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Tradition und Wiederaufbau im Burgtheater

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Infolge der Kriegseinwirkungen liegen die monumentalen Heimstätten unserer Bundestheater in Trümmern. Ihr überreicher, zum Teil unersetzlicher Kostüm-, Dekorations- und Requisitenfundus wurde fast zur Gänze ein Raub der Flammen. Durch die „Säuberungen“ hat das“ Ensemble wesentliche Einbußen erlitten. Alle diese Tatsachen haben notwendigerweise auch zum Zusammenbruch des Repertoires geführt, das während der Zeit des Nationalsozialismus durch Annahme, beziehungsweise Ausmerzung von Werken aus politischen oder rassischen Gründen ohnehin schon sehr fragwürdig geworden war. Der

Wiederaufbau des Repertoires ist nun nach allen Verlusten vielleicht die wichtigste Aufgabe. Denn Haus, Fundus, Ensemble sind doch nur Mittel, um im würdigen Rahmen und künstlerischer Vollendung das Wesentliche erstehen zu lassen: das dichterische Werk. Aus den Werken baut sich dann jenes Gebäude, das dem Theater sein eigentliches Gepräge gibt und seinen kulturellen Wert oder Unwert bestimmt: das Repertoire oder der Spielplan. ^.Wir sind nun daran, die Errichtung eines derartigen neuen Gebäudes zu beginnen, und zwar für beide Bühnen, für das Burgtheater und für die Staatsoper. Daß es ein Beginn ist, ein Anfang, bietet einen Vorteil, der besonders dem Burgtheater zustatten kommt: der künstlerische Leiter ist nicht, wie fast alle seine Vorgänger, belastet mit der Erbschaft angenommener Werke aus der Zeit vor seinem Amtsantritt, er findet in dieser Beziehung freie Bahn; freilich steht er Schwierigkeiten anderer Art gegenüber, die die früheren Direktoren des Hauses wohl nicht einmal ahnen konnten.

In diesem Zeitpunkt erscheint es nicht uninteressant, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um sich den Spielplan vor Augen zu führen, den der eine oder der andere der großen Direktoren früherer Zeit aufgebaut hat. Manch nützlicher Fingerzeig mag da gegeben werden, der auch für die Gegenwart und die Zukunft wertvoll sein und den Anschluß an die Tradition erleichtern kann.

Wir wollen uns im folgenden nur auf das Burgtheater beschränken und das Repertoire bloß eines Spieljahres, und zwar des Spieljahres 1864/65, etwas zergliedern, eines der letzten Direktionsjahre Heinrich Laubes. Wir wählen das Repertoire dieses Jahres, weil wir glauben, daß es die Absichten des großen Direktors bezüglich des Ausbaues seines Spielplanes am besten widerzuspiegeln vermag. Wir sind uns dabei bewußt, daß trockenes Ziffernmaterial — und nur solches kann in diesem engen Rahmen gebracht werden — ermüdend wirken muß und niemals ein vollständiges Bild gibt; für die Freunde unseres Burg-theateri werden aber die toten Ziffern Leiben gewinnen und manches auch heute noch Beherzigenswerte sagen können.

Im Spieljahre 1864/65, das am 1. Dezember 1864 begann und am 30. November 1865 endete, spielte das alte Burgtheater an 299 Tagen. Gegeben wurden 158 verschiedene Werk, wid zwar: — wir folgen der Terminologie des alten Burgrheaterjahrbuches — 25 Trauerspiele, 72 Lustspiele, 38 Schauspiele, 7 Dramen, 5 Possen und 11 dramatische Gedichte, Charakterbilder, Familiengemälde usw.

Unter diesen Werken sind, um nur einige der großen Namen zu nennen, vertreten: 10 Werke Schillers („Die Räuber“, „Das Lied von der Glocke“, „Maria Stuart“, „Die Jungfrau von Orleans“, „Wilhelm Teil“, „Don Carlos“, „Ficsco“, „Wallen-steins Lager“, „Piccolomini“, „Wallensteins Tod“), fünf Werke Goethes („Götz von Berlichingen“, „Egmont“, „Faust“, „Hermann und Dorothea“, „Torquato-Tasso“), zwei Werke Grillparzers („Des Meeres und der Liebe Wellen“, „Die Ahnfrau“), zehn Werke Shakespeares („Der Kaufmann von Venedig“, „König Heinrich IV.“, „Macbeth“, „Viel Lärm um nichts“, „Romeo und Julia“, „Ein Wintermärchen“, „Hamlet“, „Othello“, „König Richard,III.“, „Julius Cäsar“), drei Werke Kleists („Prinz Friedrich von Homburg“, „Kätzchen von Heilbronn“, „Der zerbrochene Krug“). Erstaufführungen fanden vierzehn statt.

Die Verteilung dieser oben erwähnten

158 Werke innerhalb der einzelnen Spielmonate stellt sich wie folgt dar: s Anzahl

Monat Spieltage verschiedener

Werke

Dezember 1864 26 24

Jänner 1865 30 28

Februar 1865 28 28

März 1865 28 25

April 186 22 19

Mai 1865 31 28

Juni 1865 28 24

August 1865 16 21

September 1865 29 30

Oktober 1865 31 31

November 1865 30 28

Die größte Aüffuhrungszl7r eines Werkes („Ein Pelikan“, Schauspiel von Augier) ist zwanzig.

