6705604-1963_50_15.jpg
Digital In Arbeit

Vom Mythos zur Burleske

Werbung
Werbung
Werbung

Der zweite Abend des neuen Ballettdirektors der Staatsoper, Aurel von Millos, war ähnlich komponiert wie sein erster im November 1962, den er als Gastchoreograph einstudiert hatte. Damals standen auf dem Programm: ein mythologisches Ballett („Marsyas”), ein handlungsloses („Estro arguto”, nach Prokofieffs 3. Klavierkonzert) und ein bäuerlich-ungarisches Divertissement (auf Musik von Sandor Veress). Das mythologische Ballett hatte diesmal Prometheus, keine Geschöpfe, Apollon und die Musen zum Gegenstand. Beethoven hatte um 1800 die Musik zu „Die Geschöpfe des Prometheus” für den Tänzer und Ballettmeister Salvatore Vigano geschrieben, und am 28. März 1801 fand im alten Burgtheater die Uraufführung statt. Aber Libretto und Choreographie sind verlorengegangen. Aurel von Milios reizte das große, heroisch-allegorische Thema, was begreiflich ist, und die Musik Beethovens, was man weniger gut versteht. Es ist ein klassischer Fall von Liebe ohne Gegenliebe: bei Beethoven zum Tanz, den auch einzelne seiner Symphoniesätze beschwören, und bei Millos zu dieser Musik, die bis auf wenige Takte absolut untänzerisch ist und an der er sich bereits 1933 versuchte. Millös hat eine neue, wohldurchdachte, logisch gegliederte, würdige und auch interessante Handlung zu Beethovens Variationenreihe ganz neu erfunden: Nach den vergeblichen Versuchen des Prometheus, seinen tönernen Kreaturen Leben, Geist und Leidenschaft einzuflößen, bringt er sie auf den Rat Pans auf den Parnaß, wo Apollo und den neun Musen im Spiel eben das gelingt, was Prometheus mit seinen Blitzen nicht vermochte. Von dem italienischen Maler Fabrizio Clerici, der auch die beiden anderen Ballette des Abends ausstattete, wurde der Choreograph gut verstanden und wirkungsvoll unterstützt: Seine surreal verfremdete Antike bildete einen großen Reiz. Man sah zunächst eine grüne, sich nach dem Hintergrund verengende Höhle, dann den in eisblaues Licht getauchten Olymp mit aufragenden Stalagmiten und mythologischen Tierstandbrldem, dann die gleiche Szenerie in dunkelrotem Licht; im Hintergrund, wie durch ein umgekehrtes Fernglas und im Stil etwa einer Canova-Plastik, die immer wieder reizende Szene zwischen Amor und Psyche. Gruppen von je zehn Nymphen und Bacchantinnen belebten die Aktion; aber die etwa 50 Minuten dauernde Musik erwies sich als ein arges Handikap. Mehr Stimmung und

Lyrismus als die hohen Götter strahlten die beiden „Geschöpfe”, Edeltraut Brex- ner und Paul Vondrak, aus. Willy Dirtl wirkte mehr als Tarzan wie als Gott, Ludwig Musil steckte in einer unglücklichen Maske und vermochte sich von einem gewissen Schema nicht zu befreien; recht anmutig: die ein wenig didaktisch mit ihren entsprechenden Symbolen ausgestatteten Musen und das Paar Falusy-Kimbauer (Amor und Psyche).

„Estro barbarico” — auf die Musik von Bartöks 2. Klavierkonzert — will in drei Phasen „Ausdruck des Ursprünglich-Elementaren” sein. Hierzu ist die Musik Barloks bestens geeignet, die übrigens auch tänzerischen Impetus besitzt. Aber Millos war mit diesem Werk das Opfer eines besonderen Mißgeschicks: Auf seine Choreographie fällt riesengroß der Schatten von Stra- winsky-Béjarts „Sacre du printemps”, den man zwei Jahre zuvor in Wien, Salzburg und andernorts gesehen hat. Obwohl auch die Choreographie von Milios in ihrer strengen Gliederung (Gruppe der Frauen, Gruppe der Männer und Solistenpaar) ihre Qualitäten hat und stellenweise eine hohe Musikalität bezeugt (daneben gibt es allerdings auch Leerläufe), so wirkt dieses Ballett, mit der erwähnten Creation verglichen, als ein „Sacre” — wenn nicht für die Taferlklass’, so doch für Mittelschüler. Erstklassig allerdings, was Christi Zim- merl und Karl Musil in ihren großen Solopartien zeigten. Sehr dekorativ und eindrucksvoll auch der tiefblaue Hintergrund mit den flammend roten Flecken. Weniger glücklich die Kostüme Clericis: die Männer in Hellblau, die Mädchen in gelblich-grünen Trikots (das sind keine „Erdfarben”!) mit ein wenig lächerlichen Lendenschürzchen. Gut der musikalische Teil: Ludwig Hoffmann als Solist des anspruchsvollen Soloparts am Klavier und die sehr präzise energische Orchesterleitung durch Ettore Grads, der sich auch im Mittelstück des Programms bestens bewährte.

Es heißt „Salade” und wurde — nach einem Libretto von Albert Flamand — 1924 von Darius Milhaud geschrieben, von Leonid Massine choreographiert und in der Ausstattung durch Georges Braque im Pariser „Théâtre de la Cigale” uraufgeführt. (Das waren noch Zeiten, als sich zu gemeinsamem Werk drei der ersten Künstler der Tanzmetröpole zusammenfanden!) Die Handlung, von Motiven der Commedia dell’arte inspiriert, ist reizend, einfach-verzwickt, aber ohne Belang: ein höchst pikantes

Durcheinander, ein „Salat” (aber ein italienisch-französischer). Kunsthistorisch bedeutet dieses Werk den mit leichter Hand ins Werk gesetzten und wohlgeglückten Versuch, das alte „ballet chante” beziehungsweise die „comedie- ballet” der vorklassischen Zeit wiederzubeleben. Denn jeder der acht Solotänzer hat im Orchester ein singendes „Double”. Hier erfreuten und brillierten in Tanz, Pantomime und Parodie: Willy Dirtl als die Handlung lenkender Pulcinell, Erika Zlocha, Dietlinde Kle- misch sowie die jungen Herren Nitsch, Meister, Nowotny, Jandosch und Hieß. In den nur angedeuteten freundlichhellen Dekorationen und den hübschen Kostümen Fabrizio Clericis war das Ganze ein ungetrübter Spaß: unterhaltsam, geistreich und boshaft. Choreograph und Tänzer ließen sich die einmalige Gelegenheit, ihre großen Kollegen von der Oper recht drastisch zu parodieren, nicht entgehen. Milhaüd hätte seine Freude daran gehabt. Man hätte ihn zu der Erstaufführung einladen sollen; aber wer denkt schon an so etwas?

Im „Fliegenden Holländer” (Staatsoper) gab es eine neue Senta nicht nur zu hören und zu sehen, sondern auch zu bewundern. Sie heißt Doris Jung und kommt aus Hamburg. Ihre Stimme ist genügend kräftig, äußerst sorgfältig geführt und von angenehmem Timbre — auch in den höchsten Lagen. (Nach der Tiefe zu ist eine gewisse Grenze spürbar.) Die Erscheinung von Doris Jung — groß, schlank und blond — ist für diese Partie wie geschaffen. Ihr Spiel ist eher zurückhaltend, aber nicht ohne Intensität. Daneben hatte es ihr Partner, der Sänger und Darsteller des Holländers, schwer. Drei Stunden lang Dämonie und Einsamkeit ausstrahlen zu müssen, ist nicht Herrn Simonettes Sache. Stimmlich entsprach er der Partie eher. In den übrigen Rollen: Wolfgang Windgassen als Erik, Walter Kreppel-Daland, Elisabeth Höngen, Sentas Amme, und Karl Terkal, Steuermann. Leopold Ludwig am Pult sorgte für Spannung, Präzision und bemerkenswerte, aber nie das Maß überschreitende klangliche Explosionen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung