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Die Wallfahrt der Roma zu ihrer Schutzpatronin an der französischen Atlantik-Küste.

Als „ewige Pilger auf den Straßen der Welt“ hat Papst Paul VI. 1965 in Pomezia, anlässlich der Krönung der Marienstatue „Notre Dame des Gitans“, Roma aus aller Welt begrüßt. Das Wallfahren ist ein wesentlicher Ausdruck der Gläubigkeit im religiösen Leben der Roma, in diesem Papst-Zitat schwingt aber doch auch eine Anspielung auf die zur endlosen Wanderschaft gezwungenen Roma mit – und die jahrhundertelange und bis heute andauernde Ausgrenzung und Vertreibung dieses Volkes.

Tausende Roma huldigen jedes Jahr am 24. und 25. Mai ihrer Schutzpatronin, der Heiligen Sara, im südfranzösischen Saintes Maries de la Mer. Diese bekannteste Pilgerstätte der Roma ist nach Maria Jakobäa, der Mutter des Apostels Jakob des Jüngeren, und nach Maria Salome, der Mutter von Jakob dem Älteren und dem Apostel Johannes, benannt. Die beiden Frauen sollen während der ersten Christenverfolgungen nach der Vertreibung aus Palästina in einem Boot über das Mittelmeer an die Küste der heutigen Camargue geflüchtet sein. Nach provenzalischer Tradition liegt dort die Wiege für die Christianisierung Galliens.

Heilige, schwarze Königin

Um die „Schwarze Sara“, deren Statue in der Krypta der Kirche verehrt wird, ranken sich verschiedene Legenden. Die Roma sehen in ihr eine der ihren, eine dunkelhäutige Königin oder Priesterin eines Wanderstamms, der die zwei schiffbrüchigen Heiligen einst aufgenommen haben soll. Eine andere Tradition erzählt, Sara habe die beiden heiligen Frauen als deren Dienerin bereits auf der Flucht begleitet und sei Ägypterin gewesen. Auch diese Version könnte ein Hinweis auf ihre Roma-Identität sein, wurden die „Gypsies“ in der Geschichte doch zeitweise für Ägypter gehalten.

Vor allem aus Frankreich und Spanien, aber auch aus anderen Ländern in und außerhalb der EU pilgern oft ganze Familienverbände in Campingbus-Karawanen nach Saintes Maries de la Mer. Das religiöse Fest ist zugleich Anlass für Verwandtentreffen und Familienfeiern, Konzerte und Geschäfte. Die 1948 gegründete französische Romaseelsorge organisiert im Rahmen der Wallfahrtsmission tägliche Abendandachten, Taufen und Erstkommunionen.

Neben dieser spirituellen Dimension ist die Wallfahrt im Lauf der Jahre zu einer touristischen Großveranstaltung geworden, die den religiösen Kern in den Hintergrund zu drängen droht. Musiker begleiten live die Kirchenlieder, die Elemente typischer Romamusik mit Melodien bekannter französischer Chansons verbinden. „Notre Dame des Gitans“ wird besungen, dazwischen lässt man die Heiligen hochleben: „Vive la Sainte Sara!“ und „Vivent les Saintes Maries!“

Kinderhände Gottes …

Der Diakon der Diözese Pamiers gestaltet mit einer Gruppe von Kindern eine Abendandacht zum Thema Taufe: „Zeig mir die Hände von Gott“, fordert er ein kleines Mädchen auf. Es überlegt kurz, dann streckt es seine eigenen Hände in die Höhe …

Der Diakon Arnaud de Laportalière war Offizier der französischen Armee bis zu einem Bekehrungserlebnis. Seither widmet der Seelsorger sich den Häftlingen und den „Gens du voyage“, den Fahrenden. Sein täglicher Katechismusunterricht findet in einem Zelt auf einem der Campingplätze statt: Eine Handvoll Kinder malt Bilder von der Hl. Sara. „Die Saintes Maries sind vertrieben worden. Ist euch das nicht auch schon passiert?“ fragt Arnaud. Die Kinder nicken und grinsen verschämt.

Mit seinen geschätzten 500.000 „Fahrenden“ ist Frankreich ein Sonderfall in Europa. Diese Zahl bezieht sich allerdings auf die von den Fahrenden als solche empfundene Identität. Denn ein Teil dieser „Gens du voyage“ ist mittlerweile ganz oder teilweise sesshaft, und nur ein Drittel der Fahrenden sind Roma (eigentlich Sinti bzw. in Frankreich „Manouches“), die beiden anderen Drittel Jenische und Franzosen. Neben den Fahrenden leben in Frankreich sesshafte „Gitans“ und aus Osteuropa eingewanderte Roma.

Zwar muss per Gesetz („La Loi Besson“) jede französische Gemeinde mit über 5000 Einwohnern den Fahrenden einen Lagerplatz zur Verfügung stellen. Nur ein Viertel der betroffenen Gemeinden ist dieser Verpflichtung aber bisher nachgekommen, und die Terrains entsprechen nicht immer den Vorschriften betreffend Stromversorgung oder die sanitären Anlagen. Außerhalb dieser Campingplätze dürfen die „Gens du voyage“ nicht lagern.

Fahrtenbuch verpflichtend

Außerdem müssen sie eine Art Fahrtenbuch führen, das regelmäßig von der Polizei kontrolliert wird, und sich in einer Bezugs-Gemeinde behördlich einschreiben. Nur wer drei Jahre lang in derselben Gemeinde gemeldet ist, wird auch ins Wählerverzeichnis aufgenommen. Wobei eine Gemeinde die Einschreibung auch verweigern kann, da sie nicht verpflichtet ist, mehr als drei Prozent Fahrende aufzunehmen. Auch auf Wohnbeihilfe hat man ohne feste Behausung keinen Anspruch.

