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Weltmusikfest der offenen Herzen

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Die „Internationale Gesellschaft für Neue Musik" tagte in Israel

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Die „Internationale Gesellschaft für Neue Musik" tagte in Israel

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Tel Aviv, im Juni 1954

Da diesjährige Musikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM), nunmehr ihr achtundzwanzigstes seit dem Salzburger Gründungsjahr 1923, fand im Juni dieses Jahres in Israel statt. Wie zu erwarten war, wurde es ein Fest ganz besonderer Art. War es doch das erste Mal, daß die Gesellschaft, deren 27 Sektionen heute in der ganzen Welt für die Propagierung und praktische Pflege neuer, noch unbekannter Musik wirken, den europäischen Erdteil verlassen hat. Und es ist auch kein Zufall, daß die Wahl auf Israel fiel. Die Gesellschaft dokumentierte damit nichts weniger als die Anerkennung Israels als eines kulturell ambitionierten Landes. Zugleich bewies dieser Schritt hinaus in die Welt, daß es heute nicht mehr möglich ist, auch auf dem Gebiete der Musik wie schon längst in allen übrigen Zweigen des menschlichen Lebens die außereuropäische Welt und ihre Bemühungen um eine kulturelle Mitarbeit zu übersehen. Europa ist, wenn auch weiterhin ein bedeutender, so doch nur mehr ein Teil einer einheitlichen oder doch wenigstens zu dieser Einheit hinstrebenden Kulturwelt. Inwieweit das Fest, das sich zum erstenmal stolz „W eltmusikfest" nannte, diesem Ziele der kulturellen Einheit in Wahl und Zusammenstellung der aufgeführten Werke gedient hat, ist freilich eine andere Frage.

Israel ist ein junges Land, ein Land der Pioniere. So ist auch vor allem die in den korporativen Siedlungen, den Kibutzim, Heranwachsende Jugend der Träger einer neuen Kunst, einer jungen Musikgesinnung. Die Kibutzim haben eine eigene zentrale Kulturstelle, die Dirigentenkurse und Fortbildungsseminare durchführt. Hier wird vor allem viel gesungen, sehr viel Bach und Händel. Hier kann man am Gedenktag des Warschauer Getto- Aufstandes den Schlußchor der Matthäuspassion in hebräischer Sprache hören. Die Kibutzim besitzen zwei Orchester, die durch die Siedlungen reisen und auch durch die Auffanglager der Einwanderer. Dies junge Volk kann es sich leisten, ohne Vorurteile, ohne psychische Belastung, die das Leben so vieler Einwanderer noch im neuen Vaterland begreiflich beschwert, in die Welt zu blicken. Man hat einmal in kleinerem Kreis jungen, in Israel aufgewachsenen Menschen Wagners „Siegfried" vorgespielt. Man muß wissen, daß Wagner und Richard Strauss npeh immer boykottiert werden, obwohl eine Umfrage bei den Abonnenten des Philharmonischen Orchesters ergab, daß 80 Prozent für die Aufhebung des Verdikts sind. Nun, die israelische Jugend hat Wagners Musik, so wird erzählt, naiv, ohne jede Gedankenassoziation aufgenommen. Sie empfand „Siegfried" als ein schönes Märchen und erlebten Wagners Musik als das, was sie ist: als Kunst, die in dieser Welt existiert — und aller Welt gehört. — Hier ist genau der Anknüpfungspunkt an ein für den jungen Staat völlig neues Ereignis: an das Musikfest einer Organisation, die die ganze Welt umspannt.

