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Urwald oder Insektenstaat?

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Immer schon haben die Gemeinschaftsformen in der Natur das lebhafteste Interesse des Menschen erregt und ihn — bewußt oder unbewußt — dazu angeregt, in diesen Gemeinschaftsformen Vorbilder zu seinen eigenen sozialen Schöpfungen zu sehen.

Der Gedanke ist grundsätzlich richtig — wenn man darüber nicht vergißt, daß der Mensch seinem Wesen nach nicht nur der Natur, sondern auch der Übernatur angehört. Wenn man über den bestechenden Gedanken der Aufklärung: „Zurück zur

Natur!“ nicht übersieht, daß biologische Zweckmäßigkeit nicht den ganzen Menschen umfaßt.

Eine unbefangene Betrachtung des Natur- geschehens — der Verbildete nennt sie „naiv“ oder „anthropomorph“ — lehrt, daß insbesondere zwei biologische Gemein- sdiaftsformen dazu angetan sind, der menschlichen Gesellschaftsstruktur zur Vorlage zu dienen. Die eine ist der Wald, die andere der Insektenstaat.

Der liberale Optimismus des englischen Soziologen Adam Smith mag der Betrachtung des Waldes entnommen sein. Die im freien Zusammenleben der Pflanzen sichtbar werdende Zweckautomatik des biologischen Geschehens kann zu der Ansicht verführen, daß es eigentlich gar nicht notwendig ist, daß sich der Mensch viel um die Regelung des ökonomischen und sozialen Geschehens kümmert. Es geht ja alles von selbst! Die Bäume und Gräser haben keine geschulten Nationalökonomen und finden sich dennoch zu einer höchst zweckmäßig organisierten Gemeinschaft zusammen. Die dem Leben wesenseigene Finalität wirkt unbewußt sowohl im Einzelorganismus wie auch in der Gesamtheit der Organismen. Die hohen Bäume geben dem schattensuchenden Unterwuchs das wohltätige Dunkel, das es zu seiner Entfaltung braucht. Sie geben durch das ‘abgeworfene Laub den Schwämmen und Pilzen Nahrung, und all das Kleine, das im Schatten des Großen wächst, sorgt für die Bodenfeuchtigkeit, die wieder das Große benötigt. So gerät alles von selbst in bester Ordnung. Man braucht keine Obrigkeit, die da noch eingreift. — Gewiß, es gibt unter den Menschen asoziale Störenfriede, deren aggressorischer Charakter der Pflanze fehlt. Darum bedarf die menschliche Gemeinschaft einer Polizei, die der Wald nicht nötig hat!

Die Lehre ist bestechend — aber der Praxis Kat sie nicht standgehalten. Der Rechnung der rationalistischen Soziologie liegt ein Fehler zugrunde: Der „Wald“, den der Kulturmensch kennt und der ihm zum Vorbild wird, ist ja kein Naturprodukt, sondern ein Gebilde von Menschenhand. Der natürliche Wald, der Urwald, ist etwas ganz anderes in seinem Gefüge: eine Pflanzengemeinschaft, die auf dem mechanischen Gesetz der Verdrängung des Schwächeren durch den Stärkeren beruht. Dieses Gesetz ist das einzige, das der Urwald anerkennt. Bei all seiner Brutalität kann man es nicht als „Faustrecht“ bezeichnen. Die Pflanze lebt nach dem Grundsatz der Gewaltlosigkeit. Sie greift nie an. Sie ist friedlich ihrem Wesen nach. Sie kennt keinen „Feind“, nur den „Konkurrenten". Den aber erwürgt die stärkere Pflanze mit kalter, sadilicher, methodischer Unbarmherzigkeit. Nicht aus Haß oder Neid. Sondern weil sie gar nicht anders kann.

Das Leben im Urwald ist ein Wettlauf um das Licht. Wer da zurückbleibt, stirbt. Und niemand kümmert sich um ihn. Im Urwald gibt es kein Unterholz. Das Dunkel, das die Baumriesen verbreiten, ist zu groß, um kleinwüchsigen Pflanzen auch nur ein „Schattendasein“ zu ermöglichen. Sie sterben ab. Oder sie greifen zu Mitteln, die in der kaufmännischen Sprache als „unlauterer

Wettbewerb" bezeichnet werden. Da sind die Schlingpflanzen, die sich an den hohen Stämmen emporranken, um auch zum Licht zu kommen. Da sind die Orchideen, die sich in den Wipfeln der hochwüchsigen Bäume einnisten und, ohne Beziehung zum Mutterboden der Erde, ihre seltsamen, giftigen Blüten treiben.

Unbarmherzige Großverdiener, die allen anderen das Licht der Sonne streitig machen; wendige, gerissene Mitläufer; elegante Parasiten — das ist die gesellschaftliche Schichtung des JfJrwaldes.

Und das ist auch die gesellschaftliche Schichtung des konsequenten liberalistischcn Kapitalismus, der sich vom Urwald freilich in einem unterscheidet: der Urwald kennt kein Proletariat — und daher keine Polizei.

An diesem kleinen Unterschied scheitert die Rechnung des liberalistischen Rationalismus. Der Urwald vernichtet jeden, der kein „Kapitalist“, kein „Mitläufer“, kein „Parasit“ ist. Der Kapitalismus aber — versklavt ihn nur. Der Versklavte, Entrechtete aber empört sich gegen das System, das ihm das Licht der Sonne streitig macht und ihn verdammt, ewig im Dunkel zu leben, bar aller Menschenwürde. Und gegen diese Empörer braucht der menschliche „Urwald“ die Polizei.

Der Urwald der Natur kann bestehen. Er ist dem Wesen der Pflanze gemäß. Der aus einer Überspannung materialistischer Analogien entstandene Urwald der menschlichen Gesellschaft muß zugrunde gehen. Denn er stellt eine Ordnung dar, die dem Wesen des Menschen widerspricht, die un-menschlich ist. Die freie Persönlichkeit des Menschen bäumt sich auf gegen eine Gesellschaftsordnung, die einzig das Recht des Stärkeren als ökonomischen Motor anerkennt und dennoch dem Schwächeren das Prinzip vegetativer Gewaltlosigkeit aufzwingt. Wehe aber dem Wald, der es nicht mehr nur mit Konkurrenten, sondern auch mit Feinden zu tun hat, das heißt, mit Wesen, die gegen ihn aggresiv Vorgehen! Wehrlos ist der Baumriese dem Nonnenfraß und dem Borkenkäfer preisgegeben.

Der Entrechtete im menschlichen Urwald ist nun gleichermaßen ein Rationalist, ein Materialist, ein Darwinist, wie der Nutznießer der kapitalistischen Ordnung. Audi der Proletarier sieht sich in der Natur um, auf der Suche nach einer Gesellschaftsordnung, in der auch er leben kann. — Ist es ein Wunder, wenn sein Blick am Insekt hängenbleibt, an dem einzigen Feind, den der Urwald hat?

Der methodisch denkende Mensch bleibt dabei nicht bei den pflanzenschädigenden Raupen und Käfern stehen. Man würde das Wesen der proletarischen Auflehnung gegen eine unmenschliche Gesellschaftsordnung schwer mißverstehen, wollte man sie nach ihren unvermeidlichen Mitläufern, denen es nur um Beute geht, beurteilen. Es gebt auch nicht um höhere Löhne und nicht um menschenwürdigere Daseinsbedingungen, sondern wirklich um eine neue Gesellschaftsordnung, die eben kein Urwald ist. Nidit Borkenkäfer und Raupe sind dem echten Revolutionär Vorbild, auch nicht der „braune" Maikäfer, der alles kahlfrißt. Sondern Biene und Ameise, also die staatenbildenden Insekten.

Wenn aber der Mensch eine Gesellschaftsform erreichen will, die auch nur annähernd die Vollkommenheit eines Insektenstaates anstrebt, dann muß er die Persönlichkeit als hemmend empfinden und versuchen, dieses Merkmal des Menschlichen zu beseitigen. Daher schafft man künstliche Kollektive, die das Individuum seiner störenden Sonderheit berauben und es zu einem klaglos funktionierenden Rad in der Maschine „Staat“ machen. So entsteht der Massemensch, ohne den ein kollektivistischer Staat nicht denkbar ist.

Der materialistische Mensch, der nur und ausschließlich in ökonomischen Tatsachen denkt, muß im Insektenstaat ein schlechthin ideales Vorbild sehen. Wenn er nämlich ein sittliches Ideal besitzt. Und das hat der überzeugte Marxist. Man glaube nur ja nicht, daß man mit dem Versprechen besserer Arbeitsbedingungen, sozialer • Einrichtungen, Eigenbauheim und ähnlichen Annehmlichkeiten einen Sozialisten machen könnte! Menschen, die bereit sind, um derartiger Vorteile willen sich in die Randzonen gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit abdrängen zu lassen, sind Kleinbürger, nicht echte Sozialisten, die wirklich ihre Persönlichkeit dem Ideal einer neuen Gesellschaftsordnung opfern.

Der Sozialist opfert seine Persönlichkeit dem kollektiven Ideal der Gesellschaft; der Nationalist dem kollektiven Ideal der Nation. Nationalismus und Sozialismus unterscheiden sich also grundsätzlich nur in der geistigen Ausrichtung. Beides kann sittlicher Idealismus sein. Beides aber läuft Gefahr, in einer Totalität zu ersticken, die ihrem Wesen nach keine ist, keine sein kann. Beide tendieren zum Ameisenstaat, wobei es im Grunde gleichgültig ist, ob der Mechanismus, der die Persönlichkeit zerstört, „Nation" heißt oder „Klasse“.

Dennoch haben Nationalismus und Sozialismus ihre. Daseinsberechtigung. Ohne Nationalismus gäbe es keine eigenwüchsige Kultur, ohne Sozialismus keine soziale Sittlichkeit, kein Staatsethos. Falsch ist nur die materialistische Grundhaltung, die zu dem irrigen Totalitätsanspruch führt. Der Mensch ist kein Tier; darum ist dem Wesen des Menschen weder der Urwald noch der Insektenstaat gemäß. Und überhaupt kein totaler Staat. Denn nur das, was am Menschen der Natur und ihrer Notwendigkeit angehört, läßt sich in das Getriebe eines Staates einordnen. Der geistige Wesenskern des Menschen aber gehört dem übernatürlichen Bereich der Freiheit an. Um beidem gerecht zu werden, bedarf es’ einer politischen Anschauung, die dem Christuswort: Gebt Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist, gerecht wird. Friedrich Mucker- mann hat in dem Bild der Ellipse ein Symbol für das gefunden, was er die „Reichsidee“ nennt: um die beiden Brennpunkte „Kirche“ und „Schloß“ kreise das gesellschaftliche Leben des Menschen. Man kann auch sagen: um die Brennpunkte „Idee" und „M ach t“.

Es lohnt, dieses Bild von der Ellipse, das Muckermann mit Recht eine „Wirklichkeit in jeder Seele“ nennt, in sich lebendig zu machen. Vielleicht ist es nicht das Letzte. Aber wie weit wir kommen, solange sich „Macht“ und „Idee“ gleichermaßen für ausschließliche und ausschließende Zentren der Lebenscotalität halten, sehen wir nur allzu deutlich am Zeitgeschehen. Macht allein ist blind. Idee allein ist lahm und weltfremd. Und solange unmenschliche Blindheit und weltfremde Ohnmacht einander feindlich gegenüberstehen, muß der Menschheit zwangsläufig alles mißraten.

Aus der exklusiven Macht kommt die all- -

zerstörende Atombombe. Aus der exklusiven Idee der papierene Protest gegen die Atom- bombe. Wir müssen einen Weg finden aus dieser doppelten „Autarkie der Unzuläng-J lichkeit“, die uns zwischen Urwald und In- sektenstaat pendeln läßt, bis wir in einen—. Abgrund taumeln. Es ist schon so, wie’ Muckermann sagt: „Die Idee der Macht und die Madit der Idee lassen sich nicht von-

einander trennen, und es ist schlimm, wenn’. Akademiker nur noch denken können un Gläubige nur noch beten.’

Friedrich Muckermann S. J., „Vom Ritsel der Zeit" (Verlag Josef Kösel ‘Sc Friedrich Pustet, München 1933). c

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