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WEGBEREITER FLAHERTY

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Robert J. Flaherty, geboren 1884 in Michigan, gestorben 1951, drehte auf seinen Arktisexpeditionen Amateurfilme, begann mit „Nanuk — der Eskimo“ seine große Karriere und wurde zum Wegbereiter zahlreicher Filmstile, zum Lehrmeister bedeutender Dokumentaristen, wie John Grier-son, Basil Wright, Joris Ivens, Irving Lerner und Richard Leacock. Fünf abendfüllende Dokumentarfilme nur drehte er allein, darunter zwei für die Filmindustrie — Moana (1923 bis 1925), Männer von Aran (1932 bis 1934) —, die anderen wurden von staatlichen — The Land (1939 bis 1942) — oder privaten Gesellschaften — Nanuk (1919 bis 1921), Louisiana Story (1946 bis 1948) — subventioniert. „Tabu“ entstand 1929 bis 1931 in gemeinsamer Arbeit mit Murnau, „Industrial Britain“ 1931 mit Grierson; „Weiße Schatten“, 1927, wurde Von Van Dyke fertiggestellt, der „Elephantenboy“, 1935 bis 1937, von Zoltan Korda.

Flaherty hatte bereits mit seinem ersten Film „Nanuk“ dem Dokumentarnimschaffen eine neue Richtung gegeben. In Stil und Form wendete er sich ab vom herkömmlichen „Kulturfilm“. Zunächst sind seine Filme ganz einfach Berichte über den hohen Norden oder die Südsee, was sie aber auszeichnet, ist besonders die Arbeitsweise Flahertys, die sich in ihnen dokumentiert.

Flaherty verbrachte Jahre unter den Menschen, über die er berichten wollte, er versuchte, das ihr Leben Bestimmende und Beherrschende zu ergründen, und einzig dies, was er dort finden würde, darzustellen. Er nutzte dabei noch nicht die versteckte Kamera, durch seinen dauernden Kontakt gewöhnte er die Menschen daran, „sich selbst zu spielen“. Dabei ließ er sie nicht bestimmte Bewegungen oder Handlungen ausführen, sondern filmte sie in ihren natürlichen Lebensrhythmen, ließ sie ihre Arbeit so verrichten, wie sie es gewohnt waren.

Bei seiner Filmarbeit war er stets auch Kameramann, war sich bewußt, daß das technische Auge anders sieht als das Menschliche; nicht das Sujet filmte er, sondern dessen Reflexion auf den Filmstreifen.

Flahertys Filme berichten vom Kampf der Menschen mit der sie umgebenden Natur, Schnee und Eis bei „Nanuk“ und dem Meer bei den „Männern von Aran“. Für seinen Film „Moana“ suchte er dieses Thema auch in der Südsee, fand aber statt Kampf mit der Natur nur ein friedliches Inselvolk, dessen ganze Problematik sich in Tanz und Riten erschöpfte. Bei diesem Film versuchte er dann den paradiesischen Zauber einer Urlandschaft einzufangen, mit einer für damalige Begriffe erstaunlich wendigen Kamera. Einmal nur, bei „The Land“, geht Flaherty auf soziale Mißstände ein. Er schildert das Elend amerikanischer Farmer, fragt jedoch nicht nach den soziologischen Hintergründen, was später dann Vertreter der britischen Dokumentarfilmschule als ihr Hauptanliegen herausstellen, wie beispielsweise Grierson, der dann auch Flaherty der Wirklichkeitsferne bezichtigt. Wenn Flaherty noch 1934 die „Männer von Aran“ dreht, alle ihre Kämpfe mit den harten Lebensbedingungen aufzeigt und die Funktion des Staates unberücksichtigt läßt, so bleibt er gewissermaßen auf freier Wildbahn, es geht ihm darum, die bereits sich auflösenden Eigenarten und Selbständigkeiten eines Volkes festzuhalten, und es stört ihn nicht, wenn er die Fischer von Aran noch einmal auf Haiflschjagd hinausziehen läßt, obwohl das längst nicht mehr ihre Haupterwerbsquelle war, oder wenn er Nanuk noch einmal seinen Speer hervorholen läßt, der in seinem modernen Leben keine solche

Rolle mehr spielt. In der wenig kritischen Schilderung der Lebensgewohnheiten eines Volkes sucht er Achtung und Verständnis für solche Menschen zu erwecken, die noch in primitiven Gesellschaftsformen leben.

Flaherty räumt dem Dokumentarfilm eine Handlung ein, dabei prägt er einen eigenen Begriff der Filmstory. Er sagt' „Eine Story muß aus dem Leben eines Volkes kommen, nicht aus den Handlungen einzelner.“

Den Anspruch einer Spielhandlung beziehungsweise die Verbindung von Dokumentarfilm und Story finden wir weitgehend in der „Louisiana-Legende“ realisiert. Hier wird die Primitivwelt des kleinen Jungen der technischen Welt der Bohrtürme gegenübergestellt.

Er konzentriert sich bei seinen Arbeiten auf einige Individuen, nicht auf anonyme Gestalten. Häufig stellt er das Leben einer Familie dar; legt dabei aber das Schwergewicht nicht auf die persönlichen Konflikte untereinander, sondern auf ihre Verbundenheit in der gemeinsamen Arbeit, ihr Zusammenstehen gegenüber dem gemeinsamen Feind, der Naturgewalt. Er erreicht allgemeingültige Aussagen über die Haltung eines Volkes.

Wie anders dann jene Filme wirken, die eine Story mit Held und Heldin aufbereiten mit Sitten und Gebräuchen eines fremden Volkes, zeigen die Filme „Tabu“ und „Weiße Schatten“. /Puch sie versuchen die Handlung auf das Leben eines fremden Volkes zu beziehen, entwickeln sie jedoch nicht aus den Volksbräuchen. Beide Filme spielen in der Südsee; beide wurden gemeinsam mit Flaherty begonnen, jedoch von Murnau beziehungsweise Van Dyke allein fertiggestellt, und schon finden sich in ihnen alle Hollywoodklischees der damaligen Filme und derjenigen, die nach dem gleichen Schema entstehen sollten: schöne Jünglinge und Mädchen tummeln sich in tosenden Wasserfällen, verbergen sich hinter Blättern; große Augenaufschläge, eine bittersüße Liebesgeschichte, Schiffbrüchige auf hoher See und Hulahula-Romantik.

Die Leipziger Dokumentarfllmwoche, die alljährlich während des Wettbewerbes einem bedeutenden Dokumentaristen eine Retrospektive widmet — in den letzten Jahren waren dies Joris Ivens, Cavalcanti, Dsiga Wertow —, hatte dieses Jahr des Werkes Flahertys gedacht, dem das Doku-mentarfllmschaffen so viele Einflüsse verdankt. Man zeigte fast alle Filme, bei denen Flaherty mitgearbeitet hatte, ehemalige Schüler und Mitarbeiter waren gekommen, um Zeugnis über seinen Einfluß auf ihre Arbeiten abzugeben. Bei den Gesprächen und Diskussionen blieb jedoch nicht unerwähnt, daß er, der Idealist und Optimist, in seinen Filmen stets die Schönheit der unberührten Natur, das einfache Leben der unkultivierten Landschaften und Menschen bewundert hatte, daß er aber kaum in das diese Urwelt begleitende Elend vorgedrungen sei.

Flaherty, der seinen Filmen eine Handlung unterlegt hatte, dem eine weitgehend selektive Arbeitsweise zu eigen war, kann wohl kaum als der „Erfinder“ des Cinema Verite bezeichnet werden, zu dem ihn viele machen wollen. Wohl aber wäre die englische Dokumentarfllmschule und das Cinema Verite ohne seine wegbereitende Tätigkeit nicht denkbar. Darüber Zeugnis abgelegt zu haben, war das besondere Verdienst der Leipziger Filmtage. Das staatliche Filmarchiv hat aus Anlaß der Retrospektive eine reiche, 300 Seiten umfassende Dokumentation als Broschüre vorgelegt, die beim Henschelverlag Berlin erscheint.

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