Die Reiserouten verlaufen meist entlang der Wallfahrtsorte. Manche Fahrenden haben ein Stück Land gekauft, auf dem sie den Winter verbringen, in der warmen Jahreszeit verdingen sich als Erntehelfer oder üben angestammte Berufe wie Korb- oder Stuhlflechter, Schausteller oder Trödler aus. Das Verschwinden ihrer traditionellen Tätigkeiten treibt sie allerdings zunehmend in die Saisonarbeit im Baugewerbe.

Einer der Gründe für ihre hohe Arbeitslosenrate ist ihr Bildungsdefizit. Laut Elisabeth Clanet, Bildungsbeauftragte am französischen CNED, dem nationalen Zentrum für Fernunterricht, sind 30 Prozent der Fahrenden gänzliche Analphabeten, andere Schätzungen greifen noch höher. Der 1969 vom katholischen Orden der Schulbrüder gegründete Hilfsverein zur Schulbildung der Romakinder (ASET) arbeitet in Frankreich mit Speziallehrern, die in normalen Schulen und mobil mit „Schulbussen“ im Einsatz sind.

Auch in Saintes Maries de la Mer ist die „Ecole de Voyage“ (Reise-Schule) mit einigen Campingbussen vor Ort. Anlässlich der französischen EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 hat eine Reihe französischer Interessenvertretungen einen Forderungskatalog zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Roma vorgelegt. Beim EU-Roma-Gipfel in Brüssel Mitte September wurde auch über diese Forderungen debattiert.

Angst vor den Ost-Roma

Die politische Durchsetzung erschwert, dass die Roma heute kein homogenes Volk darstellen, sondern eine Gruppe verschiedener Kulturen. Während internationale Vertretungen übrigens dazu tendieren, „Roma“ als Überbegriff zu verwenden, verbindet man in Frankreich damit eher die Roma aus Mittel- und Osteuropa. Die französische Bezeichnung „tsiganes“, die nicht so abwertend konnotiert ist wie „Zigeuner“ im deutschsprachigen Raum, umfasst als Überbegriff die osteuropäischen Roma, die Manusch oder Sinti (die man vor allem in Nordfrankreich, Belgien, Holland oder Deutschland findet) und die „Gitans“ (die großteils in Südfrankreich, Spanien und Portugal siedeln).

Die breite Öffentlichkeit und die Medien tendieren freilich dazu, alle und dazu noch die Jenischen und fahrenden Franzosen in einen Topf zu werfen. Doch in Saintes Maries berührt die Frage, ob die Kirche die jüngsten Ausschreitungen gegen Roma in Italien im Rahmen der Wallfahrt zur Sprache bringt, ein heikles Thema. „Die französischen Roma haben mit den osteuropäischen nicht unbedingt viel gemein“, erklärt Christophe Sauvé, Vizepräsident des französischen Vereins der katholischen Gens du voyage: „Wer die Campingplätze hier anschaut, sieht, dass die einzelnen Gruppen alle für sich bleiben. Die französischen Roma fühlen sich von der Einwanderungswelle aus dem Osten bedroht. Und sie haben Angst, dass die Situation von Italien nach Frankreich überschwappt. Hier hat die Kirche die Aufgabe, Brücken zu bauen.“

Pfingstler-Massentaufen

Der Großteil der französischen Roma ist katholisch. Seit den 1960er-Jahren hat aber auch die zum Verband der protestantischen Kirchen zählende charismatische Pfingstbewegung großen Zulauf, die mit über 1500 Pastoren – ausschließlich Roma – eine intensive Missionierung betreibt. Ihre symbolstarken Auftritte, darunter Massentaufen mit Tausenden Gläubigen, kommen der traditionell sinnlichen Mentalität der Roma entgegen, die auch im Rahmen der Wallfahrt sichtbar wird.

Die Statue der Schwarzen Sara, umgeben von einem Lichtermeer aus Kerzen, wird mit üppigen Gewändern behängt und geküsst, die Gläubigen drängen sich darum, den Reliquienschrein der Saintes Maries zu berühren, der an Seilen von der Oberkapelle in die Kirche herabgelassen wird. Tausende folgen den Prozessionen, bei denen die Statue der Hl. Sara und tags darauf in einer Barke jene der Saintes Maries ans Meer getragen werden.

Erschossen auf der Flucht

Der Leiter der französischen Romaseelsorge, Claude Dumas, selbst Sohn einer Manusch, findet erst nach Abschluss der Feierlichkeiten Zeit für ein Interview mit der Furche. Im Gespräch wird er von einem Anruf unterbrochen. Er kann die Tränen nicht zurückhalten. Eine Familie bittet ihn zur Totenwache auf einem Lagerplatz im südfranzösischen Brignoles.

Ein 26-jähriger Fahrender, der wegen bewaffneten Diebstahls in Polizeigewahrsam war, ist beim Fluchtversuch in Handschellen von einem Gendarmen erschossen worden. Laut Medienberichten lässt der Einschusswinkel darauf schließen, dass der Tote, Vater von drei Kindern, beim Fluchtversuch fast bis zum Boden gebeugt war. Am nächsten Tag brennen in der Kaserne von Brignoles vier Gendarmerieautos. Ein Verfahren gegen den betreffenden Gendarmen wird frühestens in einem Jahr eröffnet, heißt es seitens des Staatsanwalts – auch das keine ungewohnte Wegmarke für die „ewigen Pilger auf den Straßen der Welt“.

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