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WAS IST TOTALES THEATER?

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Wie sich die Welt um uns in einer Wandlung befindet, die es gleich umfassend vielleicht nur zur Zeit des Übergangs von der Jäger-zur Ackerbaukultur gegeben hat, ebenso verändert sich auch ihre Spiegelung auf der Bühne. Jene Dramaturgie, die auf den aristotelischen Festlegungen — „Die Fabel ist das erste“ als Leitsatz — aufbaut, hat nicht mehr ausschließliche Geltung wie all die Jahrhunderte hindurch. Das Drama sucht nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für neue Gehalte.

Die vor drei, vier Jahrhunderten entstandene Trennung der Bühnenkunst in Schauspiel, Oper und Ballett bedeutete einen Zerfall, einen Verlust an Ursprünglichkeit. Demgegenüber hatte die antike Bühne totales Theater geboten: der Chor sprach, tanzte, sang. Die aristotelische Struktur der Stücke war davon unabhängig. Mehr und mehr ist nun heute das Streben bemerkbar, die Bühnenkunst im Sinn solch eines totalen Theaters zu erneuern. Doch stellt dies auch für unsere Zeit kein völlig neues Ziel dar. Richard Wagner hat schon vom „Kunstwerk der Zukunft“ eine Vereinigung der „drei urgeborenen Schwestern“ Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst gefordert und hiebei erklärt: „Erst wenn jede sich selbst nur in der anderen zu lieben vermag, erst wenn sie selbst als einzelne Künste aufhören, werden sie alle fähig, das vollendete Kunstwerk zu schaffen.“ Nicht ein Nacheinander der Künste in der Aufführung, ein Einschieben von Tanz- und Musikeinlagen, schafft also das totale Theater, sondern ihr Ineinander.

Heute wird diese Erneuerung der Bühne von ihren Ursprüngen her vor allem in Paris erstrebt, womit es sich erklärt, daß die „Chinesische Oper“ an der Seine einen geradezu sensationellen Erfolg errang. Ihre tausendjährige Kunst bietet zugleich Theater, Oper, Ballett, Pantomime, Akrobatik, Jongleurkunst. Als Paul Claudel fünfzehn Jahre als Diplomat in China weilte, regte ihn diese Bühnenkunst dazu an, Stücke zu schreiben, in denen sich bei der Wiedergabe Dialog, Musik, Tanz, Gesang, Schreie, unartikulierte Stimmen, Gesten, Mimik zu einem Werk des Geistes vereinen. Bedeutungsvoll war es wohl für ihn auch, zu sehen, wie die Chinesen einzig durch ihre Kunst des Mimischen — und zwar durch die körperliche Reaktion auf fiktive Dinge der Außenwelt — die leere Bühne in unserer Phantasie mit eben diesen Dingen zu erfüllen vermögen.

Claudel erklärte, der Geste scheine keiner der modernen Schauspieler auch nur den geringsten Wert beizumessen, ja er glaubte im Bewegungsmäßigen den Urantrieb zu allem Theaterspiel zu erspüren und traf sich hierin mit dem jungen Jean-Louis Barrault, der einst, wie Marcel Marceau, Schüler von Etienne Decroux, dem Erneuerer des Mimodramas, war. Gleich die erste Unterredung der beiden ergab die Übereinstimmung ihrer Ansichten, vor allem über den Wert der Geste und die Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers. So war es Barrault, der nun als erster wieder auf den Brettern totales Theater bot. Vereinte Molieres „Bürger als Edelmann“, immer wieder aufgeführt, als „Ballettkomödie“ den gesprochenen Text mit getanzten Divertissements, kostümierten Ballettszenen und Arien mit Orchesterbegleitung, brachte man nun „Psyche“, eine „Tragödie mit Ballett“ von Moliere, Corneille und Quinault zur Wiedergabe, die eine besondere Entfaltung des Balletts erfordert, so ging Barrault im Verwenden neuer und sehr alter bühnenmäßiger Ausdrucksmittel weit darüber hinaus.

Mit Claudels „Christophe Colomb“, nun als Schauspiel mit Musik, aber nicht mehr als Oper dargeboten — Komponist ist in beiden Fällen Darius Milhaud —, erreichte Barrault eine erste Erfüllung seiner Bestrebungen. Das Stück wurde in dieser Inszenierung zuerst im Jahre 1953 bei den Festspielen in Bordeaux, dann im Theätre de Marigny vorgeführt und läuft derzeit in Barraults Theätre de France, dem ehemaligen Odeon. Von Anfang an ist da alles fluktuierende Bewegung, die Musiker, die Choristen betreten schwatzend über die Bühne weg den Orchesterraum, auch die Chorleute nehmen hier vor der Rampe locker verteilt Platz, unterhalten sich, sprechen in den Dialog auf der Bühne unbekümmert hinein, der Ansager sitzt nicht steif feierlich an der Bühnenrampe, er bewegt sich mitten unter den Darstellern. Außer den handlungsbedingten Tänzen gibt es eine Szene, in der man Nereiden sieht, die sich durch Bewegungen in Wellen verwandein, und auch Barrault wird als junger Colomb, sich niederbeugend, Welle, scheint den Wind aufzufangen, sich unter seinen Stößen aufzubäumen und schaukelt dann wieder beruhigter weiter. Kolumbus war wohl recht eigentlich dem Wasser vermählt, muß er da für uns nicht selbst zur Welle werden?

Die große Bühne bleibt in ihrer Gänze leer, es ist nur ein riesiges, hoch aufragendes Segel da, das aber meist locker flattert. Dieses Segel, Symbol für das Lebenswerk des Kolumbus, wird zugleich zur unruhig sich bewegenden Projektionsleinwand für Farbfilme. Anfangs sieht man da undeutlich, vage ein Wolkengewoge, eine Hand greift in Rauchendes, Wirbelndes, schließlich erscheint eine sich drehende, nebelumhüllte Kugel. Die sinnbildliche Bedeutung ist unschwer zu erkennen: der Zugriff des Kolumbus erwies die Kugelgestalt der Erde. Ein zweiter Farbfilm ergänzt die Szene, in der Kolumbus den sterbenden alten Seemann wiederzubeleben versucht. Der Film zeigt die beiden Köpfe in Großaufnahme.

Die Sturmszene auf dem Atlantik mit dem Heulen des Orkans, mit den Rufen des Chors, mit dem gespenstisch sich blähenden, unter den Blitzen grell aufleuchtenden, dann wieder in Nacht versinkenden Riesensegel gehört zu den gewaltigsten Eindrücken der heutigen Bühne. Die Aufführung insgesamt ist eine Spitzenleistung des totalen Theaters, der sich kaum etwas vergleichen läßt. Ich sah sie vor kurzem. Obwohl nun diese Inszenierung, mit Unterbrechung, bereits seit dem Jahr 1953 gespielt wird, gab es am Schluß nicht nur unzählige Vorhänge, sondern auch ein Gebraus an Bravorufen. Das hatte ich bei einer Repertoirevorstellung im Sprechtheater noch nie erlebt.

Im Theätre de France erhält man mit dem Programm die „Cahiers de la Compagnie Made-laine Renaud — Jean-Louis Barrault“ im Umfang von 128 Seiten. In diesen Heften findet man stets Aufsätze von Barrault selbst, in denen er sich ausführlich mit den Problemen des heutigen Theaters, vor allem mit seiner Erneuerung von den Quellen her, auseinandersetzt. Das neunzehnte Jahrhundert und im besonderen die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, erklärt er da, habe psychologisches bourgeoises Theater gebracht, das lediglich ein partielles Theater sei; ein Kritiker bezeichnete es als das Theater der „Hände in den Taschen“. Diesem partiellen Theater setzt Barrault das totale entgegen. Benötigt man eine Herberge, sagt er, meine man das Innere dieser Herberge, damit eine Tür und als solche zwei Menschen, die ihre Arme lotrecht ausstrecken und die Hände oben gegeneinander abwinkein, so daß man darunter durchgehen kann. Der Schauspieler, so heißt es da, begnüge sich nicht mehr damit, die menschliche Natur mitten in den Dekorationen aus Holz und Leinwand darzustellen, er habe die gesamte Natur von den Tieren über die Pflanzen bis zu den Elementen und sogar noch die Dinge zu verkörpern. Er sei zugleich Mensch und Ding. Es ist unschwer einzusehen, daß sich damit für den Dramatiker reiche dichterische Möglichkeiten ergeben.

Ich wußte, daß Barrault einer jener Theaterdirektoren ist, die Autoren — im deutschen Sprachraum gibt es dies kaum — zur Ausarbeitung bestimmter dramatischer Vorwürfe ermuntern. Ich hatte auch gehört, er lenke die Aufmerksamkeit junger Autoren im besonderen auf die großräumigen Theater. Nun fragte ich ihn, weshalb denn kaum Stücke für das totale Theater geschrieben werden. Seine Antwort war ebenso eigenartig formuliert wie schlagartig gegeben: „Die Autoren wissen nicht, was ein Kopf, was ein Fuß ist.“ Und dann: „Ich schaue mit meiner Brust.“ Der Film, erklärte er weiter, wende sich an Auge und Ohr, das Theater aber an „le toucher“, an ein fast körperliches Berühren, sofern man alles Magnetische, Fluidale, Wellenartige in dieses „Materielle“ einbezieht.

Das Gespräch wandte sich anderen Problemen zu, jedenfalls erkannte ich, wie sehr Barrault das totale Theater durch den Schauspieler und seine ungenutzten Ausdrucksbereiche bedingt sieht. Vom Autor aber erwartet er, aus einer Einfühlung in die Totalpersönlichkeit des Schauspielers, durch das Wissen, „was ein Kopf, was ein Fuß“ ist, der Bühne die Entfaltung totalen Theaters im Sinn dichterischer Wirkungen zu ermöglichen.

