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Welt der möglichen Notwendigkeiten

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Erräumen", als die Tätigkeit des Architekten, aber auch die Funktion von Architekturteilen bezeichnendes Verb, ist ein Schlüssel-begriff der Sprache, die Otto Antonia Graf zur Mitteilung seiner Anschauung von Kunst entwickelt hat. „Erräumen", darin schwingt vieles mit, etwa das Gegenteil von Verräu-men, also ein Prozeß, der etwas hervor, etwas zum Vorschein vorbringt. Als einen Prozeß, der etwas zum Vorschein bringt, sieht Graf nicht nur die Architektur, sondern auch seine betrachtende Arbeit. ■

Seine monumentale Otto-Wagner-Publikation hat sich nach zwei Bänden über „Das Werk des Architekten" von Wagner gelöst. „Die Einheit der Kunst - Weltgeschichte der Grundformen" hieß bereits der dritte Band, der vierte, „Sicard und van der Null - Zu den Anfängen der Moderne" heißt der vierte und vorletzte, der die Seitennumerierung des dritten fortsetzt, was andeutet, daß es sich hier eigentlich um ein neues, weiteres Werk handelt.

Es hebt, ähnlich wie Otto Antonia Grafs Frank Lloyd Wright gewidmete Publikation „Die Kunst des Quadrats", vom sicheren Boden der konventionellen Architekturgeschichte ab. Auch hier wird konkrete Architektur, nämlich die Arbeit der in Wien tätigen Architekten August Sicard von Siccardsburg und Eduard van der Null, zum Ausgangspunkt einer Reise in spekulative Gefilde. Dabei spielt, unter anderen, nicht nur die von den beiden gemeinsam errichtete Wiener Oper, sondern auch - ein weiteres in Zusammenarbeit entstan-des Werk - das Wiener Arsenal eine wichtige Rolle.

Architekturgeschichte ist auch bei Graf Geschichte eines Entwicklungsprozesses, aber - unter der Voraussetzung, daß ich seine Gedankengänge richtig nachvollziehe - Geschichte der Hervorbringung von archetypisch Vorhandenem, also des mit der Schaffung der Welt nicht so sehr als künftige Möglichkeit, sondern schon eher als Notwendigkeit Angelegten. Der Künstler erkennt das Notwendige und bringt es hervor, entreißt es dem Nichts, holt es vom Stern der un-geborenen Möglichkeiten herunter, verhilft ihm, Schöpfer und Geburtshelfer in einem, zur Wirklichkeit. Architektur wird in dieser Sicht wie in der Musik eine Symphonie aus einem relativ einfachen Grundmotiv entwickelt.

Dabei sind, so sieht es Graf, Gebäude und ganze Gebäudekomplexe aus geometrischen Grundformen hergeleitet. In einem (allerdings tatsächlich außerordentlichen) ornamentalen Metallgitter fand er Frank Lloyd Wrights Formenkanon bereits in nuce angelegt. Im vierten Band der Wagner-Publikation schreibt er über die Grundstruktur des Arsenals: „Die Zusammenhänge systematischer Art werden von van der Null und Sicard zum Prinzip und Inhalt der Darstellung gemacht. Das fast zu einfach wirkende Achteck und sein Genosse, das Sechseck ... bedürfen zuerst des Durchdenkens ... , damit die Analyse von Arsenal und Oper in einem möglich und darüber hinaus klar wird, wie die Architekten vorgehen, wenn sie eine riesige Anlage ... aus dem Anfang hervorgehen lassen, der ein recht banal scheinendes Geländer aus 26 Vierpässen im Kreis ist: aus dem abgerollten Maßwerk kugelt „Wien um 1900" haufenweis hervor. Der Künstler sieht und zeichnet die Möglichkeiten, die in jeder Form wahrgenommen werden und fügt der weltgeschichtlichen Transform eine neue Variante hinzu, der Kunsthistoriker hingegen bemerkt sie nicht..."

Grafs Verfahren ermöglicht nicht nur gewaltige historische Bögen, überraschende Querverbindungen über Jahrtausende hinweg, es zwingt sie geradezu herbei. Sie werden mit Hunderten Abbildungen dokumentiert und mit über 1.700 „Figuren", Handskizzen des Autors, anschaulich gemacht. Otto Antonia Grafs Kunst der Reflexion hat eine starke esoterische Komponente. Er errichtet - oder erkennt - über dem sichtbaren Teil der Werke eine Welt der Idealgestalten.

OTTO WAGNER - BAND 4:

Sicard und van der Null. Zu den Anfängen der Moderne. Von Otto Antonia Graf, höhlau Verlag Wien 1994. 610 Seiten, 556 Abbildungen, 697 Figuren, Ln-, öS 1.280,-

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