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Verkünderin einer neuen Zeit

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Im November jährt sich der neunzigste Todestag einer Künstlerin, die „an vielen ihrer Gefährten vorbei (...) an der Schwelle einer neuen Zeit (stand) als deren Verkünde-n ”, schrieb 1919 Gustav Pauli in der ersten Monographie über Paula Modersohn-Becker. In nur einem Jahrzehnt entstand in der Zurückgezogenheit ihres Ateliers ein Werk, das die modernsten Strömungen der Kunst vor und kurz nach 1900 nicht nur reflektierte, sondern eigenständig vorantrieb. Bis weit in unser Jahrhundert hinein der Worpsweder Künstlerkolonie einfach zugeordnet, wurden ihre Werke in begrenzter Auswahl zwar populär, in ihrer Bedeutung insgesamt jedoch erst nach und nach gewürdigt. Erstmals seit 40 Jahren zeigt das Lenbachhaus in München eine umfassende Retrospektive, in der 165 Gemälde mehr als 100 Arbeiten auf Papier gegenüberstellt werden und damit Einblick geben in die Gesamtentwicklung wie in das künstlerische Procedere.

Paula Modersohn-Becker wurde 1876 in Dresden geboren und wächst nach dem Umzug der Familie im Bremen der Jahrhundertwende auf. Ersten Zeichenanfängen folgte die Studienzeit im „Verein der Berliner •Künstlerinnen” 1896-1898. Daß sie in dieser Zeit zufällig in die Moor-und Heidelandschaft von Worpswede bei Bremen kommt, bestimmt ihr Schicksal: Hier wird sie sich auf ihr Werk konzentrieren, von hier wird sie aber auch viermal für längere Zeit nach Paris entfliehen, um die für ihr Schaffen notwendigen Impulse zu erfahren. Dort heiratet sie 1901 den damals schon bekannten Landschaftsmaler Otto Modersohn, der - wie die Künstler von Barbizon - mit Gleichgesinnten in die Freiheit der Natur gezogen war und bereits 1895 in Bremen und in München, mit größtem Erfolg, ausgestellt hatte. Bainer Maria Rilke und die Bildhauerin Clara Westhoff gesellten sich zu diesem Kreis, mit beiden verband die Künstlerin eine besondere Freundschaft. Mit der Entdeckung der Worpsweder Landschaft hatte Paula Modersohn-Becker jene urgestaltigen Formen und Farben und jene knorrigen und wuchtigen Menschen gefunden, die zum Stoff ihres CEuvres werden sollten.

Die Künstlerin hatte ein nur kurzes Leben. Als sie am 20. November 1907 nach der Geburt ihrer Tochter stirbt, hinterläßt sie rund 750 Gemälde, mehr als 1.000 Handzeichnungen und 13 Badierungen.

Die Bedeutung ihres umfangreichen Werkes aber liegt in der kompromißlosen Suche nach elementarer Größe und Einfachheit.

Ihre Landschaften analysieren in rhythmischen Strukturen und summarisch aufgefaßten Farbfeldern, verzichten auf Details und Stimmungen und lassen schon früh ein Loslösen vom Naturbild, eine innere Affinität zu Cezanne (die „Sandkuhle”, 1899) erkennen; dessen Entdeckung bei Vollard während ihres ersten Parisaufenthaltes hat „wie ein Gewitter und ein großes Ereignis” auf sie gewirkt. Die Bekanntschaft mit August Rodin, die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Kunstströmungen der Zeit im „Salon des Independants”, mit Gauguin und den Nabis, mit Seurat, van Gogh, mit Maillol in Atelier und Museen, bei Auktionen und Sammlern waren Bestätigung und Impuls zugleich.

Neben den Stilleben, in denen sie den Entdeckungen Cezannes gefolgt ist, nehmen Bildnis, Akt und Selbstbildnis eine herausragende Stellung in ihrem Werk ein. Ihre Kinderbildnisse sind herb und ungeschönt, unkindlich und distanziert wie aus einer fremden Welt. Von Arbeit und Alter gezeichnete Frauen mit großen, schweren Händen, großformatige Mutter-Kind-Bilder erinnern an Werden und Vergehen, elementar, ohne Pathos, Ikonen der Zeitlo-sigkeit, losgelöst von jeglicher Individualität.

In den Selbstbildnissen entwickelt sie ein sachlich-forschendes Hinterfragen zum Beduzieren auf das Wesenhafte. Das große Wagnis jedoch -und als Bildtypus bis dahin einmalig - ist die Auseinandersetzung der Künstlerin mit dem eigenen Akt, der schließlich als kreatürlicher Gegenstand aufgefaßt, der eigenen Identität enthoben wird.

Paula Modersohn-Becker hat in wenigen Jahren mit der als „rücksichtslos” apostrophierten Geradlinigkeit ihrer Kunst inhaltliche und formale Aussagen der Kunstentwicklung vorweggenommen: reale Zustandsschilderungen längst vor der allgemeinen Suche nach Sachlichkeit, ungewöhnliche Bildausschnitte, Perspektiven und Lichtführungen, radikale Vereinfachung der Formen noch vor den Künstlern des „Blauen Reiters”, Ansätze zu einer Sichtweise in Richtung Kubismus in den Bildnissen 1906 und damit sicher unabhängig von Picasso.

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