Natürlich sind die Träger des Festes, die Ausführenden, die Orchester und fast alle Solisten Künstler aus den Reihen der älteren Einwandererorganisation gewesen. Sie bilden selbstverständlich das Rückgrat des israelischen Musiklebens, das höchst lebendig ist, aber natürlich, wie alles in diesem Lande, vor großen Problemen steht. Es fehlen zum Beispiel durchweg Konzertsäle. Die Konzerte des Festes fanden, ob in Haifa oder in Jerusalem, in Kinosälen mit meist schlechter Akustik statt. Selbst Tel Aviv, diese moderne, im Zeitraum von 40 Jahren buchstäblich aus der Sandwüste hervorgezauberte Stadt mit heute nahezu 400.000 Einwohnern besitzt keinen eigenen Konzertsaal. Da die zur Verfügung stehenden Säle zu klein sind, ist das Philharmonische Orchester, das 1936 von Huberman gegründet worden war, gezwungen, jedes Abonnementkonzert nicht weniger als neunmal zu geben, sechsmal in Tel Aviv selbst, zweimal in Haifa, einmal in Jerusalem. In Besuchereiffern ausgedrückt: jedes Konzert wird von mehr als 10.000 Menschen gehört, eine erstaunlich hohe Zahl, zumal angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten eines Großteils der Bevölkerung.

Diese Schwierigkeiten machen es vielleicht auch verständlich, daß die Philharmoniker, die sich zu einem hohen Prozentsatz selbst erhalten, jedoch aus einem amerikanischen Fonds Zuschüsse bekommen, so gut wie keine moderne Musik pflegen. So war es auch kaum verwunderlich, daß die neue Musik, die das Fest der IGNM nun plötzlich in großen Dosen verabreichte, in der älteren Generation kaum Anklang fand. Anders bei der Jugend. Für sie war es die erste Gelegenheit, übet die eigenen Grenzen zu blicken. Vielleicht war sie sich der Problematik der meisten Werke und auch ihres großteils geringen Wertes kaum bewußt. Aber es waren Grüße aus einer ihr fremden Welt. Sie nahm sie als Geschenke entgegen. Sie erschien in Scharen, die Jugend Israels. Natürlich spielten nationale Momente hier wie nirgendsonst eine große Rolle: auch das stolze Gefühl, Gastgeber sein zu können, war unverkennbar vorhanden. Es sprach auch aus den zahlreichen Reden der Bürgermeister von Haifa, Jerusalem und Tel Aviv, die die Gäste begrüßten. Es wurde nichts versäumt, die Gäste zufriedenzustellen. Man bewirtet sie, man verwöhnte sie. Man zeigte ihnen fast das ganze Land. Und überall wurden Freundschaften geknüpft, alte in oft erschütternder Wiedersehensfreude erneuert. Es war ein Musikfest der offenen Herzen. Und der Wunsch, bald mit aller Welt in Frieden leben au können, auch mit Deutsch-

land, war allgemein. Uebrigens hatte auch die deutsche Sektion einen Delegierten entsandt. Neben dem Japaner Yoritsune Matsudeira, dessen Orchestervariationen über ein altjapanisches Volkslied das eigentliche künstlerische Erlebnis des ganzen Festes darstellten, stand er im Vordergrund des Interesses und der Neugier.

Leider muß sich der Berichterstatter, dessen Herz noch voll ist von schönen Erlebnissen in fremdem Lande und mit gastfreien Menschen, nun in den Kritiker verwandeln. Das Gesamtergebnis des Festes wirft nämlich die Frage nach der heutigen Existenzberechtigung der IGNM auf. Das System, aus dem Schöße der Gesellschaft, ihrer Sektionen und Mitglieder alljährlich Musikfestwerke zu wählen (wenn auch am Schlüsse des Ver- fahrens durch eine internationale Jury), birgt die ‘ große Gefahr der Inzucht, der Einseitigkeit in sich. . Fast jeder der in Israel aufgeführten Komponisten ist, meist an leitender Stelle, Mitglied einer nationalen Sektion der Gesellschaft. Er muß also irgendwann einmal an die Reihe kommen. Damit ist jedoch keine Gewähr geboten, daß sein Land, das er vertritt, durch ihn und sein Werk jeweils am besten oder auch nur am bezeichnendsten vertreten ist. Ueberhaupt ist heute das Verfahren, aus einer Flut eingereichter Werke zu wählen, fragwürdig geworden. Es ist kein Zufall, daß zahlreiche Veranstalter zeitgenössischer Musikfeste an die Stelle des Kompositions Wettbewerbes den Kompositions a u f t r a g gesetzt haben. Der Einwand, der Auftrag könne sich nur an bekannte Komponisten wenden und der unbekannte bliebe daher unbekannt, ist nicht mehr überzeugend. In der ganzen Welt wird heute eifrig wie noch nie nach dem unbekannten Genie Ausschau gehalten, ja es werden viel au viele Genies entdeckt. Wichtiger ist jedoch, die ganz offenbare Begabung zu fördern. Auch in Israel geschah es. Aber in Form von Preisen, das heißt, es wurden die relativ besten Werke des Festes ausgezeichnet. Waren es jedoch die besten, die tatsächlich vorhanden sind? (Hoffentlich nicht!) Das nächste IGNM-Fest, das in Baden-Baden stattfinden soll, steht vor der schweren Aufgabe, ein besseres System der „Wahrheitsfindung" anzuw’en- den. Vielleicht liegt es irgendwo zwischen dem demokratischen Prinzip des Wettbewerbes und dem aristokratischen des Auftrages.

