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VIEL IDEALISMUS - WENIG RUHM

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Die katholische Kirchenmusik als integraler Bestandteil des österreichischen Musiklebens besitzt eine Eigenkultur von geschichtlicher Größe und Einmaligkeit. Ihre derzeitige Daseinsform wird von vielen Faktoren liturgischer, musikalisch-stilistischer, ethisch-ideologischer, musiksoziologischer und materieller Art bestimmt.

Ihr eigentliches Wesen liegt im Schnittpunkt dreier verpflichtender Kreise: eines universell-liturgischen Musikkreises, eines Musikkreises des deutschen Sprachraumes und eines Musikkredses von spezifisch österreichischer Ausprägung.

• Als Musica Sacra ist sie ein wesentlicher Bestandteil der katholischen Liturgie und daher von der allgemeinen EntWicklung der Kunst im orbis catholicus abhängig. Dies wird gerade jetzt, bei der Auswertung der Konzilsbeschlüsse des Vaticanum II, besonders deutlich.

• Ferner umschließt sie der zweite Kreis, die Zugehörigkeit zur Kirchenmusik deutscher Prägung, und die österreichischen, deutschen und schweizerischen Bischofskonferenzen haben in letzter Zeit hier einschneidende Beschlüsse gefaßt.

• Schließlich ist die österreichische Kirchenmusik den spezifischen Aufgaben verpflichtet, die sich aus den besonderen Kunstanlagen unseres Landes selbst ergeben, wobei immer festgehalten werden muß, daß es sich sowohl um musikalische Hochkunst als auch um musikalische Volkskunst handelt. Gerade in Österreich vollzog sich die historische Sonderentwdcklung der polyphonen Kirchenmusik in der Erscheinungsform der Wiener klassischen Kirchenmusik: unser Volk empfindet heute noch diese Musikform als liturgisch durchaus vertretbar, ja notwendig. In der Zukunft werden sich neue Aufgaben ergeben, deren Ansätze jetzt bereits sichtbar werden und die auf eine Intensivierung von deutschsprachigen Kompositionen abzielen.

Die Kirchenmusik ist nicht Angelegenheit einer esoterischen Kunstgruppe, sondern sie ist künstlerische Ausdrucksform eines Volkes von hoher Musikkultur und bedeutet ein ernstes Anliegen der österreichischen katholischen Kirche, der ungefähr 90°/» der Gesamtbevölkerung angehören. Daher ist die österreichische Kirchenmusik sowohl der Tiefe als auch der Breite nach ungemein differenziert und ihr Aufgabenbereich hundertfach gegliedert.

Die autonome Kleinzelle der Kirche, sozusagen der Mikrokosmos des Katholizismus ist die Pfarre. Je nach ihrem liturgischen Leben, nach ihrer inneren Gliederung, nach ihren eigentümlichen Land- oder Stadtaufgaben wird auch die Kirchenmusik verschieden gestaltet sein, für die nach kanonischem Recht der Pfarrer (nicht der Kirchenmusiker) verantwortlich ist Die letzte amtlich-statistische Erfassung der österreichischen Kirchenmusik aus dem Jahr 1933 gibt heute noch — obwohl vielfach überholt — hinreichende Aufschlüsse. Damals gab es in ganz Österreich 3218 Gotteshäuser: in 2492 davon wurde polyphone Kirchenmusik von 651 Komponisten aufgeführt. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß heute mindestens ziueteinhalbtausend Kirchenchöre am Werke sind, das Lob Gottes zu singen und die gläubige Gemeinde zu erbauen. Welche Unsumme von unbezahlter Arbeit, welches Maß von Fleiß und Hingabe, welche selbstlose Aufopferung hinter dieser Zahl steckt, kann man wohl nur erahnen. Das Hohe Lied der österreichischen Kirchenchöre klingt sonntäglich durch die Hallen unserer Kirchen und läßt vergessen, mit welchen Schwierigkeiten die Chöre zu kämpfen haben: da ist die leidige Naohwuchsfrage, besonders der hohen Männerstimmen; da ist das Probenproblem; da handelt es sich um Differenzen mit anderen Pfarrgruppen, welche die angeblichen „Privilegien“ bekämpfen wollen; schließlich hat die Motorisierung den deutschen und österreichischen Kirchenohören bereits empfindlich zugesetzt: wer will sich heute noch sein freies Wochenende rauben lassen?

Jedenfalls bildet unser Kirchenöhorwesen noch eine feste Säule im österreichischen Musikleben, und es wäre nicht auszudenken, wenn es eines Tages stagnieren sollte: wie verödet würden die Kirchen im „Musikland Österreich“ dastehen, wenn eines der letzten volksverbundenen Bollwerke im Kampf gegen kollektivistische amusische Massenmedien (Rundfunk, Fernsehen, Schallplatte, Musikbox, kurz, Erziehung zur vollkommenen musischen Passivität) zusammenbrechen würde! Gerade die Kirche als „Lehrmeisterin des kleinen Mannes“ hat in Österreich unendlich viel zur musikalischen Bildung des Volkes getan, und die Geschichte unserer Kirchenchöre ist ein glanzvolles Kapitel unserer eigenen Kultur.

T T ber die soziologische Zusammensetzung unserer Kirchen-chöre liegen keine Erhebungen vor: nach glaubhaften, vielfach bezeugten Berichten kann jedoch angenommen werden, daß sich die Kirchensänger aus allen Kreisen der Bevölkerung rekrutieren, vom Hofrat bis zum Holzknecht, vom lebfrischen, gerade schulentlassenen Dirndl bis zum siebzigjährigen Sängerveteran. Diese Vielfalt zeigt den Charakter der Kirchenmusik als echtes Volksanliegen: 99°/o unserer Kirchenchöre sind Laienchöre — was Rückschlüsse auf ihre musikalische Struktur und die gepflegte Literatur zuläßt. Der restliche Prozent besteht aus Berufssängern, welche avantgardistische Literatur verschiedenster Strömungen bieten können.

Eine andere spezifisch österreichische Eigenart ist die enge Verbindung von Kirche und Schule. Bereits im monasti-schen Mittelalter sind die „singer auf der schuei“ das tragende Element der Kirchenmusik, und seither datiert die historische Personalunion von Schulmeister und Kirdhen-musiker, die bei uns die schönsten Musikblüten trieb (Schubert, Bruckner u. a.). Seit der Maria Theresianischen Schulordnung von 1774 war diese Verbindung auch staatlich sanktioniert worden, wenn sie auch durch das Reichsvolksschulgesetz von 1869 zwar etwas eingeschränkt wurde, doch immerhin toleriert blieb. Die überall reichgepflegte kirchliche Chormusik stellt das Ergebnis dieser segensreichen Eintracht dar, die bis zum heutigen Tag weiterwirkt. Im kirchenmusikalisohen Milieu des Schulmeisterhauses wuchsen (und wachsen) die Kinder auf, es kam zu wahren Lehrerdynastien, die besonders in den abgelegenen Alpendörfern zu belegen sind und deren Frauen sogar tüchtige Musikerinnen waren. Auch der Dilettant-Dirigent taucht auf: es handelt sich meist um einen Landwirt oder einen Handwerker, der sich des Chores dann annimmt, wenn der Lehrer nicht will oder nicht kann. Von schicksalshafter Bedeutung hätte die Trennung von Schul- und Kirdhenamt in der Hitler-Ära werden können, wenn nicht Laienorganisten und -dirigenten in die Bresche gesprungen wären. Sie wurden in dieser schweren Zeit in eigenen Kursen der bischöflichen Diözesankommissionen für Kirchenmusik herangebildet, die sich später, nach 1945, zu gutfundierten Diözesankirchenmusikschulen entwickelten. Den Oberbau des kirchenmusikalischen Schulwesens bilden die Kirchenmusikabteilungen der drei österreichischen Musikakademien.

Auch der Berufsmusikerstand ist soziologisch an der Kirchenmusikpflege wesentlich beteiligt. Gerade für den toleranten Sinn des Wiener Musiklebens wird es immer bezeichnend bleiben, daß in dieser Stadt zum erstenmal im 13. Jahrhundert die vogelfreie Zunft der Pfeifer in der Nikolaibrüderschaft zu St. Michael kirchlichen Schutz und bürgerliche Anerkennung fand. In der Folge erscheinen im Zuge der höfischen Kirchenmusik Kantoren, Kaplans, Organisten, Singer, Drummeter, Pfeifer, Pusawner usw. im Solde eines kunstliebenden Fürsten als erste Vorboten des beamteten Musikers. Die Kirchenmusik des bürgerlichen Kulturkreises, die das Erbe der höfischen Musikpflege im 19. Jahrhundert übernahm, konnte bald überzeugende musik-soziologische und -soziale Verdienste buchen: die ersten Anfänge des organisatorischen Zusammenschlusses der Chordirigenten im „Verein der Wiener Chordirigenten“ und dem 1843 gegründeten „Kirchenmu9ik-Pensionsfond“, der bis 1938 bestand — beides Nachgründungen des barocken Cäcilien-vereins von 1725. Ein weiterer Zug, die Kirchenmusik auch finanziell auf gesicherte Basis zu stellen, war die Gründung von Kirchenmusikvereinen, die heute noch vereinzelt an Wiener Kirchen bestehen, wo sie ein materielles Rückgrat für den um Instrumentalaufführungen schwer ringenden Chordirektor geworden sind (ältester Kirchenmusikverein St. Karl, 1825). Berufsmusiker wirken heute noch an kirchenmusikalischen Glanzaufführungen mit, an ersiter Stelle sind hier die Meßaufführungen der Wiener Hofkapelle mit den Wiener Sängerknaben, den Männerstimmen des Opernchores und den Philharmonikern als Paradigma der gutbürgerlichen Kirchenmusik zu nennen, weiters die Aufführungen an Wiener Kirchen mit den Symphonikern, den Tonkünstlern, dem Dommusikverein usw. All diese Beispiele zeugen von dem ernsthaften Bemühen, die österreichische Kirchenmusik weiterhin als Kunstmusik zu pflegen und den kämpferischen Bestrebungen puritanisch-liturgischer Bilderstürmer zum Trotz, den überreichen Schatz aus Vergangenheit und Gegenwart zu bewahren.

In Österreich setzte sich 1933 die Mehrheit der Dirigenten und Organisten (73%) aus Angehörigen der Intelligenzberufe zusammen (Geistliche, Lehrer, Musiker und öffentliche Beamte). Unter diesen Berufsgruppen war am stärksten die Lehrerschaft mit 54“/o vertreten. Unterdessen dürfte sich diese Zahl zuungunsten der Lehrerschaft verschoben haben.

Was nun die Besoldung und materielle Sicherstellung der Kirchenmusiker betrifft, hat sich vieles seither verbessert: die haupt- und nebenamtlichen Kirchenmusiker genießen alle Vorteile des modernen Sozialstaates (Krankenkassa, Pensionsversicherung, Urlaubsregelung usw.), sie werden nach den Regulativsätzen der Diözesankommissionen entlohnt — wenn in den meisten Fällen der Kirchenmusiker auch auf andere Einnahmsquellen angewiesen bleibt (Stundengeben, Beamtentätigkeit in der Pfarrkanzlei oder in der Finanzkammer). Aber es gibt immer noch jugendliche Idealisten, die diesen Beruf aus innerer Überzeugung und aus Kunstbesessenheit wählen.

Noch größere Idealisten sind die Kirchenkomponisten, die unbedankt, unbesoldet und ohne jedwede materielle Entschädigung seitens der Kirche Werk für Werk „Ad-majorem Dei gloriam“ schreiben — nur bei gelegentlichen Rundfunkübertragungen werden ihre Messen (beileibe nicht als „Kirchenmusik“, sondern als „Ernste Chormusik“) gepunktet und von der AKM gewertet. Ein Kirchenkomponist unserer Tage ist in dieser Beziehung viel ärmer dran als in früheren Zeiten, wo er meist in kirchlichen oder fürstlichen Diensten stand (als Symphonista, Maestro di capella oder Compo-siteur) und das Komponieren zu seinen Standespfliohten gehörte. Das kirchliche und private Mäzenatentum ist aber heute so gut wie ausgestorben, daher ist die Kirchenkomposition heute eine rein ideelle, religiöse, ja metaphysische Geistesbeschäftigung. Schon J. J. Fux sagte 1725 in seinem „Gradus“: „Auf dem Parnaß herrscht nicht Plutus, sondern Apollo.“

Die österreichischen Kirchenkomponisten befinden sich durchaus auf der Höhe der Zeit und haben den Anschluß an die allgemeine Musikentwicklung nicht verpaßt: unter ungefähr 30 Staatspreisträgern befinden sich vier Kirohenmusiker, und der Prozentsatz der anderen Ausgezeichneten, die die kirchenmusikalische Sparte nicht hauptberuflich, sondern ideell pflegen, ist noch erheblich größer.

Eine Aufzählung der weitverzweigten primär- und sekundärliturgischen Sachgebiete der österreichischen Kirchenmusik (Choralpflege, deutscher Volksgesang, Orgel und Orgelmusik, kirchenmusikalische Erziehung in Seminarien, Schulen und Orden, die Jugendbewegung in all ihren musikalischen Spielarten, die actuosa participatio populi, die kirohenmusikalischen Probleme in Rundfunk und Fernsehen, die kirchenmusikalische Discographie usw.) würde den Rahmen dieses Aufsatzes weit sprengen, so sehr sie musiksoziologisch auch zu interessieren vermöchte.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die katholische Kirchenmusik in Österreich keine museale Angelegenheit kunstbegeisterter Gruppen ist, sondern einen lebendigen Musikstrom darstellt, der das religiöse Anliegen unseres Volkes nicht in äußerlichen sterilen Symbolen, sondern in quellfrischen, gesunden Schöpfungen zum erhabenen Schöpfer selbst zurückspiegelt.

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