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Verlorenes und Gerettetes in Sachsen-Thüringen

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Dresden, Ende März

Gegenüber anderen deutschen Gebieten erlitt Mitteldeutschland — nicht zuletzt infolge seiner konzentrierten industriellen Struktur — umfangreiche Verluste an wertvollen Kulturbauten und Kunstdenkmälern. Abgesehen von Dresden, das seine berühmtesten Bauwerke verlor und sein städtebauliches Antlitz völlig einbüßte, kann jedoch festgestellt werden, daß in Sachsen und Thüringen trotz ungeheurer Zerstörungen gerade die — vom kunsthistorischen Standpunkt aus gesehen — wertvollsten Bauten in ihrer wesentlichen Substanz, teilweise sogar unversehrt, erhalten blieben. Da die weltberühmte Gemäldegalerie Dresdens mit dem „Zwinger“ Ihre Heimstatt verlor, übersiedelte sie inzwischen nach Moskau; kleinere zurückgebliebene Bestände werden zur Zeit im nahegelegenen Pillnitz ausgestellt. Kaum vertreten sind darunter Werke alter Meister, umfassender wird die Ausstellung erst mit Originalen aus dem 18. und 19. Jahrhundert.

Wie Dresden hat auch Chemnitz seinen Stadtkern fast zur Gänze verloren; die Schloßkirche jedoch blieb nahezu unbeschädigt, kleinere Bauschäden werden bereits restauriert. So gut wie unbeschädigt blieb Freiberg im Erzgebirge und sein berühmter Dom. Seine um 1230 entstandene geschnitzt gewesene „Goldene Pforte“ — ein Hauptwerk der sächsischen spätromanischen Portalplastik und in ihrem von westlichen Vorbildern beeinflußten Stil wohl das Vollendetste, was Deutschland aus dieser Zeit der französischen Kathedralplastik gegenüberzustellen vermag — wurde inzwischen wieder freigelegt. Ebenso die berühmte „Tulpenkanzel“ und ihre — gleich einer aus Stein gemeißelten Wunderblume — dem Boden spielerisch entsprießende „barocke“ Formenwelt, die für die um 1500 herrschende spätgotische Stilstufe besonders charakteristisch ist. Die Bronzefiguren vom Freigrab des Kurfürsten Moritz sowie die Plastiken der Fürsten und Propheten sind an ihre alten Standorte im Domchor zurückgekehrt. Auch das nahe Annaberg blieb verschont. Mit ihrem reichgeschwungenen Netzgewölbe legt die Annenkirche Zeugnis ab für die breite Kunstentfaltung jener Epoche, in der im späten 15. Jahrhundert diese* Städte — ähnlich unseren Bergwerksstädten in Tirol und Steiermark — durch den Silberbergbau eine kurze Blüte erlebten.

Beklagenswerter sind die baulichen Verluste in Jena, von dessen altem Stadtkern nichts übrigblieb als ungeheure

Schuttberge — der alte Marktplatz ist kaum wiederzufinden. Weimar, eir.st Hört deutschen Geistes und weltweiter Kultur — heute übervölkertes Zentrum von Thüringen — zeigt ein erschreckend entstelltes Gesicht. Nur mühsam bahnt man sich zwischen Ruinen den Weg zum ,.alten“ Weimar. Residenz- und Schloßbauten beherbergen verschiedene Verwaltungsstellen, das unbeschädigte Schiller-Haus präsentiert sich in einem neuen, etwas knalligen Farbanstrich; die geringfügigen Schäden an Goethes Wohnhaus am Frauenplan werden sich wohl auch wiederherstellen lassen! Die Sammlungen sind bereits wieder zugänglich; an den Wänden finden sich Tafeln mit Aussprüchen russischer und westeuropäischer Perönlichkeiten über Goethe und die deutsche Kultur, und auch die Graphische Sammlung ist wieder benutzbar, ein Teil der Gemäldesammlung soll in Tiefurt ausgestellt werden. Inmitten des alten Parkes mit seinen offenen Bombentrichtern, herumliegenden Autowracks, abgeholzten Bäumen steht Goethes Gartenhaus den Besuchern wieder offen. Empfindlich wurde auch Erfurt getroffen. Die Barfüßer- und die Predigerkirche liegen in Trümmern, dagegen blieb der Dom nahezu unbeschädigt, ebenso das Hirsauerklostw auf dem Petersberg, das derzeit in ein Heimkehrerlager verwandelt wurde. Die reichen Innenausstattungen des Domes von St. Severin sind größtenteils wieder aufgestellt.

Im Hinblick auf den ungeheuren Verlust an europäischen Kulturdenkmälern ist es um so beglückender, daß der berühmte Dom von Naumburg, dieses „steinerne Wunder“ und als Kunstwerk höchster und feinster Ausdruck deutscher mittelalterlicher Kultur, inmitten der unzerstörten Stadt die Schreckenszeit unversehrt überdauert hat. Seine „Stifterfiguren“, jene in Stein verewigten Persönlichkeiten aus den am Dombau beteiligten Fürstengcschlechtern, werden nun nach den Jahren der „Verbannung“ im Chor und am Lettner wieder freigelegt.

In Merseburg brannte der Osttrakt des Schlosses aus, die Dekorationen der Treppentürme, Erker, Portale und das Brunnenhaus jedoch blieben erhalten. Unbeschädigt blieb auch der Doml in ihm fehlt von den bedeutenderen Werken noch das nach 1080 entstandene Bronzegrab König Rudolfs von Schwaben, das wahrscheinlich älteste erhaltene Grabrelief. Das benachbarte Halle konnte seine historisdien Baudenkmäler bis auf den roten Turm, die Waae und das Rathaus heil durch den Krieg retten; Abgesehen von geringfügigen Beschädigungen an einem Turm der Stiftskirche blieben auch die Kunstdenkmäler Quedlinburgs erhalten. Die Wiperti-Krypta, die mit dem in ihr verwahrten Grabmal Kaiser Heinrichs I. von den nationalsozialistischen Machthabern zur „nationalen Kultsth'tte“ ernannt worden war, ist nun gänzlich „entnazifiziert“ und von An- und Ausbauten befreit. Vom Domschatz wurden kostbare Teile, darunter wertvolle islamische Bergkristalle, während der letzten Kriegsereignisse geplündert.

Halberstadt hat seine östliche Stadthälfte verlören, darunter zahlreiche kulturhistorisch wertvolle Fachwerkhäuser, starke Zerstörungen weist auch der Dom auf. besonders an Gewölben und Dächern, doch sieht man auch hier wieder die Zimmerleute an der Arbeit. Die große Münzensammlung des Stadtmuseums und die Trachtensammlung verschwanden in der Turbulenz der letzten Kriegswirren. Das nahe Magdeburg gelegene Z e r b s t ist innerhalb der Stadtmauern vollständig p 1 a 11 g e w a 1 z t. Von seinen großen Kirchen stehen nur noch kahle Außenwände, von rießigen Schutthalden umsäumt. Völlig ausgebrannt liegen Schloß und Rathaus. Den erschüt-ternsten Eindruck unter den zuletzt geschilderten Städten aber übertrifft Magdeburg, doch blieb der Dom in seinen wesentlichsten Bauteilen nahezu unbeschädigt; es fehlen nur sämtliche Maßwerke und das südliche Querschiff weist einen größeren Gewölbeschaden auf. Die spätromanischen Kapitelle des zu Beginn des 13. Jahrhunderts erbauten Chores mit ihrer von der burgundischen Frühgotik beeinflußten einzigartigen Ornamentik sind noch in der Ummantelung verborgen und audi die berühmten, um 1240 entstandenen Statuen der Jungfrauen vom Nordportal liegen zum Teil noch in der Sebastianskapelle eingesperrt. Der Verbleib des „Magdeburger Reiters“, das in gleicher Zeit entstandene steinerne Standbild Kaiser Ottos I. auf dem Markte, ist in ein rätselhaiies Dunkel gehüllt; angeblich soll das Kunstwerk in seinem Bunker zerstört worden sein.

Dies eine nur kurze Liste zum Teil sehr schwer mitgenommener Städte Mitteldeutschlands; sie könnte lange fortgesetzt werden.

Welch grauenhafte Verwirklichung jener — nun aber mit unerbittlicher Umkehrung eingetroffenen — Verheißung seines „großen Führers“, der für die deutschen Städte versprach: „Und ihr werdet sie nicht wiedererkennen ...“

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