Von ernstlichem Streben, solcherart die Ausdrucksmittel der Bühne zu erweitern, kann man nur bei Barrault, allenfalls bei dem einen oder anderen jüngeren Pariser Regisseur — etwa Jean-Marie Serreau — sprechen. Doch der Wunsch nach dem totalen Theater, nach einer Erneuerung durch das Bewegungsmäßige, wird vielfach auch außerhalb Frankreichs ausgesprochen. Schon Tairoff erklärte, die Pantomime — heute zu neue? Entfaltung gelangt — sei auf dem langen Weg der Theaterkunst immer wieder als „untrügliches und unwandelbares Kennzeichen der beginnenden Wiedergeburt des Theaters“ entstanden. Der Tänzer und Choreograph Kurt Joos erwartet vom Theater der Zukunft vor allem ein „stärkeres Zurgeltungkommen der Bewegung an sich und dadurch auch des Tanzes, der ja eine stilisierte und aufs Wesentliche gereinigte Bewegung darstellt“. Er denkt auch an eine Entwicklung des Musicals zur ernsten Dichtung. Und T. S. Eliot fragte: „Wenn es noch eine Zukunft für das Drama und besonders für das dichterische Drama gibt, wird sie nicht in der durch das Ballett gezeigten Richtung liegen?“

Gustav Seilner rät den jungen Autoren, die Verbindung von gesprochenem Wort mit Musik und Tanz zu suchen. Er spricht weiter davon, verborgene Wortinhalte und Akzente der Handlung durch Choreographie nicht zu unterstützen, sondern überhaupt dadurch auszudrücken. Oskar Fritz Schuh erstrebt eine Befreiung vom „dekorativen Ballast“ und verweist darauf, daß durch die Kunst des Schauspielers, durch die Bewegung, durch die räumliche Anordnung, durch Wort und Geste dem Zuschauer suggeriert werden kann, er sei in Asien, Indien, auf dem Mond oder in der Hölle.

Auch einige Sätze von Heinz Hilpert weisen in diese Richtung: „Denken wir an ein Kind, das Eisenbahn spielt. Was ist das Hinreißende daran? Ein solches Kind ist Schiene und Lokomotive, Dampf und Bewegung, Rad und Schornstein, Führer und vorangetriebene Masse, ist die Landschaft, die vorbeieilt, ist stampfender Kolben und gezogener Wagentrain — ist ganz in allem Gespielten mitten inne und ganz Suggestion, ist Inbild und Darstellung — mit einem Wort: Spiel — nutzloses Tun, zwingend und beglückend. Das ist der Zauber des Theaters.“

Diese Feststellungen haben aber bisher kaum zu Realisierungen geführt. Allgemein bekannt ist das requisitenlose Theater von Thornton Wilder. Damit wird das Bewegungsmäßige stärker ins Bewußtsein gerückt, doch bleibt der „Sinn“ der Bewegung der gleiche wie beim Spiel mit Requisiten. Den Film hat zuerst Piscator auf der Bühne eingesetzt. Das war in den zwanziger Jahren. Auch andere Regisseure zeigten in der Folge mit Hilfe des Films illustrativ, was die Bühne nicht vorführen konnte — gewaltige Menschenmassen, große Schlachtszenen — oder man blendete die Vorgeschichte filmisch ein. Soweit mir bekannt, gab es aber keine Simultandarstellung eines Bühnenvorgangs durch den gleichzeitig laufenden Film, keine symbolisch-optische Deutung durch ihn wie bei Barrault.

Manche der Aufführungen antiker Tragödien können heute wieder dem totalen Theater zugezählt werden, besonders die Wiedergabe durch das Athener Nationaltheater. Auch einzelne Stücke von Goldoni, in der Art der Commedia dell'arte gespielt, zeigen in der akrobatischen Verkörperung der Dienerfiguren Ansätze zu neuerlicher Erweiterung des Bewegungsmäßigen auf der Bühne. In dem Stück „Zur Zeit der Distelblüte“ von dem jungen Moers kommt den Bewegungen der Darsteller eine besondere Bedeutung zu. Ansonsten muß man wieder auf Frankreich verweisen, etwa auf einzelne Ansätze bei Ionesco. Totales Theater bietet das Stück „Der schwarze Fisch“ von Armand Gatti, einem Autor, der mit einem anderen Werk vom Theätre National Populaire herausgebracht wurde.

Weshalb aber entfaltet sich diese umfassende, von vielen als erstrebenswert erachtete Bühnenkunst so überaus zögernd? Der Wiedergabe stehen Schwierigkeiten entgegen. Man braucht nur etwa Jean Vilar als Hermoerate in „Le Triomphe de l'Amour“ von Marivaux gesehen zu haben, um zu erkennen, daß auch nur diese verhältnismäßig geringe Beweglichkeit den meisten und im besonderen unseren Schauspielern völlig mangelt. Die Stücke aber fehlen wohl — sieht man von Claudel, allenfalls von Gatti ab —, da das totale Theater eine für unsere Zeit neue innere Einstellung des Autors verlangt, die vom Psychologischen weg, dem wir noch sehr verhaftet sind, in andere Seelengebiete und in erheblichere Tiefen reicht.

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