"Wirklichkeit ausstellen"

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MUMOK zeigt Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus im internationalen Kontext.

Für den 6. Dezember 1958 war in der wiener künstlervereinigung alte welt eine Literaturveranstaltung angekündigt. Statt einer Lesung bekamen die überraschten Zuschauer aber eine "wirkliche Radiosendung" vorgespielt, sahen in Echtzeit, wie Dichter auf der Bühne Zeitung lasen, Schach spielten und sich Kaffee und Wein servieren ließen. Die beiden happeningartigen literarischen cabarets (1958 und 1959), bei denen es den Dichtern um das "Ausstellen von Wirklichkeit" ging, wie es der Schriftsteller Oswald Wiener formulierte, gehören zu den einflussreichsten Kulturevents im Wien der fünfziger Jahre. Bereits 1953 hatte H. C. Artmann in seiner Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes verkündet, dass "man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben".

Isoliert vom offiziellen Kulturleben haben sich H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener seit 1952 nach und nach zu einem Freundeskreis formiert, der später als Wiener Gruppe in die Literaturgeschichte einging.

Experiment & Anarchie

Der restaurativ empfundenen Wiederaufbaugesellschaft mit der Besinnung aufs "Österreichische" begegnen die Freunde, die sich fast täglich in Kaffeehäusern treffen, mit literarischen Innovationen. In Abgrenzung zur neuen Verbürgerlichung bekennt man sich zur poetischen Anarchie. Sprachkritik wird zur Kritik an Staat, Gesellschaft und offizieller Kultur. Zumindest in der Anfangsphase ist der Gedanke, dass ein veränderter Umgang mit Sprache auch eine veränderte Wirklichkeit zur Folge hätte, bestimmend. Die Literaten experimentieren mit Laut-, Bild-und Schriftmaterial - und es entstehen Montagen, Lautdichtungen, Dialektgedichte, konkrete Poesie und Bildcollagen.

Zehn Jahre nach dem ersten literarischen cabaret kommt es im Mai 1968 in Wien abermals zu einem Aufsehen erregenden Event. Diesmal geht es um die Aktion eines bildenden Künstlers, des damals 30-jährigen Günter Brus, der zu einer öffentlichen Veranstaltung ins Wiener Kellerlokal HipHop am Judenplatz einlädt. Er nennt sie Der Staatsbürger Günter Brus betrachtet seinen Körper. Betrachten heißt für den Aktionskünstler das Brechen mit zivilisatorischen Tabus, die Auseinandersetzung mit all dem, was von der bürgerlichen Gesellschaft und der konservativen Kulturpolitik ausgegrenzt wird. Günter Brus versuchte mit der Aktion Wiener Spaziergang auf seine künstlerischen Anliegen aufmerksam zu machen. Er und seine Kollegen Rudolf Schwarzkogler, Hermann Nitsch und Otto Muehl zweifeln an den herkömmlichen Medien, an Farbe und Leinwand als traditionelle Bildträger von bildender Kunst.

"Ausstieg aus dem Bild"

Die Skepsis am Tafelbild und der Versuch, die Kunst auf die Wirklichkeit auszudehnen, führt bei Günter Brus und seinen Mitstreitern zum "Ausstieg aus dem Bild" - und zu einer Formation, die als Wiener Aktionismus derzeit zu den international besonders gefragten österreichischen Kunstrichtungen gehört. Auch wenn das primäre Anliegen bei der Aktion von Günter Brus ein künstlerisches und nicht ein politisches war, ging es um eine bewusste Provokation, die sich gegen die Nichtaufarbeitung der Nazi-Zeit, die Einschränkung des Individuums und eine wenig aufgeschlossene Kulturpolitik wendet: Dazu Günter Brus heute: "Der Begriff ,Staatsbürger' war natürlich aggressiv gemeint, und auch auf dem Plakat war die österreichische Flagge abgebildet. Das war eine Attacke!"

Die experimentellen, gattungsüberschreitenden Ansätze der Wiener Gruppe und die ästhetische Entgrenzung des Wiener Aktionismus samt dessen politischer Sprengkraft sind im Begriff, die Nachfolge der erfolgreichen österreichischen "Kunst um 1900" anzutreten, auch wenn dies hierzulande so mancher noch nicht ganz glauben will.

Eine Möglichkeit, sich mit den Werken dieser beiden Avantgardeströmungen eingehender zu befassen, bietet die jüngste Sammlungspräsentation des MUMOK. Sie trägt den Titel Konzept. Aktion. Sprache und widmet sich Tendenzen der späten 1950er bis 1970er Jahre, in denen sprachliche, visuelle und aktionistische Ausdrucksformen miteinander verschränkt sind. Die Ausstellung ist nicht nur ein absolutes Muss für Kunst-und Literaturinteressierte, weil sie erstmals seit der Wiedereröffnung des MUMOK Arbeiten der Wiener Gruppe in einer Sammlungsausstellung zeigt. Das Besondere ist die quasi selbstverständliche Gegenüberstellung von Exponaten der Wiener Gruppe, Werken des Wiener Aktionismus, Filmen vom Experimentalfilmer Kurt Kren, aber auch performativen und medienreflexiven Arbeiten von Valie Export und Peter Weibel.

Dies erscheint - betont durch die dezente Gestaltung - so selbstverständlich, dass man als Besucher gar nicht auf die Idee kommt, dass es anders sein könnte. Diese Vernetzung ist aber bedeutender als auf den ersten Blick wahrnehmbar, da die einzelnen Wiener-Avantgarde-Richtungen meist getrennt präsentiert werden - und auch die Künstler selbst immer wieder auf Abgrenzung geachtet haben.

Österreichisch & weltweit

Dass die Wiener Kunstrichtungen der Nachkriegszeit auch von Gegenwartskünstlern verstärkt aufgearbeitet werden, spiegelt eine Ton-Installation von Carola Dertnig zum Auftakt der Ausstellung. Ausgehend von Interviews mit Zeitzeuginnen stellt die Künstlerin eine neue Sicht auf die Ereignisse rund um den so genannten "Uniskandal" (1968) vor.

Auf einer zweiten Ebene werden internationale, zeitgleiche Kunstentwicklungen wie Fluxus, Konzeptkunst und Pop-Art aus den Sammlungsbeständen in einer ansprechenden, den Regalsystemen eines Supermarkts nachempfundenen Ausstellungsarchitektur vorgestellt. Dies erweist sich insofern als bereichernd, als beim Gang durch beide Ebenen die spezifische Ausprägung der österreichischen Kunstavantgarden ins Auge sticht, man zugleich aber sieht, wie ähnlich manche Anliegen - etwa die Auflösung eines traditionellen Kunstbegriffs - waren.

Konzept. Aktion. Sprache.

Fokus 03

Wiener Gruppe, Wiener Aktionismus, Konzeptkunst, Fluxus und Pop Art

MUMOK, Museumsplatz 1, 1070 Wien

www.mumok.at

Bis 23. 10. Di-So 10-18, Do 10-21h

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