Verschossene Lebensbilder

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Ukrainische Straßenkinder fotografierten ihren Alltag - Einblick in ein Leben ohne Ausblick.

Pubsik lebt das Leben einer Einwegkamera: Einen anderen, neuen Film einlegen, kann er nicht mehr, er hat noch ein paar Bilder, dann ist es aus. Pubsik ist ein Straßenkind in Kiew. Ein Kind von mindestens 8000 Straßenkindern in der Hauptstadt, ein Kind von mindestens 100.000 Straßenkindern in der Ukraine. Pubsik ist ein Spitzname, Pubsik heißt eigentlich Dima und Pubsik ist eigentlich kein Kind, Pubsik ist 21 Jahre alt. Doch über zehn Jahre auf der Straße haben ihn klein gehalten. Nicht seinen Körper, der ist ausgewachsen, da weisen nur zwei Narben auf seiner linken Wange darauf hin, dass er hart gelandet ist. Ein Kind geblieben ist Pubsik im Kopf. Die Weichmacher in den Klebstoffen, die er unzählige Male geschnüffelt hat, um sich zu betäuben und der harten Welt zu entfliehen, haben sein Gehirn weich gemacht und seine Leber hart. Pubsik hat immer wieder Aussetzer, dann lächelt er verloren, dann ist er weit weg, dann schaut sein Blick vergessen in die Ferne …

Einen Blick aus nächster Nähe auf das Leben von Straßenkindern bietet die Ausstellung "This is my life!" im Weltcafé in der Wiener Schwarzspanierstraße. Pubsik war einer von 13 Kiewer Jugendlichen, die bei einem von der Caritas-Wien im Rahmen ihrer Straßenkinder-Projekte organisierten Foto-Workshop mitmachten. Während des Tages standen Theorie und Praxis von Porträt- bis Sportfotografie, Bildgestaltung, Perspektive und Fototechnik auf dem Programm. Am Abend sind die Jugendlichen, ausgerüstet mit Einwegkameras, ins Straßenleben zurückgekehrt, haben ihren Unterschlupf fotografiert, Freunde beim Fußball spielen, sich selbst mit einer Gitarre in der Hand oder mit ihren Tieren - Fotos von ihrem Leben auf der Straße eben, aus ihrer Perspektive.

Vom Straßentanz geprägt

"Es sind sehr persönliche und authentische Einblicke, die uns diese Fotos gewähren", sagte der Wiener Caritas-Direktor Michael Landau bei der Eröffnung der Ausstellung letzte Woche: "Das Leben auf der Straße ist hart: Vor der Polizei verstecken sich die Jugendlichen, täglich müssen sie etwas zu essen organisieren, immer wieder neue Schlafplätze suchen. Davon erzählen die Bilder, aber auch von Momenten der Freude."

Glücksmomente erlebt Pubsik im Straßenkinderzentrum "Aspern", der Caritas-Partnerorganisation in Kiew. Dort kann er sich duschen, aufwärmen, seine Wäsche waschen, essen, ausruhen, dort kann er plaudern, dort wird ihm zugehört. An einem Tag im Jänner macht er im Kiewer Aspern gemeinsam mit zwei Freunden eine Breakdance-Vorführung für die auf einen Kurzbesuch vorbeischauenden Gäste, Journalisten und Caritas-Mitarbeiter aus Österreich. Pubsik ist ein wenig unsicher, ob ihnen die Vorstellung gelingt, "im Winter sind wir nicht so gut im Training". Doch seine Skepsis ist unbegründet, die drei Körper wirbeln gekonnt über den Boden des Wohnzimmers im Kinderzentrum. Nach der Vorstellung ist Pubsik überglücklich, dass es so gut geklappt hat; vor lauter Freude greift er sich eine silberne Girlande vom Weihnachtsbaum im Zimmer und krönt sich damit selbst. Dann muss er sich niedersetzen, die körperliche Anstrengung hat ihn mehr mitgenommen als seine beiden Tanzpartner - Pubsik ist das älteste Straßen-"Kind" im Zentrum, er hat schon die meisten Lebensbilder verschossen, einige wenige mit schönen, viele, zu viele mit hässlichen Motiven darauf.

Von der Straße verschluckt

Nach der Breakdance-Vorführung kehrt ein Mädchen den Straßendreck zusammen, den die Akrobaten beim Tanzen aus ihren Schuhen gebeutelt haben. Der Dreck stinkt, lässt auch in der heilen Welt des Kinderzentrums nie vergessen, woher diese Jugendlichen und Kinder kommen und wohin viele nach ein paar Stunden Wärme wieder gehen.

Pubsik ist zu spät ins Kiewer Zentrum Aspern gekommen. "Wenn ein Kind drei Jahre und länger auf der Straße gelebt hat, ist es unmöglich, den Bub oder das Mädchen zurück in ein normales Leben zu bringen", sagt Vera Koshil, die Leiterin von Aspern. Deswegen, so Koshil, ist es wichtig, schnell zu helfen.

Während sie ihre Gäste in Englisch über die Straßenkinder-Problematik in der Ukraine und speziell in Kiew aufklärt, schmiegen sich Matwi und Uljana an die Zentrumsmutter. Sie verstehen nicht, was ihre Beschützerin erzählt, aber sie wissen, aus eigener Erfahrung, wovon Vera Koshil berichtet. Beide sind neun Jahre alt, beide hat die Straße geschluckt - und wieder ausgespuckt; noch rechtzeitig, noch früh genug, bevor ihre Hirne weich und ihre Eingeweide schmutzig und hart geworden sind und die Wunden, die sie auf die Straße getrieben haben, dort noch tiefer und untröstbarer und unverzeihlicher geschlagen werden konnten.

Von der Polizei verjagt

In Aspern werden Matwi und Uljanas Wunden geheilt. Werbung für ihre Einrichtung braucht Vera Koshil nicht zu machen: "Das spricht sich herum unter den Kindern, wenn es ihnen wo gut geht - so schnell wie Buschfeuer." In Kiew gibt es nicht viele Orte, wo Straßenkinder Unterschlupf finden. Die Polizei ist angewiesen, herumstreunende Kinder einzusammeln und in die staatlichen Waisenheime zu bringen. Dort büchsen die Kinder und Jugendlichen zwar regelmäßig aus, und das Straßenkinder und Gendarm-Spiel - nicht lustig verstanden! - beginnt von vorn. Doch wer weiß, ob es der Kiewer Stadtpolitik vorrangig um das Wohl dieser Kinder geht und nicht viel mehr um ein makelloses Stadtbild der boomenden Metropole, die sich bereits für die Fußball-Europameisterschaft 2012 herausputzt.

"Wir wären gerne eine richtige Fußballmannschaft, mit einem Trainer wären wir sicher ganz vorn dabei", meint Pubsik. Ein Bild von seinem Team findet sich in der "This is my life!"-Ausstellung, die nach ihrem Ende in Wien auf Österreich-Tournee gehen soll. Dass Pubsiks Mannschaft einmal von Spiel zu Spiel fährt und von einem Trainer gecoacht wird, bleibt hingegen ein unerfüllbarer Traum. Die fehlende Bezugsperson ist der eigentliche Grund für das schwere Schicksal dieser Kinder. Angefangen in der Familie, wo ihnen Armut und Alkohol die Eltern genommen und sie zu Sozialwaisen gemacht haben. Weiter in den staatlichen Internaten, wo es mehr Hausmeister und Köchinnen und Putzfrauen gibt als Pädagogen, und in die sie kommen, aber wo sie nie willkommen sind, und die sich zwar offiziell Heim nennen, aber wo diese Kinder nie daheim sein werden.

Von diesem Modell lernen

Pubsik ist zu spät ins Kinderzentrum Aspern gekommen, ein paar Jahre früher, viele schlimme Erfahrungen weniger - dann wäre er auch der Straße entkommen, hätte noch einen anderen Film in sein Leben einlegen können. So wie Matwi und Uljana jetzt. Nach ein, zwei Jahren müssen auch sie aus Aspern wegziehen, doch bis dahin finden sie dort Geborgenheit, während Vera Koshil und ihre Helfer eine neue Familie für sie suchen. Und das Beispiel Aspern macht Schule in Kiew und in der Ukraine, hat Modell- und Vorbildwirkung, wird von staatlichen Stellen übernommen. Für Pubsik ist das zu spät, Pubsik hat nicht mehr viele Bilder. Und wenn er einmal nicht mehr ist, gilt umso mehr, was Vera Koshil zu ihrem Engagement treibt: "Wenn wir eines dieser Kinder an die Straße verlieren, wird es immer in unseren Köpfen bleiben und wir werden uns fragen: Warum?"

This is my life! - Ausstellung

Straßenkinder fotografierten ihren Alltag in Kiew, AAI-Galerie im Weltcafé

Schwarzspanierstraße 15, 1090 Wien

täglich von 9.00 bis 2.00 früh,

bis 13. März 2008.

This is my life! - Benefizabend

"Louie Austen", "A Life, A Song, A Cigarette" und "announced Revolution" rocken im Ost-Klub am Schwarzenbergplatz zu Gunsten des Straßenkinderzentrums in Kiew. DJ Lazlo, DJ sid data, DJ Prutsky und FM4-DJ Andreas Gstettner garantieren tanzbare Unterhaltung bis in den frühen Morgen.

Samstag, 9. Februar 2008, ab 20 Uhr

This is my life! - Spenden

Kto. Nr.: 7.700.004, BLZ: 60.000

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