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Um das geistige Schicksal Italiens

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Als das Kloster von Monte Cassino von Bomben in Trümmer gelegt wurde, schien diese Zerstörung der „Wiege des christlichen Abendlandes“ nicht nur ein tragisches Sinnbild des Wahnsinns des vergangenen Krieges, sondern zugleich eine Warnung von erschütternder Eindringlichkeit an das Stammland des christlichen Abendlandes: an Italien. Einst, mit dem heidnischen Rom als Hauptstadt, Kernland des stolzen Römerreiches, wurde es der geographische und geschichtliche Schmelztiegel, in dem sich antike Kultur und christliche Botschaft wie Leib und Seele zu neuer Einheit formten. Zugleich wurde Italien wie kein anderes Land zum Ort der Begegnung aller Völker, und in endloser Reihe zogen aus seinen Städten Priester und Mönche und Laien in alle Welt, um das Evangelium zu verkünden, wie um die abendländische christliche Kultur zu verbreiten.

So wurde die Bewahrung und Entfaltung dieser christlich-abendländischen Kultur zur besonderen geschichtlichen Sendung Italiens, und zugleich gewann die italienische Eigenart jene unvergleichliche Universalität, die im römischen Recht ebenso ihren klassischen Ausdruck findet wie in der Poesie Dantes, in den Entdeckungsfahrten Marco Polos und Cristoforo Colombos ebenso wie in der weltverbindenden Erfindung Guglielmo Marconis, in der Philosophie und Theologie Thomas von Aquins ebenso wie in der Kunst eines Raffael und in der Musik eines Palestrina. Auf keinem anderen Boden wurde so allgemeingültige Kultur geschaffen wie in Italien, wie auch die christliche Heiligkeit in keinem anderen Garten so herrlich blühte wie in dem Italiens. Im Laufe der Jahrhunderte adelte diese christliche Kultur die Wesenszüge des italienischen Charakters: abhold jeder Maßlosigkeit und Unwirklich-keit, vereint er ungewöhnliche Intuitionskraft mit Klarheit des Verstandes, natürliche Schlichtheit mit der Gabe seltener Improvisationskraft, geistige Ausgeglichenheit mit gewinnender Herzensgüte. Das italienische Volk wurde zum Träger der Klassik und des edlen Humanismus, und wie kaum ein anderes Volk wußte es von seinem kulturellen und christlichen Reichtum an andere mitzuteilen.

Seine entscheidende Größe aber liegt gerade in der innigen Einheit von Kultur und Glaube. In einem jüngst veröffentlichten Artikel „L'ora presente e l'Italia“ (in der „Civiltä Cattolica“ _ vom 4. Jänner 1947) stellt der bekannte Publizist Riccardo Lom-bardi S. J. diesen Wesenszug der italienischen Geschichte ins Licht:

„In diesem Land, das für die Begegnung der Völker geschaffen wurde und wie kein anderes durch solche Begegnungen gereift ist, errichtet Jesus, das Mensch gewordene Wort Gottes, das Zentrum seines Werkes; so erhält die von Natur angelegte Zentralität ein göttliches Siegel, das seinerseits unsere Veranlagung zur Universalität und unsere internationale Sendung unermeßlich steigert... Das Schicksal keines Volkes auf Erden ist so eng mit dem Werk Christi verbunden wie das unseres Volkes; die Größe keines Volkes ist so innig vermählt mit jener Größe.“

Mehr als in vergangenen Jahrhunderten will heute das katholische Italien seine Geschichte in ihrem tiefsten Sinn von Rom her verstehen: vom heidnischen Rom, sofern es von der Vorsehung als Pfeil und kultureller Raum auf Christus hin angelegt war, und endgültig vom christlichen und päpstlichen Rom als Mitte und Ausstrahlungspunkt des Reiches Gottes auf Erden. Ja, man scheut sich nicht, eine Parallele zur Auserwählung des jüdischen Volkes zu ziehen: wie Israel der rein religiöse Auftrag wurde, die Straße der Jahrhunderte auf Christus hin instand zu halten und ihm selbst das geschichtliche Tor in die Welt zu öffnen, so ward Italien der Auftrag christlicher Kultur: das vom Christentum durchtränkte antike Erbe zu hüten, seinen menschlichen und christlichen Reichtum je neu an die Völker auszuteilen, und in seinem Namen und in seiner Kraft die Völker und Kulturen zu einen. Das sei die entscheidende Sendung Italiens: geistige Mitte der christlichen Welt zu sein.

