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„Zar Igor“

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„Zar Igor“ — so hat einmal der Freund und Kollege Arthur Honegger den Komponisten Strawinsky genannt. 1913 hatte dieser mit dem „Sacre du Printemps“ die Satztechnik, den gesamten Stil einer Musikergeneration umgeworfen. Seither herrscht „Zar Igor“, der „weiseste und willensstärkste“ aller zeitgenössischen Komponisten. „Mit immer neuen Waffen lieferte er Schlachten, mit denen er seinen Widersachern Niederlagen bereitete, seinen Verbündeten aber neue Durchblicke eröffnete.“ Diese phänomenale, das heißt unmittelbarsinnlich in Erscheinung tretende Wandlungsfähigkeit (die nur noch mit der Picassos verglichen werden kann) sowie Strawinskys eigentümliches Verhältnis zur musikalischen Tradition haben auch, seit etwa 30 Jahren, jene immer wieder vorgebrachten kritischen Angriffe provoziert, wie sie zuletzt von Th. W. Adorno und Antoine Golea formuliert wurden: Permanente Regression, Archaik, Denaturierung und Simplifizierung, Wurzellosigkeit des Emigranten und Flucht in eine Vergangenheit, deren Stile und Ausdrucksformen virtuos und ohne Ehrfurcht ausgebeutet werden. Löst man jedoch den Blick von den einzelnen Phasen und Einschnitten und betrachtet das Werk Strawinskys, der heute an der Schwelle seines 75. Lebensjahres steht, aus einiger Entfernung, so bietet sich ein anderes Bild. Man erkennt zunächst das „wesentlich und unverwechselbar Strawinskysche in einer Art des direkten, des unmittelbaren Zugriffs“ (Stucken-schmidt) als die Fähigkeit, jedes selbstgestellte Problem — indem alles Unwesentliche beiseite geschoben wird — auf seinen Kern zu reduzieren, wodurch „ein technisches oder ästhetisches Exempel“ statuiert wird. Bei dieser Arbeitsweise gibt es keine Wiederholungen, kein Selbstzitat, auch keine kontinuierliche „Entwicklung“ im traditionellen Sinn. Wohl aber gibt es den sehr persönlichen, unverwechselbaren Eigenstil, der dem „Petruschka“ von 1911 ebenso aufgeprägt ist wie den „Noces“, dem Bläseroktett oder einem der letzten Werke, bis herauf zum' „Canticum Sacrum“.

Allen Werken, mit Ausnahme eines einzigen,' des „Sacre du Printemps“, in dem Strawinsky' den unteren, chthonischen ' Mächten gehuldigt hat, ist etwas gemeinsam. Sie stehen unter dem^ Gesetz Apolls, der autonomen Schönheit der. Musik, sie folgen ;dem Gesetz des Maßes und, der Ordnung. Zum appllonischen Schönheitsideal, hat sich Strawinsky expressjs verbis an jener: Stelle seines Lebensberichtes (Chroniques de ma; vie) bekannt, wo er vom klassischen Ballett spricht, „welches in seinem Wesen, durch die Schönheit seiner Ordnung und durch die aristokratische Schönheit seiner Form am vollkommensten meiner Kunstauffassung entspricht. Denn hier, im klassischen Tanz, sehe ich triumphieren die kunstvolle Konzeption über die Abschweifung, die Regel über das Willkürliche,. die Ordnung über das Zufällige. Ich komme hiermit, wenn man es so ausdrücken will, auf den ewigen ^Uegensatz in der Kunst zwischen dem apollinischen und dem dionysischen Prinzip. Dieses letztere führt in seinem Endresultat zur Ekstase, das heißt zum Aufgeben des Ich, während die Kunst doch vor allem Bewußtheit und Verantwortung des Künstlers verlangt. Meine Entscheidung zwischen diesen beiden Prinzipien dürfte also nicht mehr in Zweifel gezogen werden“.

In dem Ballett in zwei Bildern '„Apollon Musagete“ hat Strawinsky aufs deutlichste und schönste dieser seiner Kunstanschauung gehuldigt. Er spricht mit Begeisterung von der Arbeit an dem Werk, einem Ballet blanc, das, ohne Farbreiz und frei von Ueberladungen, aus dem reinsten Geist der Klassik geboren ist. Die feierliche Nüchternheit des Stils bestimmte auch die Instrumentierung für Streichorchester sowie die streng diatonische Schreibweise. Zugunsten der reinen Zeichnung und einer polyphonen, melodischen Musik verzichtete er auf das polychrome, klanglich heterogene große Orchester. Die Realisierung dieses Werkes durch Balanchine, der für die Choreographie Gruppenbewegungen und Linien von großer Noblesse und klassischer Eleganz fand, war eine der befriedigendsten, die der Komponist erlebte, und noch heute, nach fast 30 Jahren, ist ihm dieses Werk — wie ich aus einem Gespräch mit Strawinsky weiß — zusammen mit der Partitur von „The Rake's Progress“ besonders teuer.

In der Selbstdarstellung Strawinskys steht auch der mißverständliche — und oft, zuweilen absichtlich und gründlich mißverstandene — Passus, in welchem Strawinsky bestreitet, daß man durch Musik ein Gefühl, eine Haltung, einen Gemütszustand oder eine Naturerscheinung ausdrücken könne. Ausdruck sei keine immanente Fähigkeit der Musik, und wo sie etwas auszudrücken scheine, sei dies ein akzidentelles Element, eine Illusion des Hörers, eine tief eingewurzelte Konvention. Aber schon wenige Zeilen weiter heißt es: „Alle Mißverständnisse haben als Ursache, daß die Leute in der Musik,imimer etwas anderes suchen als das, was sie wirklich ist.... Sie kommen nicht dazu, zu/begreifen, daß Musik eine -Sache für. sich ist, unabhängig, davon, was sie ihnen vielleicht suggerieren könnte.“ Eine Sache für sich — gewiß- Und trotzdem ist man versucht, den Komponisten Strawinsky ein wenig gegen den sehr pointiert formulierenden Theoretiker in Schutz zu nehmen, der in seiner „Musikalischen Poetik“ auch sehr beredt für die Tradition und den. .Akademismus eintritt. Damit kommen wir zum zweiten Punkt unserer Betrachtung. *

, Strawinsky hat sich bekanntlich seit „Pulcinella“ von 1919 über das barockisierende „Concerto für Klavier und Blasorchester“ bis zum „Canticum Sacrum ad Honorem Sancti Marci Nominis“ von 1956, das ursprünglich als Passion im Stil von Schütz und J. S. Bach geplant war, immer wieder traditioneller Formen bedient... Aber tut er dies, wie seine Kritiker behaupten, wirklich nur als Neoklassizist, als Stilkopist, der Musik über Musik macht und du faux ancien produziert? Wir müssen hier, um zu einem richtigen und gerechten Urteil zu gelangen, unterscheiden zwischen Tradition aus Gewohnheit, welche die Tendenz hat, mechanisch zu werden, die auf dem Weg des geringsten Widerstandes sich tummelt und auf die das Mahlerwort „Tradition ist Schlamperei“ gemünzt ist, und zwischen echter Tradition, die aus einer bewußten und kritischen Vorliebe entsteht und an die man anknüpft, um etwas Neues zu machen, in neuem Geist und mit neuen Methoden. Strawinskys Traditionalismus ist durchaus von der letzteren Art. und ihr Resultat ist eine neue Haltung, ein neuer klassischer Stil, der mit dem vergangener Epochen in Wettbewerb treten kann. Strawinsky empfindet die abendländische Musik (hierzu das Bekenntnis „Ich- bin viel mehr Abendländer als dem Osten zugehörig“) als eine Einheit, ein Ganzes, ein Corpus. Die einzelne musikalische Komposition erscheint ihm nicht ausschließlich als persönliche Schöpfung, sondern als eine zutiefst der gesamten Tradition verpflichtete Leistung. (Und in der Tat: wirkliche Plagiatoren sind meist nur die Originalgenies ...)

. Es ist richtig, daß sich Strawinsky bald der einen, bald einer anderen musikhistorischen Epoche zugewendet hat. Aber diese Unterscheidung bezieht sich nur auf das Oberflächlichste. Vielleicht könnte man, wenn schon Strawinskys „Phasen“ bestimmt werden sollen, sagen, daß die frühen Werke die sichtbare Welt in Tanz und Spiel spiegeln, daß die mittleren als absolut-musikalische Aussagen stark vom Instrumentalen, im weitesten Sinn, gedeutet werden können und daß sich schließlich in Strawinskys letzten Werken, seit der Messe von 1948, eine sublime Geistigkeit manifestiert, die — der Meister pardoniere uns — zuweilen in allerpersönlichsten Ausdruck umschlägt. Die Sprödigkeit des Stils, der Harmonik und der Instrumentierung verleihen den letzten Werken Strawinskys (Septett, In Memoriam Dylan Thomas, Cantata und Three songs from William Shakespeare) nicht nur hohen artistischen Reiz, sondern stempeln sie auch zu esoterischen Kunstwerken ersten Ranges. Aber diese letzte Werkreihe ist auch entwicklungsgeschichtlich von höchster Bedeutung. Seit dem Septett bedient sich Strawinsky der seriellen Technik und verwendet erst siebentönige, im „Canticum Sacrum“ auch zwölftönige Reihen, ohne der neuen Technik seine persönliche Eigenart zu opfern. Damit hat er eine der fatalsten Antithesen und Diskussionen unserer Zeit (hie Zwölftöner — dort alle übrigen „konservativen“ und „reaktionären“ Komponisten) ad absurdum geführt. Mit Strawinskys Huldigung an Webern stürzen die theoretischen Kartenhäuser seiner eingangs erwähnten Kritiker, die auf dem Fundament der Antithese: musikalischer Fortschritt (Schönberg) und Reaktion errichtet waren, in Nichts zusammen.

Im Laufe eines langen, mit vielen Früchten gesegneten Künstlerlebens war Strawinsky beschäftigt, von Werk zu Werk die verschiedenartigsten stilistischen, formalen und instrumentalen Probleme zu lösen. Durch dieses jahrzehntelange, von einem hohen Kunstverstand gelenkte Streben, das von der gesamten zivilisierten Welt, wenn auch nicht immer mit Sympathie, so doch mit Respekt, verfolgt wurde, hat Strawinsky einen hohen, in unserer Zeit vielleicht den höchsten geistigen Maßstab aufgerichtet und dem Stand des Komponisten wieder Ansehen und Achtung errungen. Aber wofür wir ihm zu danken haben ist: die besondere Art der Schönheit, um die er unsere Zeit, unsere Welt bereichert hat. Ihre Apotheose in dem Ballett „Apollon Musagete“ klingt beziehungsvoll an die Adonis-Klage um ihre Vergänglichkeit im letzten Bild der Oper „The Rake's Progress“ an. So erscheinen uns zuletzt alle „Experimente“ Strawinskys unter dem Gebot zu stehen, jenes Ziel zu erreichen, von dem der Neuplatoniker Gregor von Nyssa in der Vita Mosis spricht: „Er, der Liebhaber der höchsten Schönheit, hielt, was er schon gesehen hatte, nur für ein Abbild dessen, was er noch nicht gesehen hatte, und begehrte dieses selbst, das Urbild, zu genießen.“

Der deutsche Musikwissenschafter Heinrich Lindelar betont in einer Formanalyse des „Canticum Sacrum“ (in „Neue Zeitschrift für Musik“, Oktober 1956) als Konstante in Strawinskys gesamtem Werk das Ordo mirumque im Sinne des Aquinaten. „Dergestalt bestimmen Ordo und Mirum nicht nur das näher liturgiebezogene Spätwerk von Strawinsky, sondern sind als Ferment, als Element, bereits in den russischorthodoxen Kultrudimenten seines Frühwerks nachzuweisen... Das nämliche und gleiche Gesetz hieratischer Urbilder ist es, das Strawinskys mythische Männerchorkantate auf den .König der Sterne' (1911) neben dem Ritual der .Bauernhochzeit' (1914 bis 1923) auf halb heidnisch-östlicher Frühstufe, dann die Hymnik der .Psalmensymphonie' (1930) auf vergleichsweise antikisch-alttestamentarischer Zwischenstufe und schließlich die sakrale Spiritualität der .Messe' (1948) und das venezianische .Canticum Sacrum' (195 5) auf christlich-liturgischer Spätstufe durchwaltet und zentral eint.“

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