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„Zwergindianer“ in Venezuela?

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Die Rassen- und Völkerkunde hat bekanntlich unsere primitiven Zeitgenossen in allen Erdräumen zum Gegenstände ihrer Erforschung gewählt. Wer sich damit beschäftigt, ist daran gewöhnt, allerlei Neuigkeiten zu entdecken und ungeahnte Ueberraschungen zu erleben; denn zu mannigfaltig sind die Daseinsbedingungen, zu wechselreich das geschichtliche Werden, zu vielgestaltig das geistige Schaffen der Primitivvölker. Doch einer Sensation gleich hat die vor 15 Monaten ausgegebene Nachricht über pygmäenartige Indianer in Venezuela angesprochen; jedenfalls mich persönlich. Seitdem ich die Rassenform der Fygmäen im östlichen Belgisch-Kongo und in Ruanda mit einer von keinem anderen Reisenden erreichten Ausführlichkeit bestimmt, auch die Buschmänner und Hottentotten im wüstenartigen Binnenraume der Union of South Africa — die lange Zeit hindurch als echte Pygmäen beurteilt worden sind — auf zwei Reisen seit 1950 erforscht habe, ließ ich es nicht an weiteren Bemühungen fehlen, die rassegenetischen Ursachen des normalen Pygmäenwuchses innerhalb der Menschheit aufzuhellen.

Rasch war ich zu einer eigenen Forschungsreise zum Wohnbereich der sogenannten Motilones Mansos in der Sierra de Perijá (Nordwestvenezuela, Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien) entschlossen. Dieses wild zerklüftete, steil aufsteigende Gebirge, an dessen Fuß ich bereits Ende Mai heurigen Jahres stand, zieht sich auf der politischen Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien entlang. Es kann bloß ganz erbärmliche Unterhaltsmöglichkeiten bieten. Allein um sich einer Ueberwältigung von seiten stärkerer Indianerstämme und rücksichtslos vordrängender Mulatten in der vorgelagerten fruchtbaren Niederung zu entziehen, haben vor mehreren Jahrzehnten die Motilones Mansos in schwer erreichbaren Schluchten des Hochgebirges eine sichere Zuflucht gesucht. Dort können sie sich zu vielköpfigen Dauer- sicdlungen keinesfalls zusammenschließen; aufgelöst in sogenannte „Rancherías“, bestehend aus einer oder aus zwei bis fünf Familien, die eine von der ändern meist durch weiten Abstand getrennt, fristen sie ein sehr elendes Dasein. Mehrere Einflüsse von außen sind dabei tätig gewesen, die frühere Stammesorganisation zu zerreißen und einen Zustand völliger Auflösung der urtümlichen Lebensform herbeizuführen. Nicht zu verwundern daher, daß die anthropologische Untersuchung dieser Motilones Mansos — richtig heißen sie: Yupa — sich unvorstellbar schwierig gestaltet hat. Den Aufstieg zu gewissen Rancherías an steilen Abhängen haben sogar die gefahrgewohnten Maultiere störrisch verweigert. Ihre nahezu unerreichbaren Höhenwohnungen verlassend, wagen sich Einzelpersonen jüngeren Alters heutigentags zuweilen in den Bereich der nichtindianischen Siedler vor, wo sie sich mit ihrer niedrigen Körperhöhe augenfällig zu erkennen geben. Bekannt genug ist die Tatsache, daß die Gesamtheit der Indianer im breiten Nordbereich Südamerikas einen niedrigen Körperwuchs aufweist. Bei den Yupa zeigten die vier bis fünf Männer einer Ranchería eine durchschnittliche Höhe von etwas weniger als 150 Zentimeter, die einer anderen Ranchería zwei bis drei Millimeter über 150 Zentimeter. Die Anthropologie betrachtet einige Millimeter mehr oder weniger dieses Maßes durchaus nicht als sehr bedeutsames Rassenmerkmal: 150 Zentimeter will bloß eine Größenkategorie begrenzen. Da meines Erachtens die gegenwärtigen Daseinsbedingungen zur leichten Verminderung der Körperhöhe der Yupa beigetragen haben — mithin bei dieser Erscheinung es sich bloß um eine Modifikation im biologischen Sinne handelt —, verdient es diese Indianergruppe nicht, als „Pygmäen“ klassifiziert zu werden. Sie dürfte kaum mehr als 400 Personen ausmachen.

Aus der Sierra de Perijá nach Maracaibo zurückgekehrt, nahm ich den direkten Flug nach Bogotá. Unerwartet bot sich hier die willkommene Gelegenheit zu einem Besuch der Guajira-Halbinsel mit ihren seltsamen natürlichen Bedingungen. Die entsetzliche Trockenheit und alle daraus fließenden Folgen schaffen einen Zustand von solch erbärmlicher Dürftigkeit der gesamten Natur, daß ihm gegenüber der Lebensraum der Buschmänner in der v.’üstenhaften Kalahari mir wie halbparadiesisch erscheint. Mit erstaunlicher Mühewaltung gelingt es den eingesessenen Indianern, Rinder zu halten und damit teilweise ihr eigenes Dasein zu’ sichern. Die Bewohner der Pfahlbauten entlang dem Strande gewannen viel aus dem Meere. Alles in allem ein vielsagendes Beispiel für die willensstarke Anpassung des Menschen an einen ihm durchaus feindseligen Raum! Aus diesem heben sich hier um so auffälliger die überraschend vollen Formen im knochenfesten Körperbau seiner Insassen heraus.

University of America, Washington

Das erste Hauptziel meiner diesjährigen Reise, nämlich eine vorläufige Fühlungnahme mit den pygmäenhaften Yupa-Indianern im Westen von Venezuela, war damit erreicht. Auf der Weiterreise nach Süden besuchte ich von Lima aus berühmte Ruinenstätten (Pachacamac, Cuzco), gelangte dann über den Titicacasee hinweg nach La Paz und traf schließlich in Santiago de Chile ein. Vor genau 30 Jahren hatte ich mich von hier verabschiedet, als nach Beendigung meiner langjährigen Forschungsarbeiten unter den Feuerlandindianern von der chilenischen Regierung mir der ehrenvolle Auftrag erteilt worden war, am 21. Internationalen Amerikanistenkongreß zu Den Haag (Holland) teilzunehmen. In den erwähnten Städten sowie in Buenos Aires bin ich zu öffentlichen Vorträgen verpflichtet worden, an die sich viele private Aussprachen angeschlossen haben. Das alles spricht dafür, daß die im deutschsprachigen Räume Mitteleuropas errungenen Fortschritte der Wissenschaften vom Menschen in ganz Lateinamerika eine begeisterte Aufnahme finden. Diese zuweilen ermüdende Tätigkeit vom Vortragspult aus war die zweite Aufgabe meines Fluges über das langgezogene Südamerika hinweg

Eine vorsorgliche Zeiteinteilung ließ mich richtig zur Eröffnung des 31. Internationalen Amerikanistenkongresses in Säo Paulo festen Fuß fassen. Er hat während der letzten Woche des August in dieser erstaunlich rasch aufstrebenden Weltstadt getagt; die 328 Teilnehmer entstammten 3 5 Nationen, und auch Oesterreich war gut vertreten. Wie von vornherein zu erwarten war, ist aus dem weiten und tiefen Bereich des amerika- nistischen Forschens eine bunte Vielheit von Einzeluntersuchungen in den mehrtägigen Sitzungen vorgelegt worden. Autoritäten von Ruf und erfolgreiche Anfänger haben sich zu Wort gemeldet; diese wie jene haben wertvolle Beiträge zum Fortschritt unserei Kenntnisse von den amerikanischen Eingeborenen geliefert. Darüber hinaus hat die Tagung n. Säo Paulo ihre deutlich individuelle Prägung von dem mehr oder weniger bewußt angestrebien Ziele erhalten, daß den für das weite Brasilien eigenen völkerkundlichen und vorgesöiicht- lichen sowie den sprachkundlichen Stoffen ein merklicher Vorrang gegeben bzw. ein beträchtlicher Raum für Erörterungen zugestanden worden war. Daß schließlich der verständnisvollen Betreuung und möglichst langen Erhaltung sowie der sogenannten Akkulturation der Urbewohner dieser ungeheuer ausgedehnten und geophysisch reichgestaltigen Landmasse liebevolle Aufmerksamkeit und ehrliches Wohlwollen geschenkt worden ist. braucht als selbstverständlich nicht eigens erwähnt zu werden. In einer angenehm harmonievollen Atmosphäre ist dieser internationale Kongreß abgelaufen, jeder Teilnehmer hat eine sehr gediegene wissenschaftliche Bereicherung mit nach Hause genommen.

Hatte ich auf dem weiten Weg von Caracas nach Säo Paulo keine Gelegenheit unbenutzt gelassen, die teilweise sehr reichhaltigen Sammlungen ethnologischer und archäologischer Natur, hier und da die einzigen ihrer Art, zu besichtigen, so hat eine gründliche Einsichtnahme in die reichen Vorräte in den Museen Rio de Janeiros meine Erwartungen noch weit übertroffen. Selbst die deutlichsten Beschreibungen reichen an das klare Verständlichmachen nicht heran, wie solches der Originalgegenstand zu schenken vermag.

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