Wer wollte nicht neidlos die Berufung zu solcher Größe anerkennen? Und dennoch: schon vor einem Jahrzehnt konnte Giovanni Papini das bittere Wort niederschreiben: „Viele (Ausländer) bewundern Italien; wenige lieben es.“ Und er meint, diese Tatsache damit erklären zu können, daß der Geist Italiens für den Ausländer zu groß und darum unbegreiflich sei; Unkenntnis und Unverständnis, ja selbst Undankbarkeit gegen Italien seien dafür verantwortlich zu machen. Aber ist damit alles erklärt? Oder ist es nicht gerade an seiner geschichtlichen Vergangenheit und an der Größe seiner Berufung, daß das heutige Italien in vielem klein und in diesem Sinne unbegreiflich erscheint?

Es ist ein ehrendes Zeugnis für den unerbittlichen Wirklichkeitssinn vieler Italiener, wenn sie selbst die Tragik ihres Vaterlandes in ihren letzten Gründen erkennen. So erschien unter anderem nach dem Sturz des Faschismus in Rom ein Buch — „La Vita Cristiana come intelligenza“ —, in dem

Mario Baronci über das Italien von heute eine unerbittliche Gewissenerforschung anstellt. Er schreibt:

„Das italienische Volk ist ohne Zweifel viel besser als es sich zeigt, dank unbegreiflicher Gedankenlosigkeit, wenn es auf den Beweis durch Tatsachen ankommt. Man muß zugeben, daß es seit vielen Jahrzehnten alles getan hat, um als eines der wenigst begabten und wenigst verdienten Völker der Erde zu erscheinen.

Die einzigartigen individuellen Eigenschaften des Italieners werden systematisch neutralisiert oder unwirksam gemacht dank tiefgreifender Unfähigkeit und mangels an sozialer Vorbereitung: die Schuld daran trifft, um gerecht zu sein, hauptsächlich seine führende Schichte, die, unter Verzicht auf die eigene völkische Originalität und auf seine christliche und katholische lateinisdie Tradi-ton, sich der unsinnigen und unkontrollierten Nachahmung der reichen und mächtigen Völker hingegeben hat, doch einzig insofern diese reich und mächtig waren ... Indem so das italienische Volk seine charakteristischen Gaben durch den Geist des Materialismus und durch leere Überheblichkeit übertrieben und entstellt hat, hat es sie in ebenso viele Hindernisse zum eigenen Aufstieg verwandelt.“

Die dem Italiener in hohem Maß eigene Intuitionskraft und Intelligenz wurde weitgehend verdorben durch Dilettantismus, Mangel an Methode und Ausdauer und wandelte sich immer mehr in Skeptizismus; Anpassungsfähigkeit und Improvisationskraft schlugen in Verzicht auf Organisation, Ordnung und kluge Vorsorge um; der angeborene Sinn für Schönheit und Kunst gab sich in Servilität an ausländische Erzeugnisse preis; sein kritischer Sinn entartete in Pessimismus, ständige Unzufriedenheit und Mißtrauen; das Volk der Klassik stürzte sich in den chaotischen Strudel der Modernismen anderer Völker, aus Angst, veraltet und rückständig zu erscheinen; das Volk der Genies bot diesen keine geistige Heimat mehr und wies seine besten Söhne ins Ausland: „Es ist einfach mitleiderregend, mit welchem Eifer man bei jeder Erfindung oder Entdeckung, praktischen Anwendung oder Verwirklichung in der Welt, gleich in den verstaubten Truhen unserer Geschichte ... nach dem unbekannten Italiener spürt, der viele Jahre vorher die Erfindung oder die Entdeckung gemacht oder daran gedacht hatte, an die Anwendung oder Verwirklichung zu gehen. Ein merkwürdiger Eifer, der Welt zu beweisen, wie viele Gelegenheiten wir versäumt haben, um uns der Menschheit nützlich zu erweisen und unseren Reichtum und unsere Weltgeltung zu steigern.“ Der dem italienischen Charakter eigene Sinn für Wahrheit und Wirklichkeit verlor sich vielfach in endlose Diskussionen:

