King_Tut_Ankh_Amun_Golden_Mask - © Wikimedia

Tutanchamun als Mordopfer

19451960198020002020

Die spannende These eines amerikanischen Paläopathologen.

19451960198020002020

Die spannende These eines amerikanischen Paläopathologen.

Werbung
Werbung
Werbung

Die größte archäologische Sensation des 20. Jahrhunderts war die Entdeckung des Grabes von König Tutanchamun durch den Engländer Howard Carter 1922. Von den 60 bekannten Begräbnisstätten ägyptischer Pharaonen im Tal der Könige war seine die einzige fast ungeplünderte, offenbar wurden die antiken Grabräuber von Wächtern überrascht. Sie enthielt in wild durchwühltem Durcheinander jene herrlichen Grabbeigaben, mit denen die Ägypter hoch gestellten Persönlichkeiten das Jenseits angenehm machen wollten. Die Fotos der Goldmaske Tutanchamuns gingen um die Welt. Neben einer Fülle wissenschaftlicher Publikationen entwickelte sich ein gewaltiger Strom belletristischer Literatur.

Der Geldgeber der Ausgrabungen, der steinreiche Lord Carnavon, starb plötzlich, noch während die Schätze aus dem Grab gehoben wurden. Die Meinung, der Fluch des Pharao habe ihn getroffen, lieferte den Stoff für viele Romane. Der junge König selbst entzog sich der Erforschung. Keine Papyri gaben Auskunft über ihn, sogar sein Name war aus Steininschriften getilgt worden. Zwar untersuchte ein Anatom die Mumie, doch nur oberflächlich, das Gold war interessanter. Dann wurde der Körper in den äußersten Steinsarkophag zurückgelegt. Tutanchamun ist nun der einzige Pharao, der noch im Tal der Könige ruht, unbeachtet von den Touristen, die sein Grab besuchen und nicht wissen, dass er im Steinsarg liegt.

Nur einmal noch, 1969, bekam ein britischer Pathologe von der ägyptischen Altertumsverwaltung die Erlaubnis, den Leichnam zu untersuchen. In einer BBC-Dokumentation erläuterte dieser Mediziner seine Röntgenaufnahmen und verwies auf einen dunklen Fleck am Hinterkopf. Er äußerte die Vermutung, es handle sich um einen Bluterguss, der möglicherweise von einem Schlag herrühre. Diese Sendung sah der amerikanische Paläopathologe Bob Brier. Er war elektrisiert: "Für Leichen interessiere ich mich aus beruflichen Gründen. Mein Spezialgebiet sind Mumien, und mein besonderes Interesse gilt der Paläopathologie - den Krankheiten der Menschen des Altertums. Welche Leiden haben die alten Ägypter heimgesucht? Konnten sie geheilt werden? Wie sind sie damit fertig geworden? Die Antworten findet man in den Mumien.

Jetzt legt Brier ein Buch vor, an dem die Fachwelt nicht vorbeigehen kann, das aber auch jeden Leser, der einen intelligenten Krimi schätzt, gespannt immer weiterlesen lässt. Wie in einem Indizienprozess sammelt er Beweisstücke für die Todesumstände des Pharao. Den "Tathintergrund" liefert eine Zeit, die 3.300 Jahre zurückliegt und als das Goldene Zeitalter Ägyptens gilt. Brier liefert zunächst gute Argumente für die Annahme, der so schwer fassbare, im jugendlichen Alter verstorbene Pharao sei der Sohn des umstürzlerischen Königs Echnaton gewesen. Echnaton ist für jeden Ägypten-Interessierten eine herausragende Gestalt, führte er doch in der götterreichen Vorstellungswelt der alten Ägypter zum erstenmal den Eingottglauben ein. Nebenbei liefert Brier eine überzeugende Erklärung für die bildlichen Darstellungen Echnatons, die so sehr aus dem Rahmen des damals Üblichen fallen, dass man von einem eigenen Amarna-Stil spricht: Echnaton ließ bekanntlich eine neue Hauptstadt in der Wüste errichten, Amarna. Auf allen Reliefs und Skulpturen fallen seine überlangen Gliedmaßen und seine spindeldürren Hände sowie sein seltsam langes Gesicht auf.

Brier diagnostiziert anstelle künstlerischer Motive eine seltene Krankheit. Das sogenannte Marfan-Syndrom wurde erst 1896 erkannt: schmale, schräggestellte Augen, überlange Gesichter, Spinnenfinger. Mit Echnatons Tod fand die neue Religion ihr abruptes Ende, Ägypten kehrte zur Vielgötterei zurück. Und der neue Pharao, beim Tod seines Vaters noch ein Kind, unterstützte als Heranwachsender die Restauration. Die Hauptstadt der ersten religiösen Revolution der Geschichte, Amarna, wurde zerstört.

Von da an wird es spekulativ. Der Amerikaner vermutet, Tutanchamuns Ratgeber Teje, kein Mann königlichen Geblüts, habe den Pharao, der sich von ihm emanzipierte, umgebracht, um dessen Witwe zu heiraten und selbst Pharao zu werden. Dafür sprechen Tontafeln, die man bei den Hethitern, den traditionellen Feinden der Ägypter, fand. Auf einer wendet sich die naive junge Witwe Tutanchamuns an den Hethiterkönig mit der Bitte, ihr einen seiner Söhne zum Gemahl zu geben, damit sie nicht einen "Diener" heiraten müsse: ein nachprüfbares Dokument. Der Hethiter entsprach dem Wunsch, der Prinz wurde jedoch an der ägpytischen Grenze ermordet. Teje, der "Diener", wurde Pharao, die Witwe Tutanchamuns verschwand aus der Geschichte. Der Pathologe taucht mit neuen Methoden in kleinen Schritten ein bekannt geglaubtes Terrain in ein neues Licht. Sein Buch enthält, so spekulativ manches auch klingt, so viel Wissenswertes aus dem alten Ägypten, dass man staunend anerkennt: Selbst eine so gut erforschte Epoche kann durch neue wissenschaftliche Entwicklungen noch so manches Geheimnis preisgeben. Fazit: Ein interessantes und sehr gut lesbares Ägypten-Buch für den Urlaub.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung