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Digital In Arbeit

Von tänzerischer Gestaltung

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Ein telephonischer Anruf … der Hörer fällt mir fast aus der Hand. Habe ich recht gehört? „Le sacre du printemps“, Strawinskys Frühlingsweihe — Wunschtraum seit Jahren. Und nun Erfüllung?

Die Phantasie beginnt zu arbeiten. Ein Ge- woge von bewegten Formen steigt vor äem inneren Auge auf. Räume, Landschaften und Menschen in Bewegung. Vorsichtig tastet man sich an das Werk heran, versucht es von allen Seiten her einzukreisen, es in sich aufzunehmen.

Man entdeckt und entwirrt den roten Faden, der sich als Idee durch das Ganze zieht, den Leitfaden, mit dessen Hilfe man nun selber ein vielformiges Gewebe spinnen soll, das — wenn auch vom Geist der Musik inspiriert und getragen — ein Eigenleben gewinnen- muB, - um seine szenische: Berechtigung auszuweisen. Man träumt und plant, begeistert sich an den eigenen Einfällen, entwirft in schnellen Zügen eine tänzerisch bewegte Szene, die man gleich darauf wieder verwirft, und nähert sich dabei Schritt für Schritt dem Augenblick, in dem das Reich der Phantasie dem Raum der Wirklichkeiten weichen muß.

Das ist die erste Phase, die der Tanzgestalter zu durchmessen hat. Die erste und wohl auch immer die beglückendste! Denn hier ist er noch ungehemmt und ungebunden. Hier darf er der eigenen Phantasie freien Lauf lassen. Denn noch steht er nicht unter dem Gesetz von Form und Zahl, das ihm das musikalische Werk in seiner Einmaligkeit und Endgültigkeit auferlegt.

Die eigentliche und für die tänzerische Gestaltung entscheidende Arbeit beginnt erst in der Auseinandersetzung mit dem Werk als unantastbarer, unabänderlicher musikalischer Kunstform.

Trotz der tiefgegründeten Verwandtschaft, die zwischen Musik und Tanz besteht, unterstehen die beiden künstlerischen Sprachen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten, in denen sie sich häufig begegnen, aber ebenso häufig auch voneinander abweichen. Welcher Choreograph kennt sie nicht, diese Konflikte, in die er sich gestellt sieht, wenn die beiden bisher so ausgewogen miteinander verlaufenden künstlerischen Linien plötzlich auseinanderbrechen? Für’ die Lösung einer solchen scheinbar geringfügigen Störung braucht es oft mehr Zeit und Ueberlegung, als für die Durchgestaltung eines sehr viel längeren tänzerischen Ablaufs nötig war.

Wer weiß um das Leid, um den stillschweigenden Verzicht des Choreographen, wenn dieser seine schönsten tänzerischen Einfälle der

Unumstößlichkeit der musikalischen Struktur opfern muß?

Wer ahnt etwas von dem Ringen um eine einzige Gebärde, um jenen einen kleinen Schritt, der den Uebergang von einem Thema zum anderen ermöglichen würde und sich nicht finden lassen will? Man weiß zwar, daß die organische Lösung sich eines Tages von selber einstellen wird. Aber die Zeit drängt, und den Luxus des geduldigen Abwartens kann man sich nicht mehr gestatten.

Denn inzwischen ist man längst in die dritte Arbeitsphase eingetreten. Die Werkproben haben begonnen, die Arbeit an und mit dem lebendigen Material, mit den Tänzern. Raumfragen werden festgelegt. Gruppierungen und ihre Auflösungen werden ausprobiert. Gliederungen und Phrasierungen müssen überprüft und rhythmische Abläufe geübt und wieder geübt werden. Und überall wird gezählt. Die Musiker zählen und die Tänzer zählen. Es geht um Taktwerte, Akzentsetzungen, Pausen. Man versteht sich nicht immer, aber man verständigt sich. Denn die Musiker zählen im Sinn der musikalischen Struktur, während die Tänzer von der körperlichen Bewegung, vom rhythmischen Atem aus zur Zahl gelangen.

Ernüchterung auf der ganzen Linie. Das Stadium, durch das jeder schöpferische Prozeß hindurchgeführt werden muß, wenn er zu einem künstlerischen Ergebnis gelangen soll. Voller Sehnsucht denkt der Choreograph an die Zeit des ersten Planens und Entwerfens zurück. Bis zu welchem Grad wird sich seine ursprüngliche Konzeption den realen Gegebenheiten und Auswertungsmöglichkeiten der Szene fügen müssen? — Kunst ist nicht Nachahmung. Sie ist Erfindung. Der Choreograph und Tanzregisseur ist keineswegs nur der Uebersetzer einer bereits bestehenden Kunstform in eine andere Sprache. Er ist darüber hinaus auch Erfinder und hat als solcher seine vollschöpferischen Fähigkeiten einzusetzen. Welcher Tanzgestalter möchte sich mit einer nur illustrierten Ausdeutung der Musik begnügen? Seine Aufgabe ist es, eine Ausdrucksform zu schaffen, die aus dem Geiste der Musik und aus dem Geiste des Tanzes gleicherweise gestaltet ist und sich im Miteinanderwirken der beiden künstlerischen Sprachen — im Hören und im Schauen — als organisch notwendiger Bestand der szenischen Einheit behauptet.

Es gäbe noch vieles über den Werdegang einer solchen für die Bühne bestimmten Arbeit zu erzählen:

über die Geduld, die nicht etwa nur der Choreograph den Tänzern gegenüber aufzubringen hat, sondern die in weit größerem Maße die Tänzer mit ihren Choreographen haben müssen;

über die schwankenden Arbeitstemperaturen, die die Skala von fanatischer Besessenheit bis zur mechanischen Funktion und umgekehrt durchlaufen;

über das Austanzen des durchkomponierten Werkes, das den Tänzern die Freiheit der persönlichen Aussage zurückgibt und dem Werk als solchem den lebendig pulsierenden Atem, den es braucht, um wirken zu können;

und nicht zuletzt über den schmerzlichen Augenblick, in dem der Choreograph das ihm ans Herz gewachsene Werk abgeben muß. Er weiß um seine Schwächen und Unzulänglichkeiten. Aber er weiß auch, daß er nun nichts mehr ändern darf, sondern sich mit dem Erreichten begnügen muß. Das Werk hat sich vor seinen Augen verselbständigt, und er tritt davor zurück in der Erkenntnis, daß seine Arbeitsleistung und sein persönlicher Einsatz nicht mehr und nicht weniger bedeuten als „Dienst am Werk".

Wenn ich den Versuch unternommen habe, mit dem hier Gesagten ein wenig hinter die Kulissen zu leuchten, so geschieht dies nicht so sehr in eigener Sache, als vielmehr aus dem Wunsch heraus, auch dem Außenstehenden einmal einen Einblick in die tänzerische Werkstatt zu geben. Vor allem aber, um den Tänzern und Choreographen, die jahrein, jahraus an unseren Theatern mit aller ihrer beruflichen Elingabe arbeiten, den Dank abzustatten, der ihnen gebührt.

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