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Von Sinn und Art der neuen Kirchenmusik

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Die bedeutendste künstlerisch-kulturelle Manifestation des abgelaufenen Jahres war der Anfang November in Wien abgehaltene „InternationaleKongreßfürkatholischeKirchen- musik“, an dem Vertreter von 21 Nationen teilnahmen. Ein längeres Handschreiben des Heiligen Vaters, das sich eingehend mit dem Kongreß und der Rolle der Kirchenmusik befaßt, und die Entsendung des Leiters der päpstlichen Musikhochschule und Konsulenten der Ritenkongregation. Prälat Angles, dokumentieren das besondere Interesse des Heiligen Stuhles an dieser weltweiten Veranstaltung, an deren Eröffnungsveranstaltung auch sämtliche Bischöfe Oesterreichs teilnahmen. Volle Kirchen und Konzertsäle, rege Teilnahme an den Vorträgen und Diskussionen sowie die Besucherzahl der Ausstellungen im Prunksaal der Oesterreichischen Nationalbibliothek (rund 50.000 Personen) erwiesen das Interesse auch der breiten Oeffentlichkeit. Als eine grundsätzliche Betrachtung, gewissermaßen als Blick von oben auf eines der Hauptthemen des Kongresses möge der nachfolgende Beitrag gelten. „Die Furche

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Die bedeutendste künstlerisch-kulturelle Manifestation des abgelaufenen Jahres war der Anfang November in Wien abgehaltene „InternationaleKongreßfürkatholischeKirchen- musik“, an dem Vertreter von 21 Nationen teilnahmen. Ein längeres Handschreiben des Heiligen Vaters, das sich eingehend mit dem Kongreß und der Rolle der Kirchenmusik befaßt, und die Entsendung des Leiters der päpstlichen Musikhochschule und Konsulenten der Ritenkongregation. Prälat Angles, dokumentieren das besondere Interesse des Heiligen Stuhles an dieser weltweiten Veranstaltung, an deren Eröffnungsveranstaltung auch sämtliche Bischöfe Oesterreichs teilnahmen. Volle Kirchen und Konzertsäle, rege Teilnahme an den Vorträgen und Diskussionen sowie die Besucherzahl der Ausstellungen im Prunksaal der Oesterreichischen Nationalbibliothek (rund 50.000 Personen) erwiesen das Interesse auch der breiten Oeffentlichkeit. Als eine grundsätzliche Betrachtung, gewissermaßen als Blick von oben auf eines der Hauptthemen des Kongresses möge der nachfolgende Beitrag gelten. „Die Furche

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Christi Menschwerdung fällt in die Zeit des weltweiten Römerreiches, so daß der Verbreitung des Evangeliums längst Straßen offenstanden. Gott hatte also irdische Gegebenheiten geschaffen, um Ueberirdischem zum Erfolg zu verhelfen. — Man kann sich der Ueberzeugung nicht erwehren, daß göttliche Vorsehung jenen Augenblick der menschlichen Kunstgesinnung erwählte, der einer wahren Reform der Kirchenmusik höchst günstig war. In diesem Augenblick schuf Pius X. das gültige kirchenmusikalische Gesetzbuch, das einzigartige „Motu proprio" der liturgischen Musik, das seither die Richtschnur aller kirchlichen Erlässe und jeglichen musikalischen Schaffens sein sollte.

Daß sich die neue Musik mit der neuen Kirchenmusik trifft, zeigt schon die Tatsache, daß sich alle wirklich bedeutenden Kirchenkomponisten nicht mehr abschließen und in ihr „Gebiet“ einkapseln wie etwa zur Zeit der cäcilianischen Sackbahnhöfe, sondern sich dem profanen Schaffen ebenso offenhalten. Möglich wurde diese Wiederbegegnung natürlicherweise nur auf dem Untergrund einer neuen geistigen Haltung. Ist zwar der letzte Ursprung der profanen Musik im Tanz und seinen Instrumenten zu suchen, so stand doch, wie allbekannt, die liturgische Kunst der abendländischen Musik Pate und leistete jahrhundertelang beste Erzieherarbeit. Nach einer längeren Trennung — von der Kirchenmusik her gesehen, Isolierung — fanden sich beide Sphären wieder zusammen. Die wiedergewonnene geistige Haltung und die Besinnung auf Wesen und Grundlagen der Musik überhaupt, schufen gemeinsames Streben, Suchen und Finden. ‘‘

Wie der Mensch selbst, so hat auch seine Kunst drei Aspekte. Die sinnliche Sphäre schafft und empfängt das rein Klangliche der bewegten Töne, die geistige das Formale, die Gestalt, wozu das Seelisch- Ausdrucksmäßige stößt, der Zwang und der Gehalt der Aussage. Diese Grundbesinnung ist vielleicht das Charakteristikum der guten neuen Musik. War auch die erste, revolutionäre und oft frivole Befreiung vom Allzusinnlichen und Allzugefühlhaften der letzten Vergangenheit ein kühner Vorstoß zur formal-geistigen Seite der Musik, so war die errungene „Sachlichkeit“ nicht genügend (am wenigsten in der Kirchenmusik!), weil sie es auch wieder im materialistischen und rationalistischen Sinne war und zudem oft genug (gerade im Kirchlichen) sachlich mit unpersönlich gleichsetzte. Wirklich „sachlich", objektiv, wird die Kunst nur, wenn sie eben „der Sache“, dem objektiv Gegebenen entspricht, d. h. allen drei Aspekten des Menschen und der Kunst: sinnlich-klanglich, geistigformal, seelisch-ausdrucksmäßig. Deshalb erfolgt recht bald die Rückwendung zur lebendigen Kraft, zum zuchtvollen, geistbeherrschten Ausdruck. Das Verdienst der neuen Musik ist es, daß sie in ihren Meisterwerken zurückgefunden hat zur wirklich künstlerischen, aber auch sach-

gemäßen, innermusikalischen Ausdruckswelt. Wenn z. B. Strawinsky in seiner „Messe“ eine „absolut kühle, sich an den reinen Geist wendende“ Musik schreibt, die jeden äußeren „Ausdruck" ausschaltet, so ist genau dies wiederum Ausdruck im sublimierten, „tugendhaften“ Sinne, Aussage einer schöpferischen Idée und Empfindung.

Damit ist die Möglichkeit einer „Klassik“ der neuen Musik gegeben. Zwar wird bei jedem Kunstwerk einer der drei Aspekte an der Oberfläche liegen, aber vorhanden sind sie alle drei. Man vergleiche etwa Debussy mit Bach und Beethoven: Auch in ¿.r neuen Musik wird und muß das so sein.

Der neue Ausdruck beruht auf der Besinnung nach dem musikeigenen Material, dem Melos, dem Rhythmus und der Harmonik sowie auf dessen neuer Wertschätzung. Daß dieses Material neu geordnet wird, ist klar in einer Zeit so grundlegender neuer Erkenntnisse im Weltbilde. Diese Neuordnung macht eben das (technisch, materiell) Neue aus. Wiederum kann es sich weder um Originalitätshascherei noch um Epigonentum handeln, denn aus beiden wird keine Kunst. Insonderheit kann die Kirche weder Experimentiersaal noch Museum sein. Der Einwand, daß die Kirche ein weites Herz habe, vieles dulde und „guten Willen“ anerkenne, ist ebenso dumm wie falsch. Zu allen Zeiten sind es diese zwei Sorten Menschen gewesen, die der Kirchenmusik geschadet haben, und ihretwegen mußte sich die Kirche immer wieder wehren. „Zeitgenossen“ sind sie alle, aber „zeitgenössisch“? Das ist doch nur der, der über seiner Zeit steht, indem er ihre Anliegen, Bedürfnisse und Aussagen geistig erfaßt (wenn auch nur intuitiv) und sie in der neuen Sprache der Zeit auszusprechen versteht. Kommt dazu jene „dritte Kraft der Verbindung“. die der wortgebundenen, insbesondere der kirchlichen Musik innewohnt, jenes höhere Dritte, um welches das Ganze die Summe seiner Teile überragt. Diese Kraft ins Werk zu bannen, das vermag bloß der echte Meister. Auch das ist ein Anliegen der neuen Kirchenkunst.

Eine dritte Rückbesinnung hat die neue Kirchenmusik erfahren: Sie weiß, daß sie gebunden ist, nicht nur an das Wort, vielmehr an den Geist des Dienens. Der Epigone will nicht dienen, eher der Dilettant, der Kantor im alten Sinne, der für seine Bedürfnisse schreibt. Wieviel Schönes mag darunter sein, echt in der Haltung, neu in der Art: Würde sich nicht der Geist des Dienens darin finden, so verfiele dieser Kompositeur dem Geiste des Startums, welches die neue Kirchenmusik längst dem Scheiterhaufen aller betörenden und betörten Primadonnenhexen überliefert hat. Uebri- gens handelt es sich in erster Linie nicht einmal darum, die berühmten „einfachen Chorverhältnisse“ zu be,.dienen“, sondern um den künstlerischen Dienst an der Liturgie als solcher. So können schwierige Werke echteren Dien-mut zeigen als schablonenhaft angefertigte Quintenprodukte des. zeitgenössischen Epigonen und Kurpfuschers. Was Kirchenmusik neu macht,: ist heute, musikalisch gesehen, die Neu-, heit und Echtheit der Sprache und, liturgisch betrachtet, die dienende Haltung wahrer Kunst.

Ein absolut einwandfreies Kriterium der Kirchenmusik ist gegeben, wenn Pius X. feste stellt, daß die wahre Kirchenmusik sich in ihrer „musikalischen Form, ihrer ideellen Inspiration und ihrer Atmosphäre" gregoria- nxSC.len Geist atmet. Tatsächlich ent- sprj nt die neue Linearität in hohem Maße den melodischen Bogen des Chorals. Klar, daß diese Choralnähe wiederum nicht rein äußerlich sein kann, soll sie nicht zur Totgeburt führen. Sie entspringt vielmehr eitler verwandten Geisteshaltung.- Es geht hier um Konstruktionsprinzipien, wie z. B. melodische Intervallbehandlung, Bogenform der Linie und vor allem um die Wortbehandlung. Handelt es sich doch nicht um ‘absolute Musik mit unterlegtem Text, sondern um Sublimierung des Wortes selbst, und hier wieder nicht um das „Malerische“ des Einzelbegriffes, sondern um die Gesamtstimmung des Textes, um seinen Sinn. Dabei aber wird und muß die Wort f o r m in ihrer Klanggestalt zum Recht kommen, wie das eben der Choral so vollendet erreichte und wie es den Meistern der Vokalpolyphonie noch eigen war. Aus solcher Text- und Melosbehandlung wächst von selbst das rhythmisch Neue heutiger Kirchenmusik, sei es jenes hieratische Chorparlando in Strawinskys Messe oder jene Beschwingtheit neuer Linien, die Wir so oft bei jüngeren Meistern treffen (David, Heiller, Jolivet, Schroeder usw.). Ganz besonders wichtig wird die formale Gestaltung. Der Choral kennt eine Fülle von Formen (und Stilen), wie sie die klassischromantische Musik nie ihr eigen nennen konnte. Es war sicher ein Fehler der Vergangenheit, wenn sie glaubte, den liturgischen Text in klassische Liedform u. ä. pressen zu müssen. Für die neue Musik sind Liturgie und Choral Vorbild und Ausgangspunkt, zusammen mit der inneren Notwendigkeit musikalischer Entwicklung.

Was neue Musik vom Choral notwendig unterscheidet, ist die Harmonik. Da sie aber aus dem Zwang und der Logik der Linien und Rhythmen geboren wird, entsteht ein Ganzes, das in seiner Haltung durchaus der Gregorianik entspricht. Gerade ihre Ausdruckskraft schafft gregorianische, liturgische Atmosphäre. Gibt es v rsrju de.m ctili ticcUp Rirhtiincren, auch für unsere Zeit wird em moderner Bach ,™„r-

men, der alles zusammenfaßt. Uebrigens ist eine

Klärung - in der Kirchenmusik schon bedeutend weiter gediehen als in der profanen Kunst. Von ihr könntp wieder das Heil kommen.

Weil die heutige neue Kirchenmusik vom Choral kommt, weil das tägliche Brot des neuen Kirchenmusikers die Liturgie ist, deshalb wird sie von selbst zu jenem Dienst bereit, der ihren Adel begründet. Von dorther allein ist sie auch zu verstehen. Von dort wird es begreiflich, daß sich. Stra.winsky wehrt gegen konzertmäßige Aufführung seiner Messe und sich einsetzt für ihre Verwendung in der Liturgie, wobei er richtig darauf hinweist, daß seine Messe ohne vollständiges Proprium gar nicht „fertig“ ist. Genau so war und ist es mit Werken aus der Palescrina-Zeit. Daß aber der zeitgenössische Kirchenmusiker- neue Wege gehen muß, ergibt sich daraus, daß ihn Gott in diese neue Zeit hiiieingesteHt hat. Lebte er nicht darin und gestaltete er nicht daraus, handelte er gegen Gottes Willen. Gottes Zeit ist unsere Zeit. Eine Freude, darin zu leben!

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