. Durch Transplantationen von Körpergewebe kämen - rein hypothetisch - noch einmal etwa zehn Prozent dazu.”

Ein solcher Mensch, an dem alle Möglichkeiten der heutigen Medizintechnik angewendet würden, könnte freilich nie leben. Er ist ein Konstrukt zur Veranschaulichung, welche Möglichkeiten die moderne Medizin in Summe hat.

„Das muß man sich aber immer vor Augen halten!”, betont Professor Frey. „Denn mit dem hypothetischen Patienten als Vorbild, dem also rund ein Fünftel seines Körpers ausgetauscht würde, wäre die Medizin versucht, sich diesem Rekord auch am Einzelpatienten anzunähern. Es geht aber nicht nur um das Können! Es geht mindestens ebensosehr um das Sollen.” Die Trage lautet: Ab welchem „Austauschgrad” ist ein Mensch kein Mensch mehr, bis wohin reicht die Identität des Menschen? Dabei geht es nicht nur um die Identität, die ein Mensch selbst fühlt - es geht aucff darum, ob und wie weit dieser Mensch von anderen akzeptiert wird. Wenn man bedenkt, daß Menschen verfolgt, vertrieben, verbrannt wurden, bloß weil sie rote Haare hatten, dann kommen einem die wildesten ”Phantasien, wie wohl jemand von seinen Mitmenschen aufgenommen würde, der in der Stirnmitte an der Nasenwurzel eine Minikamera sitzen hat, die ihm das Augenlicht ersetzt und mit der er nicht nur im sichtbaren Bereich, so wie alle anderen, sondern auch im Infrarot-, im Ultraviolett- und vielleicht auch im Radarbereich sehen kann.

Derartiges ist nicht dem neuesten „Robocop-Film” entnommen, sondern ernsthafte Überlegung renommierter Medizintechniker.

Allen Bemühungen, Körperorgane und -funktionen durch künstliche Systeme zu ersetzen, liegt freilich eines zugrunde, was der tiefste Beweggrund der Medizin ist: Der Wille, kranken, leidenden, verletzten Menschen zu helfen. Nur schließt der helfen wollende Idealismus nicht aus, daß man im Eifer über das Ziel hinausschießt. Gerade im Zusammenhang mit kühnen Utopien ist es daher wichtig, schon frühzeitig die ethischen Probleme mitzubedenken.

Spektakuläre Technik

Das Forschungsfeld der biomedizinischen Technik ist faszinierend und vielfältig, es ist spektakulär und mitreißend. Daß Menschen, denen die Hände fehlen, künstliche Hände angepaßt bekommen, mit denen sie, wenn auch eingeschränkt, viele Alltagsverrichtungen selbst durchführen können, grenzt ans das Wunderbare. Der mutmaßliche Briefbombenattentäter Franz Fuchs ist das jüngste Beispiel für die Bedeutung solcher Spitzenmedizin und -technik.

Taube können wieder hören, Lahme können wieder gehen - von ferne lassen die Wundertaten der Vergangenheit grüßen. Die Märchen der Menschheit, die fantastischen Erzählungen wie etwa die Mythologiewelt der klassischen Griechen oder die „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht” lesen sich wie bunte Illustrierungen dessen, was sich die Menschheit immer schon gewünscht hat -heute ist vieles davon möglich geworden.

So greift heute beispielsweise die plastische Chirurgie eine uralte Wunschvorstellung auf und ersetzt zerstörte Körperstrukturen durch sogenannte Epithesen (siehe Seite 15). Im konkreten Fall handelt es sich um eine Frau, deren gesamte rechte Augenhöhle mitsamt der umliegenden Struktur entfernt werden mußte (Krebs). Mit Hilfe einer speziell entwickelten Operationstechnik ist es möglich, Magnetstiftchen im noch vorhandenen restlichen Knochen zu verankern, an denen dann der künstliche Teil mitsamt einem Kunstauge andocken kann - jederzeit wieder abnehmbar und mit hervorragendem kosmetischen Erfolg.

Kunst-Herz aus Wien

Forscher (auch in Wien) arbeiten am Kunstherzen, das derzeit als Uber-brückung bis zu einer Transplantation zusätzlich zum kranken eigenen Herzen dazuimplantiert werden kann. In Zukunft will man so weit kommen, daß das Kunst-Herz alleine arbeitet und zwar für Monate bis Jahre. Je nach Modell wird man dann allerdings möglicherweise keinen Herzschlag mehr spüren: Ein in Wien entwickeltes Modell versorgt den Körper mit einem stetigen, gleichbleibenden Blutstrom. „Ich möcht gern dein Herzklopfen hören!” hat dann ausgedient.

Gehörlosen versenkt man eine mit Elektroden bestückte Sonde in das Innenohr '- bis zu einem gewissen Grad können sie dann wieder hören.

Beispiele gibt es viele, kein Körperteil bleibt davon verschont, grundsätzlich ersetzbar zu sein. Grundsätzlich! Denn wenn auch die Möglichkeiten technisch grenzenlos zu sein scheinen - sozial, psychologisch und gesellschaftlich sind sie es nicht. Selbst die phantastischste Möglichkeit muß finanziert werden können, und sie muß von den Betroffenen selbst angenommen werden. Diese Voraussetzungen sind aber nicht immer gegeben - und auch darum wird es in diesem Dossier gehen.

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