Bei aufmerksamem Lesen dieser Ziffern fällt zunächst die überraschend große Zahl von verschiedenen Werken auf, die dieses Repertoire umfaßt. Rechnet man die im Spieljahr neuaufgeführten Werke ab, so ergibt sich, daß 144 Werke dieses Jahresrepertoires aus früheren Spielzeiten übernommen wurden, daß also ein stattlicher „fester B e-itand“ von Werken da war. Es tritt klar in Erscheinung, daß fast jede Neuaufführung zu einem dauernden Besitz für Jahre hinaus wurde, daß also alle Mühe und aller Fleiß — ganz abgesehen von den Kosten — nicht nur für die Spanne eines Spieljahres aufgewendet waren. Nur so war die Möglichkeit geboten, in einem umfassenden Repertoire fortlaufend einen Überblick über die dramatische* Produktion zu geben.

Die staunenswerte Größe dieses „festen Bestandes“ zeigt sich am besten, wenn wir einen Vergleich mit dem Burgtheater und Akademietheater im letzten Jahr vor dem zweiten Weltkrieg„ also in der Spielzeit 1937/38 anstellen. In dieser Spielzeit weist das Repertoire des Burgthe'aters fünfzig verschiedene Werke auf, von denen drei aus dem Akademietheater übernommen wurden, so daß 47 verbleiben. Da zehn Erstaufführungen und neun Neueinstudierungen und Neuinszenierungen stattfanden, verbleiben nur 28 Werke aus früheren Spielzeiten. Im Akademietheater wurden in der gleichen Spielzeit 2,4 verschiedene Werke gegeben, von denen eines aus dem Burgtheater herübergenommen wurde. Da zwölf Erstaufführunpn und eine Neueinstudierung stattfanden, verbleiben nur elf Werke des alten Bestandes, wenn von einem soP chen überhaupt noch gesprochen werden kann.

Wir finden ferner im Spielplan Laubes eine weitgehende Berücksichtigung klassischer Werke. Das Repertoire des Jahres 1937/38 weist dagegen auf: vier Werke Schillers („Fiesco“, „Die Jungfrau von Orleans“, „Maria Stuart“, „Wilhelm Teil“), zwei Werke Goethes („Faust“, „Götz von Berlichingen“), drei Werke Grillparzers („Sappho“, „Ein Bruderzwist in Habsburg“, „König Ottokars Glück und Ende“), vier Werke Shakespeares („Perikles, Fürst von Tyrus“, „Romeo und Julia“, „Julius Cäsar“, „Wie es euch gefällt“) und ein Werk Kleists („Prinz Friedrich von Homburg“).

Besonderes Gewicht scheint im Spielplan Laubes darauf gelegt worden zu sein, allzu häufige Wiederholungen von Werken, insbesondere im gleichen Monat, zu vermeiden. Ein Vergleich mit dem

Spielplan des Burgtheaters und des Akademietheaters für 1937/38 zeigt ein anderes Bild. Im Burgtheater weist jeder der zehn Spielmonate im Durchschnitt nur elf, das Akademietheater im Durchschnitt nur sechs verschiedene Werke auf. Da im Burgtheater monatlich im Durchschnitt an 29 Tagen, im Akademietheater an 27 Tagen gespielt wurde, entfallen im Burgtheater auf 18 Tage, im Akademietheater auf 21 Tage Wiederholungen von im gleichen Monat schon gespielten Werken.

Die Jahrbücher der Bundestheater geben darüber Aufschluß, daß dieser fast beunruhigende Schrumpfungsprozeß erst in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg um das Jahr 1926 einsetzte und in immer stärkerem Maß fortgeschritten ist. Die Gründe hiefür liegen zum Teil wohl auch auf finanziellem Gebiet, werden aber, wenn man der Tradition \ des Hauses getreu bleiben soll, behoben werden können und müssen.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, wollte man Laubes Spielplan nech dahin prüfen, ob und inwieweit in ihm die wertvolle dramatische Produktion seiner Zeit berücksichtigt erscheint und ob ein bedeutendes Werk derselben übersehen wurde, es wird jedoch in ^anderem Zusammenhang hiezu vielleicht Gelegenheit gegeben sein.

Es hieße den Zweck dieser Ausführungen verkennen, wollte man in ihnen eine Kritik des Spielplanes unseres Burgtheaters in der gegenwärtigen Nachkriegszeit erblicken. Niemand, der die ungeheuren Schwierigkeiten kennt, die heutigen Tage sich vor jeder Neuaufführung auftürmen und manchmal nur mit unsäglicher Mühe überwunden werden können, wird auch nur im entferntesten' einen Vergleich mit dem Repertoire Laubes ziehen wollen. Wir stehen, wie eingangs gesagt wurde, am Beginne eines Neubaues, während das Repertoire des Spieljahres 1864/65 das Ergebnis einer fast eineinhalb Dezennien währenden Amtstätigkeit eines der größten Direktoren des Instituts darstellt. Aber weil wir erst beginnen, ist es notwendig, diesen Blick auf eine große Vergangenheit zu tun. Dies wird uns vielleicht helfen, manchen Fehler zu vermeiden, der in den letzten beiden Dezennien das seinem Wesen und seiner Tradition nach nur als Repertoiretheater denkbare Bungtheater fast in Gefahr brachte, zu einem Serientheat-er zu werden.

Wir glauben, daß sich die Lücken im Ensemble wieder langsam schließen, daß die Produktion eines bald gänzlich freien Österreich dem Burgtheater wieder die Möglichkeit geben wird, wenn auch keinen Fundus vom Reichtum des alten, so doch einen ausreichenden Fundus zu schaffen, und wir hoffen, daß, wenn der alte Prachtbau am Ring wieder erstanden sein wird, das Burgtheater dort mit einem Repertoire wird einziehen können, das keinen Vergleich mit den Glanzzeiten des alten Hauses zu scheuen braucht.

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