6534986-1946_11_06.jpg
Digital In Arbeit

Wiens gotische Hochkultur

Werbung
Werbung
Werbung

Die Reihe der Vortrage, die von Professor Lutz, dem Ordinarius der Lehrkanzel für Städtebau an der Akademie der bil-deaden Künste in Wien, zum Thema „W iederaufbau Wiens“ veranstaltet wird, wurde vom Direktor des Institutes für Rechtswissenschaft an der Wiener Universität, Univ.-Prof. Dr. Hans Planitz fortgesetzt, der in drei Vorträgen über „Die mittelalterlich Stadt“ sprach.

Die ältere Kulturgeschichte vertrat noch die Auffassung, daß die antike Kultur in der Zeit der Völkerwanderung völlig vernichtet worden sei und daß ein Neuaufbau auf ganz anderen Grundlagen durch die neti zu politischer Herrschaft gelangten Völker ' stattgefunden habe. Diese sogenannte „K a t a s t r o p h e n 1 e h r e“ ist von Wien aus durch Alphons D o p s c h widerlegt worden durch Anwendung des Grundsatzes „eines gleichartigen Fortbestandes der ältesten Zustände durch die Jahrhunderte“. Unter dieser Voraussetzung betrachtete Prof. Planitz die Tatsache, daß schon zur Zeit der Römer an den Grenzen ihres Weltreiches in den Gebieten von Donau, Limes und Rhein ein blühendes Städtewesen bestanden habe. Von diesen Städten haben viele auch im Mittelalter eine führende Stellung erlangt, unter anderen auch Wien.

Wien ist dadurch, daß es in der neueren Geschichte Europas immer eine bedeutende Rolle spielte, nie zu einem Museum erstarrt, sondern jede Epoche baute in ihren Ausdrucksformen auf den vergangenen auf. So sind uns auch einige Kostbarkeiten aus dem Mittelalter erhalten geblieben. Was aber in erster Linie erhalten wurde, ist der Stadtgrundriß aus dieser Epoche, eine Tatsache, an der der moderne Städtebauer umsoweniger vorbeisehen kann, als auch frühere, in ihren Ausdrucksformen weit stärkere und daher rucksi4itslosere Zeiten, ihn respektiert und damit den Straßen Wiens ihren Reiz und ihren einmaligen Zauber bewahrt haben.

Die Vorträge gipfelten m der schon

erwähnten, auf Dopsch zurückgehenden Feststellung, daß die frühmittelalterliche Kultur nicht als primitive Kultur roher Barbaren neben eine absterbende, von ihnen selbst vernichtete tritt, sondern sich organisch in die Kette einer uralten, von Volk zu Volk weiter überlieferten, durchlaufenden Gesamtentwicklung einfügt.

Vom Standpunkt des mittelalterlichen Städtebaues und der mittelalterlichen Architektur wird man diesem Standpunkt nicht restlos beipflichten können, wenn nicht ein ungelöster Rest in der Gesamtheit kulturgeschichtlicher Phänomene übrigbleiben soll. In unnachahmlicher Weise hat der belgische Historiker Henri P i r e n n e in seinem Werke „Die Geburt des Abendlandes“ die Fortdauer der römischen Kultur durch die Völkerwanderung hindurch nachgewiesen, eine Kontinuität, die erst durch das Hereinbrechen des Islam zerstört wurde. Niemand wird das hohe Geistesgut, das das Lehrgebäude des Mittelalters unmittelbar mit der Philosophie und der Literatur des klassischen Altertums verbindet, leugnen. Hat die antike Architektur den gleichen Einfluß auf die werdende abendländische ausgeübt? Es muß' für die gesamte bildende Kunst verneint werden. Die Bildwerke der Alten waren, zumindest was die römische Antike betrifft, bekannt. Aber schon früh beginnt, wie sich in südfranzösischen Bauten und Plastiken nachweisen läßt, die Emanzipation der kraftvollen jungen abendländischen Kunst, die schließlich in der Romanik und in der Gotik vielleicht

ihren einheitlichsten und geschlossensten Ausdruck erreichte nnd damit in diametralen Gegensatz zur bildenden Kunst der Antike trat. Das rerfallende Rom hat in seiner Stadtanlage in keiner Weise Schule gemacht, obwohl es als Zentrum der abendländischen

