6657656-1959_38_14.jpg
Digital In Arbeit

Wohin geht die Kirchenmusik?

Werbung
Werbung
Werbung

Die rapide Neulanderoberung der Musik, ihr Vordringen in Gebiete, die dem musischen Zentrum mehr oder weniger ferne sind, ihre technische Ueberrundung, ja ihre stilistische Spezialisierung in serielle, punktuelle, elektro- gene Komposition, in Systeme, darin wohl noch gleichsam das Uhrwerk vom Komponisten erfunden wird, sein Ablauf jedoch außerhalb seines Willens sich vollzieht und Klang nur noch Zufall wird — eine solche Entwicklung berechtigt gewiß zu der Frage, wie weit die Kirchenmusik, vor allem die gottesdienstliche, daran Anteil hat, haben kann und haben darf. Gewiß soll und darf die (mehrstimmige) Kirchenmusik als Kind ihrer Zeit ajle Mittel ihrer Zeit verwenden, und eigentlich ist ihr (allerdings umstrittener) Platz an der Spitze der Musikentwicklung, denn es liegt in der Natur des Menschen, das erste (und beste) Produkt einer neuen Kunst Gott zu widmen und in Seinen Dienst zu stellen. Dagegen ist nun allerdings festzustellen, daß die ersten Produkte einer neuen Gattung nicht immer die besten sind (sogar recht selten); daß in der gottesdienstlichen Musik, als eines Bestandteils der heiligen Liturgie, kein Platz für hemmungsloses Experimentieren ist; daß die Kirchenmusik sich nach dem Gregorianischen Choral in Wesen und Wirkung auszurichten hat; endlich, daß sie zur Ehre Gottes und zur Erbauung der Gläubigen erklingen soll. Inwieweit nun lassen sich diese Forderungen mit den neuen Stilen vereinen? - ?

Zunächst scheinen die Gegensätze unüberbrückbar. Da sich die Musik im Fluß der Entwicklung befindet (und nicht etwa in der Vollendung eines Stiles,-wie bei Palestrina oder den Wiener Klassikern), ist in einem höheren Sinne alles Komponieren ein Experimentieren, soweit es nicht epigonal und daher für die Gegenwart bedeutungslos ist. Weiter ist nicht zu leugnen, daß die (bisherige) serielle und punktuelle Musik keinerlei Aehnlichkeit mit dem Gregorianischen Choral aufweist, weder im unmittelbaren noch im mittelbaren Sinh. Und außerdem wird die Gemeinde der Gläubigen, zumindest ohne eingehendere Vorbereitung, von solchen Kompositionen nicht erbaut sein. Nun ist zwar die Forderung nach „Allgemeinheit“ der Kirchenmusik nicht im Sinne einer Allgemeinverständlichkeit auszulegen, was nur auf unterstem Niveau möglich wäre und das Ende der Kunst überhaupt bedeutete, während doch die Forderung nach „wahrem Kunstwert" unmittelbar hinter jener nach Allgemeinheit steht; was aber dem (wenn überhaupt, so meist nur traditionell geschulten) Kirchenbesucher zugemutet werden kann, dafür ist' keine Norm zu setzen. Er wird das Kunstwerk hinnehmen, solange er daran glaubt, und er wird daran glauben, solange er die sakrale Haltung und die menschliche Würde heraushört. Er wird jedoch ablehnen, sobald er der Ueberzeugung wird, daß eine Musik nur ihrer Besonderheit wegen da ist, irritierend oder karikierend. Und diese Ueberzeugung wird er überall dort haben, wo keine seiner Voraussetzungen erfüllt wird und sein guter Wille allein nicht mehr mitkommt, ja verspottet erscheint. Das muß keineswegs' alleinige Schuld der Musik sein (die dennoch ein wahres Kunstwerk sein könnte), ganz freizusprechen aber wird sie nicht sein, schon deshalb nicht, weil sie sich nicht um ihn kümmert.

Hier liegt zweifellos ein gravierendes Argument vor. Die Selbstherrlichkeit einer Musik, die in der Funktion ihres Systems allein Genüge findet, ohne sich um anderes zu kümmern, taugt nicht in die Kirche. Die Kirchenmusik ist Dienerin der Liturgie, nicht Genossin und schon gar nicht Herrin. Sie ist singendes Beten, und zwar ganz bestimmter Gebete, nicht einfach Stimulans. Sie hat ihre eigenen Formen denen der Liturgie unterzuordnen, nicht nebenher zu gehen. Wo demnach ein Prozeß gleichsam automatisch abläuft (serielle Musik), ist die Musik prinzipiell antiliturgisch. Prinzipiell — aber nicht unbedingt persönlich. Ob ein Komponist inspiriert genug ist, die Funktionen so zu erfinden, daß sie, wenn auch objektiv ablaufend, doch seinem (vorher schon liturgisch betätigten) Willen folgen, also letzten Endes nicht automatisch funktionieren, wird freilich nur im Einzelfall beurteilt werden können, wenn nämlich der Hörer nicht den Eindruck einer großen Spieluhr, sondern den eines persönlichen Willens hat. Der Gottes„dienst“ einer solchen Musik könnte nach Meinung des Verfassers liturgisch einwandfrei sein. Aber diese Meinung ist Theorie; praktisch liegt ein solcher Fall meines Wissens noch nicht vor.

Allenfalls wäre es ein Glücksfall. Denn die Natur dieser Musiksysteme ist dem entgegengesetzt, was hier unbedingte Voraussetzung ist. Das unbeeinflußbare Funktionieren von Tönen und Tongruppen, vergleichbar dem von Zahlen und Zahlengruppen, steht in diametralem Gegensatz zum liturgischen Dienst. Und doch — wir hörten Luigi Nonos „Canto sospero“ — gibt es hier eine ganz neue Art der Textbehandlung, die auch in der Kirche nicht abzulehnen wäre. Insoweit die Musik nicht als Illustration oder gefühlsmäßiger Ausdruck des Textes, sondern als dessen Ueberhöhung (Vergeistigung) erscheint, ist sie sogar ganz eminent liturgisch. Die Gegensätze berühren sich somit in sich selbst, und jede kategorische Verneinung dürfte voreilig genug sein. Auch die sogenannte „Raummusik“ — wir hörten Stockhausens „Gruppen für drei Orchester“ — dürfte sich mit der liturgischen Synthese von Zeit und Raum (Gemeinschaft der Heiligen, streitende, leidende und triumphierende Kirche) berühren und hat übrigens ihr Vorspiel in der Mehrchörigkeit der venezianischen Schule. Der Antichrist scheint diese Musik demnach nicht zu sein. Dieser ist immer noch in uns selbst, die wir aus Bequemlichkeit ablehnen, aus Aerger verdammen und aus Intoleranz leugnen.

Damit soll nun freilich nicht jede Art von Ablehnung als ungerechtfertigt oder rückständig bezeichnet werden. Die Türhüter der Tradition erfüllen, soweit sie ihr gewachsen sind, eine ebenso ethische Aufgabe als die stürmischen Vorwärtsdränger. Leben muß sich unentwegt erneuern, auch in der Kirchenmusik, doch Neuartigkeit allein ist keine Legitimation für den Gottesdienst. Der zögernde Einlaß neuer Musik in die Kirche ist nicht nur berechtigt, sondern notwendig. Im Gottesdienst sollen die Gläubigen nicht vor musikalische Probleme gestellt werden, vielmehr ihre, zum Kunstwerk gestaltete Wirkung spüren im Sinne des Sursum corda; in keinem andern. Gelingt dies, werden alle Fragen hinfällig. Dies Gelingen aber hängt zweifellos weit weniger an System und Stil als an der schöpferischen Persönlichkeit des Komponisten.

Es gibt allerdings noch andere Gesichtspunkte. Kirchenmusik ist primär Angelegenheit des Volkes, der singenden Gemeinde, und nur in ihren mehrstimmigen, kunstvollen Kompositionen dem Chore als dem Stellvertreter (oder besser: der geschulteren Auslese) des Volkes anvertraut. Kann der Chor aber den Auftrag der Gemeinde erfüllen, die Stimme des betenden Volkes singen mit einer Musik, die sich bewußt vom Volke entfernt? Die ihre Wurzeln nicht im Choral, dem stilisierten Volksgesang von einst, nicht im Volkslied neuerer Zeit, nicht in der Tradition musikalischer Wertungen hat, die noch erfaßt werden, sondern auf völlig anderen, intellektuell bestimmten, viel voraussetzungsvolleren Maßen basiert, die noch dazu vielfach außerhalb der musischen Bereiche liegen und die Komponisten zu Ingenieuren stempeln? Hier sind wir wieder beim ersten Argument. Ein „Art pour art"-kann und darf es für die Kirchenmusik nicht geben. Der Kirchenmusikkomponist wird nie über die Gläu-

bigen hinweg, sondern nur mit ihnen und durch sie (nämlich durch die Wirkung seiner Musik auf sie) seine Aufgabe erfüllen können. Wohl ist diese Wirkung eine geistige, nicht eine primitive.

Ein Zweites: Wohin gerät- eine Kirchenmusik, die etwa die fortschreitende Atomisierung von Klang, Rhythmus, Linie (Melodie) mitmacht und endlich (doppelsinnig) auf den „Punkt“ kommt? Wo aber bleibt sie, wenn sie diese Zeiterscheinungen (die also auch irgendwie Ausdruck der Zeit sind und ihr eben eigen) ignoriert, ablehnt, verfemt und sie somit zu einer Hürde macht, die sie nicht überspringen kann? — Sicherlich „braucht“ die Kirchenmusik keine serielle, keine punktuelle, überhaupt keine Zwölftonmusik. Aber „brauchen“ wir die barocke, die romantische Kirchenmusik? Was außer dem Gregorianischen Choral und allenfalls dem landessprachlichen Kirchenlied „brauchen“ wir überhaupt? So einfach aber stellen sich die Dinge denn doch nicht dar. In der mehrstimmigen Kirchenmusik ist im Laufe der Jahrhunderte ein Musik-, Kultur- und Geistesgut erstanden, das zu den größten Schätzen des Abendlandes gehört und durch den Dienst am Altäre geheiligt ist. Sie ist nie der Zeit verhaftet, denn ihr Inhalt ist das Ewige. Aber sie ist immer das Kind ihrer Zeit, sammelt und ordnet die Mittel der Zeit "zum Kunstwerk. Nur aus seinerzeit heraus wirkt ein Kunstwerk über seine Zeit hinaus Auch der Kirchenmusik von heute stehen alle heutigen Mittel zur Verfügung, und es wird„ wie in allen Zeiten, nur darauf ankommen, ob der Komponist Herr oder Sklave dieser Mittel ist; ob er sie zu heiligem Dienst oder zu eitlem Spiel gebraucht. Technik, Stil, System sind niemals an sich böse oder gut, erst der Mensch be- oder entwertet sie.

Glücklicherweise gibt es Komponisten, die keinem musikalischen „Dogma" verschrieben sind und trotzdem neue Musik schreiben. Die bedeutendsten, größten gehören zu ihnen. Aber auch sie bleiben von den Phasen der Entwicklung nicht unberührt, die nun einmal da sind und ohne Rücksicht auf ihren Dauerwert durchschritten werden müssen. Es handelt sich hier auch keineswegs darum, die Kirchenmusik etwa den Seriellen und Punktuellen auszuliefern, sondern genau um das Gegenteil: um die Frage, ob eine solche Musik Kirchenmusik sein k a n n (oder könnte). Wir wollen diese Frage nicht lösen, sondern aufrollen. Viele Für und Wider gelten für die neue Musjk überhaupt. Die Entscheidung liegt bei der Kirche selbst, die in Kunstfragen weitherziger und toleranter ist als die selbstherrlichen Verfechter oder Bekämpf er eines Systems. Wesentlich ist allein, ob eine Musikart an sich im Widerspruch zu den liturgischen Forderungen steht. Das aber scheint uns dort, wo man, um die Lust am Mitsingen anzufachen, Kirchenliedtexte zu Jazz- und Schlagermelodien singen läßt — das gibt es in der Tat —, viel eindeutiger und krasser der Fall als bei der kompliziertesten Zwölftonmusik in allen ihren Spielarten.

Gefahr persönlichen Mißbrauchs der Kirchenmusik durch Komponisten, Bearbeiter oder auch Ausführende (sogar durch Zuhörer) ist immer gegeben, in jedem Stil, in jeder Art und natürlich auch in der Dodekaphonik, deren radikale Systeme hier nicht in ihren Komponisten, sondern in ihrer funktionellen Konsequenz zu interessieren haben. Abschließend ist festzuhalten, daß in der Kirchenmusik nie ein System, eine Schule, ein Stil entscheidend und verantwortlich oder auch nur rechtfertigend sein können, sondern immer allein der persönliche Mensch, der Mensch vor Gott.

Denn Kirchenmusik ist das gesungene Wort Gottes, wie die Predigt das gesprochene. Beides ist für die Menschen da und muß ihrer Aufnahmefähigkeit entsprechen. Auch die Syntax des Predigers wird gelegentlich eine kunstvolle, komplizierte sein. Man kann nicht alles im hausgebrauchten Wortschatz ausdrücken. Nicht anders ist es in der Musik. Sie benötigt immer -neue Konstellationen von Wort und Ton, um das Ewige in der Zeit zu sagen, immer wieder neu Zu sagen. Denn jede Zeit hat ihre eigene Ausdrucksweise. Es ist löblich, das Lied der Väter zu singen, aber es ist notwendig, das eigene zu schaffen. So hat es jede Zeit getan, und auch die unsere ist dabei, es zu tun. Und sie wird es, trotz aller Widersprüche. Unser Amt ist, ihr zu helfen, nicht ihr in den Arm zu fallen. Denn das Geheimnis der Musik ist unergründbar und auch dort noch vorhanden, wo sie selbst entgeheimnist erscheint. Letztes, Tiefstes der Musik wie der Liturgie ist das Mysterium. Deshalb ist die Musik die liturgischeste aller Künste, ja ein Bestandteil der Liturgie selbst. Ihre Würde und Berufung liegt nicht im Wohlklang, nicht in der Aufmachung oder in ihren Stimmungswerten: ihre Würde liegt im Geheimnis ihres Wesens. Und das Geheimnis, wer will es ergründen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung