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TIROL FUR ANFANGER

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Tirol war stets ein goldener Boden für das Handwerk. Und die Künste blühten ganz besonders überall da, wo sich Kunst und Handwerk einander näherten. So sind auch viele Tiroler Maler, wie die großen Kunsthandwerker alter Zeiten, nicht dem Namen nach bekannt, sondern nur als anonyme „Meister“ auf die Nachwelt gekommen: der „Meister der Sterzinger Altartafeln“, der „Pustertaler Meister“, der „Meister von Uttenheim“, sogar noch in der Renaissance: der „Meister des Angrer-Bildnisses“. Und auch die, deren Namen wir kennen, übten ihr hohes Handwerk im Namen der Kunstfertigkeit und im Namen Gottes: der Maler und Bildschnitzer Michael Pacher, der Freskenmaler und Maler Paul Troger, die Baumeister Jakob Prandtauer und Josef Mungenast. In Tirol blühten der Orgelbau und der Geigenbau. Und wenn manche Meister anonym blieben, hatten die Tiroler „Plattner“, die Harnische schlugen, europäischen Rang und signierten ihre Arbeiten wie anderswo die Maler ihre Gemälde. Sieht man heute ihre Meisterstücke, wird man überraschend an die abstrahierenden Figuren der neueren Bilder gemahnt

Ob Walther von der Vogelweide Tiroler war, Ist ungewiß. Sicherlich aber darf Tirol auf den bedeutenden Minnesänger Oswald von Wolkenstein stolz sein. Und der Tiroler Komponist Leonhard Lechner wird heute als eine der wesentlichen Gestalten der Ära vor Heinrich Schütz angesehen.

Dichtung, Musik, Kunst und Kunsthandwerk blühten in Tirol so lange, bis die verhängnisvolle Alternative gekommen war: Kunsthandwerk oder Kunstgewerbe. Und damit begann ein Widerstreit zwischen Tirols Größe und Problematik.

Hier hatte sich die Kunst ihre Kraft stets besonders intensiv aus dem Volk und dem Boden geholt. Das war nicht von Übel und ist nicht von Übel. Doch sind Volk und Boden ohne ihr Dazutun arg kompromittiert und mißbraucht worden, und der schöne, edle Begriff der Heimat wurde in mehrfachen Zusammensetzungen abgewertet. Übung und Produktion von Kunst scheiden sich in eine echte und eine unechte Linie. Und wer nicht genau hinsieht, vermag die Grenzen nicht immer zu erkennen.

Echt und liebenswert ist bis heute das Tiroler Musizieren und Theaterspielen. Da ist noch das „Land im Gebirge“ spürbar, die auf sich gestellte Gemeinde — es ist unerheblich, was gespielt wird, es kommt nicht auf Musik in erster Linie, nicht auf das Drama in erster Linie an, sondern auf die Freude an der gemeinschaftlichen Selbstverwirklichung im Singen und Spielen. Und so hat denn Tirol die größte „Dichte* Europas an Blasmusikkapellen (284 Kapellen bei 287 Gemeinden), mehr als hundert teilweise außerordentliche Chorvereinigungen, mehr als hundert Liebhaberbühnen, und das alles ist ein Ehrentitel und eindeutiges Kennzeichen eines musischen Volkes, ebenso das immer noch lebendige Brauchtum der fastnächtlichen Maskenzüge,wenn dieses auch schon nicht mehr um des Brauches allein gepflegt wird, sondern mit einem Seitenblick auf die Zuschauer. Einen Schritt weiter in diese Richtung gehen die Passionsspiele (in Erl haben sie sich ein sehr neuzeitliches Festspielhaus dafür gebaut). Und durchaus jenseits der Zu-lässigkeitsgrenze, tief im Bereich des Tirolexports, befinden wir uns bei den Jodel- und Sängergruppen, die seit mehr als hundert Jahren die Welt durchziehen. Sie sind dafür verantwortlich, daß man im ferneren Ausland alle Tiroler als singende und tanzende und alle singenden und tanzenden Alpenbewohner als Tiroler ansieht und beispielsweise in Amerika nicht glauben will, daß das „Weiße Rößl“ sich außerhalb von Tirol befindet.

Angesichts dieser Verwirrung der Maßstäbe muß man gelegentlich Tirol gegen Tirol in Schutz nehmen und zum Beispiel sagen, daß die Exl-Bühne, Kulmination der volkstümlichen Laienspieltradition, weit diesseits der Grenze befindlich gewesen ist: eines der bedeutendsten Ensembles deutschen Sprache in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Und ebenso wie diese Truppe gehört der mit ihr verbundene Dramatiker Karl Schönherr zu Tirols bedeutenden, nicht annähernd nach Verdienst gewürdigten Aktivposten. Es wurde ihm zum Verhängnis, daß seine Sprache die Sprache der Bauern ist. Die Bodenständigkeit wird derzeit in der Literatur und auf dem Theater geschätzt, wenn sie uns spanisch, irisch, skandinavisch oder französisch kommt.Leider erfreut sich Tirol in Spanien, Irland, Skandinavien und Frankreich nicht der gleichen Zugkraft. Dennoch reicht Schönherr in seinen Meisterdramen weit über das Lokale hinaus und ist meiner Überzeugung nach dem Autor von „Rose Bernd“ und „Fuhrmann Henschel“ überlegen. Seine Zeit wird kommen.