Christenheit seiner geistigen Elite bekannt war. Die zahlreichen Einflüsse, denen das Mittelalter durch Berührung mit dem byzantinischen und dem arabischen Kulturkreis ausgesetzt war, vermochten nicht zu verhindern, daß es seine originalste Schöpfung, die Gotik, hervorbrachte als eine das ganze Abendland umfassende, gemeinsame Kultur. Immer werden wohl Forscher, die vom „Literarischen“ herkommen, geneigt sein, den gleichmäßigen Fluß einer * Kultur von der Antike zur Gotik hervorzuheben; aber unterdessen haben die Forscher, die jede Kulturäußerung, also auch die bildenden Künste, als eine der immanenten Ausdrucksformen einer bestimmten Kultur betrachten, ganz andere Ergebnisse gezeitigt. Die Versuche Strygowskys, Spenglers, Pinders lassen die Kunst des Mittelalters erst in ihrem besonderen, originalen Licht erscheinen. Seine Ausdrucksmittel sind andere als die der Antike. Ist die Architektur der Antike wesentlich nach Außen gerichtet, ist jene des Mittel-

alters nach Innen gekehrt. Der

Verinnerlidhungsprozeß macht allerdings schon während der Antike den Anfang. Das römische Pantheon und seine Nachfolger sind quasi in der Architektur die Künder der „Kirche“, „bereitend den Weg des

Herrn“, wie Plotin oder Virgil zu Vätern der abendländischen Christenheit wurden. Diese Verinnerlichung eines Baues erreicht im Innen räum der gotischen Kathedrale ihre höchste Entfaltung, gleichzeitig Mystik und Scholastik als räumliche Form symbolisierend. Anders der antike Tempel. Sein Innenraum ist durchaus unbedeutend, nur zur Aufnahme des Götterbildes vorgesehen; die Kulthandlung geschah nicht in seinem Inneren, sondern auf dem Vorplatz, dessen Abschluß und Kulisse er bedeutete. Seine rationale „plastische Statik“ steht in offenem Gegensatz zur Transzendenz der1 Gotik, deren Wesen in dar Abstraktion des Materiales liegt.

Ins Städtebauliche übertragen, steht der in die Breite tendierenden antiken Stadt die in die Höhe strebende des Mittelalters gegenüber. Das Altertum suchte in seinen Plätzen das Weite; das Mittelalter hütete ängstlich den schmalen, unregelmäßigen Platz, um die himmelsstürmende Höhenwirkung seiner Kathedralen noch zu stei-

gern. (Es kann nicht genug vor der Frei logung oder Platzvergrößerung vos gotischen Kirchen gewarnt werden!). Seine Straßen, Brücken, Häuserfassaden waren krumm. Trotzdem wäre es grundfalsch, dieser Architektur Willkür zuzuschreiben. Viele Untersuchungen an Grundrissen und Aufrissen von Bauwerken als auch an Werken der Malerei und Plastik des Mittelalters haben ergeben, daß ihnen ein Kompositionsschema eigen ist, das nicht nur gute Proportionen in landläufigem Sinne aufweist, sondern daß ihnen Maßbeziehungen bestimmter mathematischer Art zugrundeliegen. Das ist es, was das Mittelalter im Geiste mit der Antike verbindet. Die geometrische Strenge, das Maß, deren einfältigster und zugleich sinnfälligster Ausdruck das geometrische „Maßwerk“ der Gotik geworden ist.

Wenn man das mittelalterliche Stadtbild Wiens unter dem Aspekt des Wiederaufbaues der zerstörten Stadt betrachtet, wird man außer an dem noch bestehenden städtebaulichen Schema auch an dem Detail der wenigen, noch erhaltenen Bauten, nicht vorbeigehen dürfen. Allein die Tatsache, daß

Wien zwei Kirchen aus der Zeit der Gotik besitzt, die zu den Höchstleistungen der europäischen Baukunst des Mittelalters zählen, St. Stephan und Maria am Gestade, muß die Tatsache erhärten, daß damals Wien ein Kulturzentrum ersten Ranges gewesen sein muß. Aber es war mehr. Das gotische Wien war die Wiege einer spezifisch österreichischen Kultur, einer original wienerischen Ausdrucksfprm, die sich von anderen europäischen abhebt, die es nie verlor und die es bis in unsere Tage bewahrt hat.

Damals wurde — wenn man so sagen darf — die Wiener Eleganz und der Wiener Charme geboren. Man betrachte ein Detail, etwa einen Torbaldachin bei Maria am Gestade, eine Plastik an der Stephanskirche, eine der Tafel- oder Glasmalereien, um das durchaus eigenständig österreichische, das sich bereits aus dem allgemein europäischen gotischen Bewußtsein — und es war mehr als alle nachfolgenden ein einheitliches — abhebt, herauszulesen. Es sind die ersten sichtbaren Manifestationen einer eigenständigen Kultur, zu der an dem Musenhof der Babenberger der Grundstein gelegt worden war., und der sich zuerst in den Dichtungen, den Minneliedern und den großen Epen einer ungemein ritterlichen Kultur ausspricht, bald aber in die Breite des Volkes wirkt und das Bürgertum der Stadt mit einem unversiegbaren Quell von Phantasie ausstattet, die es befähigt, den Detailformen des Lebens Vollendung zu geben, die es aber auch befähigt, einen Stephansdom zu bauen.

Schon damals entfaltet sich die sinnenfrohe

Lebenskunst seiner Bewohner, die so stark in der Gotik verwurzelt ist, daß die Strömungen des Humanismus und der Renaissance, die andere Städte mächtig ergriffen, in Wien fast spurlos vorübergehen und freudig die Gotik weitergeführt wird bis sie fast übergangslos in das Barock übergeht, Der Stephansdom wird fertig, während Prag, Köln und viele andere gotische Dome Torsi bleiben. Die wenigen Details, die uns sonst noch aus dieser Zeit erhalten sind, künden überall von dem Charmanten im Wienerischen.

Daran .zu erinnern st jetzt schon notwendig, bevor noch die Stadtplanungen im großen für den Wiederaufbau in Angriff genommen sind. Denn es macht sich allenthalben im „Detail“ der Wiederaufbauarbeiten (in gleicher Weise wie bei Bauten in den vergangenen Jahren), insbesondere bei Geschäftsbauten der Innerer. Stadt, eine historisierende Maskerade bemerkbar, die mit Wiener Tradition und Wiener Charme, die sich in modernen Formen viel besser ausdrücken können, nichts zu tun hat. Dabei ist gerade die Wiener Architektur prädestiniert, in diesen Dingen Vorbildliches zu leisten; denn ihre Stärke beruhte immer auf dem Detail. Möse es noch so geringfügig im Rahmen der groiSen städtebaulichen Atfr-gaben erscheinen, die Betrachtung der gotischen Hochkultur Wiens mit ihrer ungemein zart empfundenen Gestaltung des Details wird hoffentlich die Wiener Akademie der bildenden Künste in ihrem hohen Streben, die besten Kräfte Wiens zum Wiederaufbau zu sammeln und ihnen Raum zur Stellungnahme zu gewähren, auch an dem geringfügigen „Detail“'

nWrt icfrtfos vorübergehen fassen. Ist 'das klassisch Altertum eine hohe Schule für die großen städtebaulichen Aufgaben, so kann das Mittelalter sie in vielen Fällen

für das Detail sem, es1 in dessen wienerischem Geist“ modern zu lösen, statt eine ererbte barocke oder biedermeierliche Form zu imitieren

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung