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ZU FÜSSEN DES WAWEL

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Eines der Häuser des Krakauer Marktplatzes trägt eine Tafel, die an Goethes Aufenthalt in dieser Stadt erinnert. Man muß sagen, daß dieser berühmte Dichter seine Wohnung nicht schöner und besser hätte wählen können. Der Marktplatz ist bis zum heutigen Tage das Herz der Stadt und sein schönster Platz. Verbunden mit den großen Ereignissen im Leben des Volkes, begeistert er durch seine alte Architektur und symmetrische Komposition. In seiner Mitte stehen, einem steinernen Schatzkästchen gleich, die berühmten Sukiennice (Tuchladen), in denen seit Jahrhunderten verschiedenartige Waren feilgeboten werden. Spitzenartiger Renaissancezierat, der aus italienischen Städten hierher verpflanzt zu sein scheint, verjüngte diese historischen Denkmäler um einige Jahrhunderte, und erst die gotische Marienkirche stellte die aus dem Gleichgewicht geratene Zeitenproportion wieder her. Die zwei ungleich hohen Türme sind die Künder der grausamen Legende von den beiden Brüdern, die sie erbauten. Der jüngere Bruder tötete den älteren aus Neid um dessen Erfolg als Baumeister. Als er aber nach der verruchten Tat seinen Turm viel höher baute, wurde er sosehr von Gewissensbissen geplagt, daß er sich ein Messer mitten ins Herz rannte und von dem gewaltigen Bauwerk auf das Krakauer Pflaster fiel. Selbstverständlich kann man das Messer noch heute sehen, weil Legenden sachliche Argumente lieben.

Jede alte Stadt hat ihre Legenden, aber in Krakau sind sie besonders zahlreich. Das Temperament der Bewohner, deren temperamentvoller Tanz „Krakowiak” zum eisernen Volksballettrepertoire gehört, kann ebenso wie die romantische Weichsellandschaft dazu beigetragen haben. Sogar die Entstehung der Stadt ist von einer phantasievollen Legende begleitet. Der Gründer der Stadt, Krakus, dem die Stadt ihren Namen verdankt, besiegte einen schrecklichen Drachen. Dieses gefräßige Monster naschte an einem mit Schwefel gefüllten Darm, den der brave Krakus präpariert hatte, und mußte darnach solange seinen Durst in der Weichsel stillen, bis es platzte. Man kann noch heute die Drachenhöhle auf dem Wawelhügel sehen, die sich neben dem Königsschloß und der Kathedrale befindet.

Die Krakauer reden gerne und mit viel Sentiment von den Zeiten, als Krakau noch die Hauptstadt und Warschau nur ein kleines Fischerdorf war. lind wenn es auch unmöglich ist, den Ablauf der Geschichte zu ändern, verblieb Krakau der ehrenvolle Trost, die schönste und unverfälschteste polnische Stadt zu sein, weil sie den Krieg völlig unberührt Überstand — was, wieder der Legende zufolge, durch einen Segen Buddhas bewirkt wurde.

Wir werfen einen Blick-in die Marienkirche am Marktplatz. Wir wollen nicht gerade deshalb diese Kirche wählen, weil sie das prächtigste und bekannteste historische Gotteshaus Polens ist. Uns interessiert vor allem der Hauptaltar — das unsterbliche Werk yon Veit Stoß, Er jstene späotUeSkulptyr, die um ,dfis’Wi ”4es 15. Tgnpfi.uridert qiitstähd und aus mehreren aus Lindenholz geschnitzten aingescnreiiten Teilen besteht. Diez- wichtigste, mittlere Szene ist eine Komposition, die das Entschlafen Mariens in Anwesenheit der Apostel darstellt. Die Hände der sterbenden Madonna sind von unbeschreiblicher Schönheit. Vor deren poesievqll-künstlerischem Ausdruck verblassen alle Worte der Begeisterung für die Genialität des Meisters. Andere Szenen stellen das Leben Christi dar und sind eine verläßliche Grundlage für das Studium des damaligen Lebens, weil Veit Stoß Kostüme und Brauchtum seiner eigenen Zeit porträtierte und dadurch dem Werk eine realistische Note verlieh. Es ist ein in Holz geschnitztes Album des eigenen lebens, der eigenen Stadt und der sie umgebenden Natur. Während des Krieges wurde der Altar bereits in den ersten Tagen vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Kisten verpackt und weggeführt, weil die Polen befürchteten, er könnte beschädigt werden. Die Okkupationsbehörden haben ihn gefunden, und so wie andere unschätzbare Kunstwerke wurde der Altar nach Nürnberg verschleppt. Er wurde nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands zurückgegeben und mußte selbstverständlich einer gründlichen Konservierung unterzogen werden. Die besten polnischen Fachleute auf diesem Gebiet zerlegten den Altar in kleine Einzelteile, wobei alles an Hand der neuesten wissenschaftlichen Methoden untersucht und gesichert wurde. Es wurde eine authentische Polychromie freigelegt, die unter den Schichten späterer Anstriche verborgen war. Man beendete erfolgreich den Kampf gegen den Holzwurm und verjüngte die prachtvolle Skulptur, auf daß sie die Augen noch vieler Generationen erfreuen vermag.

Vor seiner Rückkehr in die Marienkirche wurde der zerlegte Altar für die Zeit eines Jahres in den Sälen des Wawelschlosses öffentlich zur Schau gestellt. Dort konnte man die schwerer vihrnehmbaren Einzelheiten des Werkes bewundern, die der Künstler in hingebungsvoller Liebe herausarbeitete. Aber erst in der Kirche kam der Gesamteindruck der meisterhaften Komposition des Werkes in seiner unvergleichlichen Farbenpracht voll zur Geltung. Einer der hervorragendsten polnischen Lyriker, der im Jahre 1953 verstorbene Konstanty Ildefons Galczynski, dessen Liebe der Stadt Krakau galt, widmete dem Werk Veit Stoß eines seiner besten Gedichte.

Vom Marktplatz sind nur wenige Schritte zu dem „Planty” benannten Park. Der Park ist etwas eigenartig, weil er die ganze Stadt mit einem Teppich von Grünflächen und Bäumen umsäumt. Hier stand einmal die Stadtmauer, von der nur einige Reste wie der berühmte Festungsturm „Barbakan” und das Floriantor verblieben sind. Ein Historiker mag es den Österreichern Übelnehmen, daß sie vor hundert Jahren die Festungsmauern abreißen ließen, doch sind die Verliebten sicherlich froh darüber, weil sie auf den dort stehenden Bänken abends die verträumten Stunden nicht zu zählen brauchen. Die Abende sind hier ruhig. Nach zehn ist die Stadt praktisch ausgestorben. Man muß überhaupt an die Äußerung eines boshaften Verfassers von Memoiren denken, der im vorigen Jahrhundert schrieb, daß Krakau eine tote Stadt wäre, gäbe es nicht von Zeit zu Zeit ein Leichenbegängnis, das durch die Straßen zöge, wenn das auch selbstverständlich nur als Scherz aufzufassen ist, so sitzen die Krakauer doch wirklich gerne zu Hause, und sogar die Jugend zieht ihren Klub oder ihr Kaffeehaus dem Spaziergang auf der berühmten Promenade auf dem Marktplatz vor.

Es gibt hier überaus viele junge Leute, weil Krakau einige Hochschulen besitzt, einschließlich einer nahezu sechshundert Jahre alten Universität. Unter den vielen Studenten dieser Universität gab es mehrere berühmte Männer. Einer von ihnen war Kopernikus.

Der Student oder die Studentin von heute verbringen nicht ihre ganze Zeit bei Vorlesungen oder in den modernen Lesesälen der Universitätsbibliothek. Sie erübrigen ziemlich viel Zeit für Sport, Kaffeehäuser und selbstverständlich für den Film. Die Studenten haben einen eigenen Filmklub, wo Filme gezeigt und diskutiert werden. Einer großen Beliebtheit erfreut sich der Klub „Piwnica” (Keller), der seinen Sitz im Keller des Palastes „Pod Baranami” aufschlug, der einmal der aristokratischen Familie Potocki gehörte. Heute befindet sich hier das Kulturhaus. Im Keller kann man zur Musik der ausgezeichneten Jazzkapelle Komedas tanzen. Der Leiter der Kapelle vertauschte seinen Beruf als Arzt mit dem eines Königs der modernen Llnterhaltungs- musik. Jazzenthusiasten haben selbstverständlich in Krakau ihren eigenen Klub, aber sie kommen gerne in die „Piwnica”, um der Musik zu lauschen, zu tanzen und zu plaudern oder eine interessante Bekanntschaft zu machen. Die Mädchen können feststellen, daß die steifen Unterröcke und Bleistiftabsätze noch modern sind, und die Herren können bestätigt finden, daß es in Krakau sehr viele schöne Mädchen gibt. Jeder Ausländer, der die ehrwürdigen historischen und kulturellen Denkmäler besichtigt, möchte gerne zur „Piwnica” geführt werden, weil über dieses Lokal in der Presse zahlreicher Länder berichtet wurde.

Die „Piwnica” verfügt über einige Klubsäle. Von Zeit zu Zeit bringt die „Piwnica” ein kabarettistisches Programm. Die Unterhaltung ist prächtig, weil es zum Stil der Vorstellung gehört, daß die Schauspieler ihre Rollen nicht genau können und daher sich gegenseitig und das Publikum auslachen. Es ist eine wahre moderne „Commedia dell’arte”. Die Texte sind witzig, boshaft und treffend, teilweise ad hoc improvisiert. Die Brettlbühnen und Studentenkabarettheater erfreuen sich in Polen einer großen Beliebtheit und haben häufig ein hohes künstlerisches Niveau. Dies konnte während der allpolnischen Festspiele der Studententheater festgestellt werden, welche selbstverständlich in Krakau, der Stadt der großen Theatertraditionen und des berühmten literarischen Kabaretts „Der Grüne Ballon”, veranstaltet wurden.

In der „Piwnica” kann man auch Ausstellungen junger Maler sehen. Krakau ist führend in der modernen bildenden Kunst.

Die Maler haben selbstverständlich auch ihre eigenen, größeren und vornehmeren Keller. Sie wurden auf Veranlassung und durch die Bemühungen des Führers der „Modernen”, Tadeusz Kantor, geschaffen, der auf Pariser Ausstellungen bereits Lorbeer erntete. Die letzte alljährliche Ausstellung der Akademie tdet Bildenden Künste beweist, daß sich die Zukunftsaussichten unserer bildenden Kunst sehr interessant gestalten. Der Nachwuchs an begabten Künstlern ist beträchtlich.

Krakau ist bekannt durch die Namen berühmter Männer und durch seine hervorragenden Museen und Bildergalerien, in denen auch Leonardi da Vinci und Rembrandt nicht fehlen. Das königliche Schloß Wawel ist ein historisches und ein Kunstdenkmal, das von den Zeiten der Romanik bis nahezu zum heutigen Tag reicht. Der Renaissancehof des Schlosses ist der schönste Konzertsaal der Heimat Chopins. In der Kathedrale ruhen neben den Königen die größten Dichter der Nation, Mickiewicz und Slowacki. Vor kurzem kamen nach langen, durch den Krieg bedingten Fahrten die berühmten Gobelins zurück, die in Kanada aufbewahrt wurden. Mit ihnen langten auch andere überaus wertvolle Historische Kunstgegenstände ein. In der Stadt erscheinen drei kulturell hochstehende Wochenzeitungen, die gerne gelesen werden. Krakau ist ein lebender Quell moderner Kultur. Braucht man mehr, um den Besucher, der nach Polen kommt, für Krakau zu interessieren? Die Stadt ist das ganze Jahr geradezu belagert von Touristen, die, trotz der sprichwörtlichen Sparsamkeit seiner Bewohner, herzlich und gastfreundlich begrüßt werden.

Von Krakau wird gesagt, daß es „Klein-Wien” ist. Etwas Wahres liegt darin, obwohl das Kolorit und die Architektur der Stadt eher an Italien erinnern. In den Kaffeehäusern herrscht aber immer noch Wiener Atmosphäre. Man kann dort jederzeit einen echten Kapuziner und Original Wiener Mehlspeisen bekommen. Selbstverständlich haben die Kaffeehäuser ihr eigenes Publikum. Im Café „Sukiennice” sitzen ernste Professoren und der Rest der k. k. österreichischen Hofräte. Das Café „Europa” bevorzugen Damen im Balzac-Alter, die jederzeit entschlossen sind, zu heiraten. Im Café „Fafik”, das seinen Namen dem berühmtesten Hund Polens verdankt, sitzen die Tierliebhaber. Der Hund war seinerzeit Ehrenmitglied der Redaktion der nicht weniger bekannten polnischen Zeitschrift „Przekroj”. Die Studenten treffen sich in den billigsten Kaffeehäusern, außer man wird als Mädchen in ein elegantes, mehr oder weniger exklusives Lokal eingeladen. In den Kaffeehäusern kann man zwei,, dtei. jráer sogar vier Stunden bei einem kleinen Mokka und ¿einer Zeitung sitzet!? snugiliaíatí .-.nitnra tun,

Zu den alten Traditionen der „Lajkonik”-Feier, der traditionellen „Harce” und des Tatarenaufmarsches zur Erinnerung an die Angriffe der Tataren auf Krakau kamen die von gediegenen Einfällen und Humor überschäumenden Tage der akademischen Jugend im Mai, die sogenannten Juvenalien. Die Stadt wird zwei Tage hindurch von der Jugend beherrscht; die jungen Leute besetzen die Straßenbahn und Autos, promenieren auf den Straßen in den eigenartigsten Verkleidungen und tanzen auf den Straßen und Plätzen. Zu den Juvinalien kommen Studentendelegationen aus ganz Polen. Das alte Studentenlied „Gaudeamus igitur” beginnt und beendet das Festival der Freude.

Vom Turm der Marienkirche ertönt die Fanfare, ausgeführt von Krakaus Liebling, Smietana. Die alte Weise ertönt zu jeder Stunde des Tages seit undenklichen Zeiten. Die Melodie bricht an einer bestimmten Stelle plötzlich ab. was an eine Begebenheit , die bis ins Mittelalter zurückreicht, erinnern soll, als das Turmblasen durch einen tödlichen Tatarenpfeil unterbrochen wurde. Beim Ertönen der Fanfarenklänge bleiben viele Leute stehen. Sie lauschen der wohlbekannten Melodie; selbst die Tauben lauschen ebenso wie der Dichter Mickiewicz, dessen von den Okkupanten zerstörte Denkmal heute wieder auf seinem alten Platz steht. Das Denkmal umgeben Blumenverkaufsstände, gleich einem vielfarbigen Teppich.

In Krakau gibt es nur wenige Neonlichter, aber zahlreiche schöne Auslagen, die von Künstlern entworfen werden. Die Abende sind aber keineswegs dunkel. Die alte Stadtmauer, die Türme und die spitzenartigen Arkaden sind vom Scheinwerferlicht überflutet. Die Kuppel des Marienturms gleicht einer aufblühenden Knospe. Dichter können bei solcher Abendbeleuchtung auf ihre Rechnung kommen. Aber ich rate nicht zu einem Spaziergang, sondern zu einer Fahrt in einer der traditionellen Krakauer Droschken. Die Droschken sind für Krakau das, was die Gondeln für Venedig sind; sie leisten der Motorisierung siegreichen Widerstand und sind eine Art von Museumstück.

Unweit von dem alten historischen Krakau erstand gleichsam als einer seiner Bezirke Nowa Huta, eine riesige Industrieanlage und eine neue Stadt. Das Theater Nowa Hutas ist eines der mutigsten und interessantesten Theater Polens.

Gegenwärtig werden in Nowa Huta schöne, sehr moderne Häuser gebaut. Früher nahm man es mit der Architektur nicht so genau. Die moderne Stadt wächst für die neuen Menschen, eine Stadt aus Glas und Farbe, und ihre Architektur kann aus praktischen und ästhetischen Gründen nicht gleichgültig sein.

In Nowa Huta pulsiert überschäumendes Leben. In den Bibliotheken und Leseräumen herrscht rege Betriebsamkeit. Die Kinos sind überfüllt. Neben Ingenieuren und Arbeitern wohnen hier Maler, Schriftsteller und Musiker. Sie haben sich an ihren neuen Wohnbezirk gewöhnt und denken gar nicht daran, in die alte Stadt zu übersiedeln, mit der sie in Zukunft ein gigantischer Park verbinden wird.

Selbstverständlich wird auch im alten Krakau rege gebaut. Neue Wohnbezirke und Siedlungen, neue Straßen und Gebäude entstehen. Aber die alten Leute hängen an ihrer Welt. Ihnen genügen der alte Marktplatz, von wo aus alles so nahe ist; die mit Patina bedeckten Türme des Wawel und das Geflatter der Taubenflügel...

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