Durchaus diesseits der Echtheitsgrenze ist auch ein neuerer Tiroler Maler zu lokalisieren: Albin Egger-Lienz, der knorrige Expressionist.

Die Literatur des Landes hat Grund, auf den Dichter Josef Leitgeb stolz zu sein und auf die Zeitschrift „Der Brenner“, die das kometenhafte Dasein Georg Trakls bestimmt und behaust hat. Sofern er Ruhe zu finden vermochte, fand er sie in dieser Umgebung — und so ruht er denn auch auf dem Mühlauer Friedhof bei Innsbruck.

Tirols Größe manifestiert sich gern demonstrativ und selbstbewußt in der Politik, liebt es aber in den Künsten, sich zu verstecken. Unweit der großen Bundesstraße liegt das Stift Stams. An seinem Zugang prangt ein Schild: „Gemischtwarenhandlung“. Um so gewaltiger die Uber-wältigung, wenn man in die Kirche eintritt. Und manche andere Kirche an unserem Weg hält in ihrem Inneren ähnliche Uberrraschungen bereit; ich will stellvertretend für viele nur einen Namen nennen: Götzens, ein Dorf nahe bei Innsbruck...

Der Stolz Tirols auf seine Gegenwart ist berechtigt, wo er den zahlreichen wintersportlichen Weltmeistern und Olympiasiegern beiderlei Geschlechts gilt, die in ihrer Kunstfertigkeit erweisen, daß die Begabung sich in diesem Land so gern von dem her inspiriert, was die Natur ihm gegeben hat.

Es scheint kaum glaublich, daß der Skilauf in Norwegen zu Hause und nicht schon im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert irgendwo zwischen dem Arlberg und Kitzbühel worden war. Aber wahrscheinlich ist er doch von irgendeinem anonymen Bergbauern in Tirol erfunden worden, und der Erfinder hatte, nicht als einziger Tiroler, ein sogenanntes österreichisches Ellindenschicksal, i-wurde .vej> kannt und verlacht und vergessen. • JsJawgn :^rfo?n

Ein in mehrfachen Variationen wiederkehrendes, recht albernes Witzwort fragt: „Was ist ein Schweizer?“ und antwortet: „Der mißglückte Versuch, aus einem Schotten einen Tiroler zu machen.“

Abgrundtiefe Unkenntnis zweier Völker spricht aus diesem Scherz (die Schotten kenne ich nicht, aber auch sie haben gewiß Grund, sich verkannt zu fühlen).

Man kann doch, wenn man auch nur ahnt, was ein Tiroler ist, nicht versuchen wollen, aus wem immer einen solchen zu machen. Tiroler sein ist, wie wir wissen, ein Zustand, eine Weltanschauung. Tiroler sein kann auch zum Beruf werden. Vor einem Hotel am Innsbrucker Hauptbahnhof geht ein jüngerer Mensch in Landestracht auf und ab, der eigens dazu engagiert wurde, in Landestracht vor diesem Hotel auf und ab zu gehen. Und auch die Exporttiroler haben aus der Herkunft einen Beruf gemacht. Doch die Voraussetzungen des Tirolertums können nicht durch Entschluß oder durch Zwang geschaffen werden. Um Tiroler zu sein, muß man Tiroler sein. Ebensowenig als man aufhören kann, Tiroler zu sein, kann man damit beginnen — es sei denn, man wird als Kind von Tirolern geboren.

Der Versuch, aus wem immer einen Tiroler zu machen, ist also aussichtslos. Wird er aber dennoch unternommen und scheitert, ist das Ergebnis ein mißglückter Tiroler und hat mit einem Schweizer nichts gemein, es wäre denn die Äußerlichkeit, daß beide an das „K“ ein mehr oder weniger heftiges „Ch“ anschließen, ehe sie weiterreden. Wesen, Haltung, Artung, Innenleben und nationaler Charakter der Schweizer und Tiroler sind jedoch grundlegend verschieden.

Der Tiroler ist nämlich — er verzeihe mir das harte Wort! — ein Österreicher. Er weiß es nur nicht. Er will es nicht wahrhaben. Und als starkes Indiz dafür, daß er es ist, empfinde ich — er verzeihe mir abermals! — sein Streben los von Wien Ja, glaubt er denn, die anderen Österreicher sind weniger gegen Wien als er? Ja, hört er denn nicht, wenn er sich widerwillig nach Wien begibt, wie alle Wiener gegen Wien sind?

Der Tiroler will gegen Wien sein. Also muß er bei Österreich bleiben. Wie und wo könnte er sonst so ausdauernd, so intensiv — und so ungestraft — gegen Wien sein? Auch die Schweizer waren einst denen in Wien botmäßig. Und die verschiedenartigen Konsequenzen aus der nämlichen Voraussetzung zeigen uns den ganzen Unterschied: Die Schweizer haben sich gegen die Herren aus Wien empört; die Tiroler sind über die Herren aus Wien empört.

Der Österreicher hat einen Hang zum Ungemach, das er als Existenzgrundlage benötigt. In Wien und seiner Umgebung wird geraunzt; in Tirol wird gemurrt; in Wien wie in Tirol stellt man sich gegen das, was man nicht missen möchte, weil man sich sonst nicht dagegen stellen könnte, in Wien mehr nasal, in Tirol mehr guttural, aber das sind nur Farben in einem österreichischen Spektrum (ganz wis dem klassischen Gelb so vieler Häuser und Paläste im Osten Österreichs viele Töne der Rötlichkeit in Innsbruck entgegenstehen).

Daß ein Begabter sich durchsetzt, ist in der Schweiz die Regel, in Österreich die Ausnahme. Allein die Fülle der österreichischen Schicksale in Tirol sichert diesem Land einen Ehrenplatz in der tragisch-unseligen Chronik des österreichischen Geistes — und ebenso wie die Wiener, nicht ohne ihr Dazutun, der Welt zu Unrecht als Walzertänzer und Heurigensänger erscheinen, ergeht es, nicht ohne ihr Dazutun, den Tirolern, denen man im internationalen Konzert nur den Part des Jodlers zuweisen möchte.

Nicht die „Tiroler Abende“ sind Tirol und auch nicht ihre vorwegnehmende Ubersetzung ins Malerische: nicht die Bilder Franz von Defreggers, sondern die Fresken Max Weilers in der neuen Kirche auf der Hungerburg oberhalb von Innsbruck. Weiler stellt nach gutem alten Beispiel die Kreuzigung Christi kühn in seine Welt: Auch die Landestracht ist mit dabei, wenn der Heiland gekreuzigt wird. Der Skandal, der um diese Bilder entbrannte, ist auch Tirol. Sie mußten auf höhere Weisung verhängt werden, doch sind sie längst wieder zu sehen. Weiler ist inzwischen völlig zur Abstraktion vorgedrungen; auf ihn aber werden die Enkel vermutlich stolz sein. Er ist eines der traditionell raren Gegenbeispiele, die eine Regel bestätigen: spärliche Verwirklichungen unbegrenzter schöpferischer Möglichkeiten.

Da aber Tirol,zu Österreich gehört, uß~es nicht nur mißglücken; aus'einem Nichttiroler einen Tiroler zu machen, sondern meist ebenso auch der Versuch eines Tirolers,, aus sich etwas zu machen. Der Tiroler Josef Madersperger erfand die Nähmaschine und wurde verspottet. Der Tiroler Peter Mitterhofer erfand die Schreibmaschine — wer kennt seinen Namen? Der Tiroler Alois von Negrelli hat den Suezkanal gebaut — der Nichttiroler Lesseps erntete die-Früchte des spektakulären Unternehmens. Tirol reklamiert ferner die Erfindung des Elektromotors durch Johann Kra-vogl und die erste drahtlose Übertragung von Musik durch Konrad Nußbaumer (1904). Die gestörte Relation zwischen Möglichkeit und Verwirklichung, zwischen Leistung und Anerkennung — das ist Tirol — der Anschluß an Österreich Anno 1363 also war kein politischer Schachzug im Machtkampf der Dynastien, sondern von schicksalhafter Notwendigkeit

In dieser ambivalenten Beziehung zwischen einem Ganzen und seinem Teil war Tirol durch sechs Jahrhunderte konstant Österreich hingegen variabel. Tirol war ja zunächst nicht so sehr von einem Staat oder Reich, als von einem Haus in Besitz genommen worden. Wir vergessen gern, daß der Staat namens Österreich erst seit dem Ende des ersten Weltkriegs (und das mit einer großen Unterbrechung) existiert. Vorher war „Österreich“ vor allem eine Art Familienname der regierenden Dynastie. Tirol aber war immer ein Land, sonst nichts — aber das sehr intensiv — und neigt dazu, sich selbst zu erleben, indem es sich allem widersetzt, was sich von außen her überordnen will. Doch Tirol ist konservativ: Das Widersetzen wurde Bestandteil seines Brauchtums; Tirol will sein Brauchtum nicht aufgeben, darum braucht Tirol Österreich.

Eben sind wieder Stimmen im Land laut, die mit großer Vehemenz fordern: Los von Wien! Doch zur Stunde, da diese Zeilen in Druck gehen, gehört Tirol noch zu Österreich. Und ihre besondere Uneinigkeit schlingt seit Jahrhunderten und in alle Zukunft ein einigendes Band um das übrige Österreich und sein Bundesland Tirol.

Au dem demnächst Im Diogenes-Verlag, Zürich, erscheinenden Tabu-Büchlem „Tirol tlir Anfänger“ von Hans Weige -1, mit Tlelen Zeichnungen von Paul Flora.

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