Die Werke der Stars der venezianischen und der nordischen Schule zwischen 1450 und 1600 führt derzeit eine Großausstellung im venezianischen Palazzo Grassi zusammen. Sie beweisen, daß Kulturaustausch keine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts ist.
"Der Hl. Hieronymus in seinem Studierzimmer" - ein und dasselbe Motiv von zwei führenden Vertretern ihrer Schule gemalt, einmal von Antonello da Messina, einmal von Jan van Eyck. Diese faszinierende Gegenüberstellung der beiden Werke, das eine von der National Gallery aus London und das andere aus dem Detroit Institute of Arts, ermöglicht diese Schau.
Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Kunst Nordeuropas, also vor allem der Niederlande und Süddeutschlands, mit jener Venedigs zwischen 1450 und 1600 zu vergleichen. Gereist wurde bereits damals, die bekanntesten Maler überquerten mehrfach die Alpen. Und sie beeinflußten sich gegenseitig: Die Künstler aus dem Norden führten den Sinn für realistische Darstellung des Alltagslebens und die Landschaftsmalerei in die venezianische Malerei ein. Das Gefühl für Farbe und klassische monumentale Figuren brachten die Venezianer den Flamen und Deutschen bei. Ein Vergleich des "Porträts einer jungen Frau" von Albrecht Dürer und der eben renovierten "Flora" von Tizian aus den Uffizien in Florenz machen die Unterschiede deutlich.
Theoretisch wurde die Beziehung zwischen den Schulen nördlich und südlich der Alpen bereits intensiv abgehandelt. Die visuelle Darstellung ist jetzt erstmals im Palazzo Grassi gelungen, der zur Fiat-Holding gehört. Mehr als 200 Meisterwerke des 15. und 16. Jahrhunderts aus rund hundert Museen, öffentlichen und privaten Sammlungen in 15 Staaten sind von den Kuratoren Bernard Aikema und Beverly Louise Brown nach Venedig geholt worden. Das ist nicht nur eine logistische Meisterleistung, sondern vor allem eine kostbare und -spielige Angelegenheit. Die Versicherungssumme von mehr als sieben Milliarden Schilling für die Herbstschau bedeutet selbst für den Palazzo Grassi Rekordniveau, das erst einmal, nämlich von der Picasso-Ausstellung Anfang 1998 übertroffen worden ist.
Eröffnet wird die Ausstellung mit dem ersten beurkundeten Werk auf Leinwand der venezianischen Kunst, dem Großen Triptychon "Madonna mit Kind und Engeln zwischen den heiligen Gregorius, Hieronymus, Ambrosius und Augustin" (1446) von Antonion Vivarini und Giovanni d'Alemagna. Das Werk dokumentiert den Übergang von der Gotik zur Renaissance, es kommt aus der Gallerie dell'Accademia und wurde gerade restauriert.
Die gesamte Schau in den 28 Sälen des Palazzo am Canale Grande ist auf sieben Sektoren aufgeteilt, von der "Venezianischen Malerei aus dem 15. Jahrhundert und Ars nova der Niederlande" bis zu "Deutschland und Venedig: das ausgehende 16. Jahrhundert" und dazwischen das "Kabinett der Zeichnungen" mit rund hundert Zeichnungen, Stichen und Manuskripten.
Die bedeutendsten ausgestellten Meisterwerke sind neben Messinas "Hl. Hieronymus in seiner Studierstube" Albrecht Dürers "Christus unter den Schriftgelehrten" aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza in Madrid, Tizians "Flora" und "Philip II." (aus dem Madrider Prado) und Elsheimers "Taufe des Christus" aus der Berliner Gemäldegalerie.
Der Höhepunkt der großen Renaissance-Ausstellung ist die Vereinigung einer geteilten Tafel Vittore Carpaccios nach 500 Jahren. Das Gemälde entstand an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert und dürfte zum Transport in zwei Teile geschnitten worden sein. Der untere, bekannt als "Zwei venezianische Damen", kommt aus der Correr Sammlung in Venedig, der obere wurde 1945 als "Jagd in der Lagune" Teil des Paul Getty-Museums von Malibu.
Eine ausführliche Zusammenschau und zahlreiche nicht ausgestellte Werke zum Vergleich bietet der 700-Seiten-Katalog, der im Palazzo Grassi um 74.000 Lire vorläufig nur in Italienisch zu haben ist. Eine englische Ausgabe soll demnächst vorliegen.
Wer nicht nach Venedig kommt, kann mehr als 30 Ausstellungsstücke demnächst wieder in Wien sehen - oder sich per Internet in den Palazzo Grassi einklicken: http://www.palazzograssi.it Die Renaissance in Venedig und die Malerei des Nordens zur Zeit von Bellini, Dürer, Tizian. Palazzo Grassi, San Samuele, Venedig, täglich von 10 bis 19 Uhr, bis 9. Jänner 2000, geschlossen am 24., 25., 31. Dezember und am 1. Jänner.