Neben dem schon genannten japanischen Werk wiesen sich noch folgende Stücke als wertvoll:

der Gesangzyklus „Von Liebe und Verlassenheit" von Arnold van Wyck (Südafrika); das knapplogisch geformte Violakonzert von Jösef Tal (Israel); ein lustiges Bläserquintett von Lauri Saikkola (Finnland); das an den frühen rhapsodischen Bartök gemahnende Streichquartett von Leon Kirchner (USA); die flott abrollende Kleine Symphonie von Alexander Tansman (Frankreich); die südamerikanische Tanzrhythmen geschickt stilisierenden Vier Orchestertänze von Carlos Riesco (Chile); die Klaviersuite von Nivolas Skalkottas (Griechenland) und die Hindemith zuneigende Violinsonäte von Don Banks (Australien). Größtes Interesse wurde natürlich der Uraufführung von Da.rius Milhau,ds „David", Oper in fünf Akten und zwölf Szenen, entgegengebracht. Soweit ihre konzertante Wiedergabe ein Urteil ermöglicht, scheint sie für die Bühne, für die sie gedacht ist, nicht geeignet zu sein. Die breit angelegte lyrisch-epische Musik besitzt viele schöne Episoden, auch solche kraftvoller Größe, wie vor allem in den Chören; sie scheitert jedoch als „Oper" am Libretto von Armand Lunel, der die Lebensgeschichte Davids im Stile der Legende erzählt. Die von Georg Singer bewundernswert geleitete Aufführung des dreieinhalbstündigen Werkes, das im Aufträge der Kussevitzki-Stiftung 1952 entstand und anläßlich der 3000-Jahr-Feier Jerusalems dem Volke von Israel gewidmet wurde, brachte dem anwesenden Komponisten nach jedem Akt begeisterte Huldigungen ein, für die er vom Kran- kenstuhl aus inmitten der Zuhörer bewegt dankte. Es war ein ergreifendes Bild.

Neben dem Philharmonischen Orchester waren noch das Orchester von „Kol Israel", der „Stimme Israels", des staatlichen Rundfunks, und das noch in der Entwicklung stehende Haifa-Orchester auf- geboten. Von den zahlreichen, meist einheimischen Solisten sei wenigstens die Sopranistin Naomi Zuri erwähnt, die Volkslieder njemenitischer Juden mit hoher Kultur vortrug.

Das Fest bedeutete- für Israel den ersten Kontakt mit der Musik der Welt. Wie man hört, soll es der Anfang sein einer Reihe von Musikfesten, deren erstes 1956 als Fest des östlichen Mittelmeeres mit den Ländern Italien, Griechenland und der Türkei zusammen organisiert werden soll. Mit dem Gruß des neuen Israel „Scha- lom", das ist Friede, wurde der Wunsch ausgesprochen, bald wieder in das junge Land, dessen Antlitz sich von Tag zu Tag ändert, zurückzukehren. Möge ihm der Friede, den sein Gruß wünscht, erhalten bleiben.

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