„Die Diskussionen kreisen keineswegs um ein gemeinsame zentrale Idee, sondern schleudern gegeneinander absolut Bejahung und totale Verneinung, als fehlte jedes gemeinsame Kriterium des Urteils; und dies mehr aus Widerspruchsgeist und aus törichter Furcht, dabei ertappt zu werden, daß man denkt wie die andern, als aus liebendem Forschen nach der Wahrheit... Der Italiener will diskutieren; und nur solange er diskutiert, meint er zu leben. Liegt die Wahrheit endlich zutage und hat sich darum jede Diskussion aufgehört, so ist der Italiener wie tot und die Wahrheit bleibt ohne Anbeter.“

Die materielle Armut des Landes war seinen Bewohnern kein Ansporn mehr, das Letzte aus dem Boden herauszuholen und seine Sendung vor allem im geistigen Raum zu sehen, sondern wurde Anlaß zu Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstunterschätzung. Die „größte Wohltäterin der Geschichte“ begann sich auf den Lorbeeren auszuruhen und forderte dafür Achtung und Bewunderung. Mit dem Bewußtsein der christlich-abendländischen Sendung verlor das italienische Volk die Kraft, die Schattenseiten seines Charakters, vor allem Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit gegen alles, zu überwinden. Treffend sdireibt Baronci:

„Es handelt sich um eine Beruf skrise. Italien tut nicht das, wozu gerufen ist: es nützt nicht seine charakteristischen Anlagen, es dient nidit seinen Idealen, es führt seine eigene Tradition nicht fort, es verleugnet seine Sendung, es verliert seine Geduld, es verschendet seinen Heroismus, es verpufft seine Kräfte, es entzieht sich seinem Schicksal. Und wer immer Verrat übt an seinem Beruf, macht wie der Priester, der .seine Kutte in die Brennessel wirft', auf jedem anderen Weg, auf dem er mit den andern um die Wette laufen will, Bankrott... Italien hat die götdiche Sendung, eine Flamme und ein Leuchtturm zu sein: und es weigert sich, zu flammen und zu leuchten. Es ist geboren, erstanden und wunderbar neuerstanden, um das Christentum zu verwirklichen: um christlich zu sein und die Welt christlich zu machen, um das Beispiel ehrenhaften, weisen und intelligenten Lebens zu geben. Seine Bestimmung ist vor allem geistig und übernatürlich. Und je mehr es sich darauf verleg, die anderen auf den Straßen der politisdien Macht, des Bankwesens, des Geldes und des Petroleums einzuholen, um so mehr Beweise häuft es auf, daß es nicht die Eignung hat, die Wege zu gehen, die andere gegangen sind, und ihre Systeme nachzuahmen ... Übrigens leidet auch Europa, weil es seine Berufung verraten hat, seitdem es, als ob es sich dessen schämte, seinen geistlichen Primat zum Schweigen gebracht hat, und einerseits amerikanisch. andererseits asiatisch geworden ist. Der Weg Italiens ist, wie immer in seiner einzigartigen Geschichte, ein anderer: Bahnbrecher des Geistes, Aus-spender vor Schönheit und Wahrheit, Apostel der Brüderlichkeit, Lehrmeister der Kultur und der Sitte ...“

Es wäre jedoch durchaus einseitig, wollte man die Entwicklung Italiens in der letzten Vergangenheit nur schwarz malen. Inmitten des unleugbaren Niederganges, der übrigens nur eine Teilerscheinung des allgemeinen kulturellen Abstieges Europas ist, können wir jm Italien der letzten Jahrzehnte einen religiösen und geistigen Aufstieg verzeichnen, dem wir bis zurück in die Zeit der Gegenreformation nichts Ähnliches an die Seite zu stellen haben. Wenn es gültige Wahrheit ist, daß alle geschichtlichen Krisen immer zunächst durch eine starke Elite oder eine Minderheit überwunden wurden, so dürfen wir in Italien eine Elite von seltener katholischer Vitalität und eine in ihrem christlich-abendländischen Bewußtsein mehr und mehr erstarkende Minderheit feststellen. Der geistigen und religiösen Macht der „Katholischen Aktion“ Italiens sind seit dem Sturz des Faschismus neue schöpferische Kräfte an die Seite getreten — man denke zum Beispiel an die blühende katholische Pfadfinderbewegung — und die katholische Intelligenz stößt immer entschiedener in die einst vollständig Visierten Kultlirgebiete, wie Rundfunk, Wissenschaft, Presse, Film usw., vor Das Verständnis für soziale Reformen hat dank der Reden und der Tätigkeit des Papstes weiteste Kreise des Volkes erfaßt. Dazu hat sich das italienische Volk noch weithin, trotz oft beängstigender Schwankungen, das seelische Gleichgewicht ebenso wie seine liebenswerte Herzensgüte bewahrt. Es wäre darum übertrieben, in Italien von einer „Stunde der Finsternis“ zu sprechen,; und wenn auch: jede Stunde der Finsternis ist immer auch eine Stunde des Lichts.

Noch ist das Tor zur Zukunft für das christliche Italien offen. Noch ist das Schicksal dkses Landes nicht entschieden. Doch es steht am Scheidewege seiner Geschichte: es kann seine christlich-' abendländische Sendung wieder aufnehmen und sich selber wiederfinden; es kann aber auch darauf verzichten, es kann die erschreckende Warnung von Monte Cassino überhören und die Wiege der abendländischen Kultur in einen S'arg verwandeln: und es kann so geistigen Selbstmord begehen und die Tragik des untergegangenen Griechenlands zur eigenen machen. In seinem Artikel faßt Riccardo Lombardi die Forderung der Stunde in die programmatischen Worte: „Für uns gibt es nur eine Wahl: entweder ganz hoch zu stehen in der Treue zur Sendung, die Gott uns anvertraute, da er uns das Zentrum der Kirche überwies — oder seine Verräter zu sein und darum „Entwurzelte“ —, und jeder „Entwurzelte“ ist ein Unglücklicher. Ein guter Italiener sein, besagt auch katholisch sein; antikatholisch sein, besagt für uns Verräter des Vaterlandes sein.“

Mögen sich heute auch die Probleme der Wirtschaft und der Politik, der sozialen und verfassungsrechtlichen Reformen in den Vordergrund drängen, die Entscheidung über Gegenwart und Zukunft Italiens fällt im geistigen Raum. Von Ida Fr. G ö r r e s stammt das Wort: „Das Unsichtbare geschieht zuerst, das Sichtbare folgt nach.“

Die Stunde der Krise ist für Italien voll von Gefahren, aber auch voll von Möglichkeiten und Verheißungen. Es wird für das katholische Italien einer noch viel größeren Anstrengung bedürfen, um das Schicksal zu meistern. Noch steht der tatkräftige Einsatz in keinem Verhältnis zu der Unzahl von Reden und Artikeln und Konferenzen, die sich über das Ob und Wie der geistigen Erneuerung Italiens verbreiten. Aber dies ist ja (leider) nicht bloß in Italien der Fall.

Heute geht man daran, das zerstörte Kloster von Monte Cassino neu aufzubauen. Wenn seine Zerstörung eine Warnung war vor der noch viel furchtbareren Zerstörung, der Italien zusammen mit dem ganzen Abendland verfallen müßte, wenn es von seiner christlich-abendländischen Sendung nichts mehr wissen wollte: dürfen wir den Neubau von Monte Cassino als Sinnbild und Versprechen der christlichen Erneuerung Italiens ansehen?

Wir verfolgen das Ringen des christlichen Italiens voll Hoffnung und Zuversicht: um des Reiches Gottes und um Italiens selbst willen; doch auch um der Völker willen: denn heute sind die Schicksale aller ineinander geschlungen.

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