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Zwischen Dinosaurier und Atombombe

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Wie für jeden Amerikaner eine Schweizer Reise ihren Höhepunkt in Interlaken beim Anblick der „Jungfrau“ oder in Zermatt angesichts des Matterhorns findet, so gehört zu jeder einigermaßen vollständigen Amerikareise ein Besuch des Grand Canyon. Es ist schwer, dieses großartige Naturphänomen zu beschreiben. Auf der Hochebene fährt man am fern grüßenden Schneegipfel des San Francisco Peak vorbei, bis plötzlich die Straße ein Ende nimmt vor einem jähen Abgrund. Vor unseren Augen öffnet sich eine gleichsam in den Erdboden versunkene Gebirgslandschaft mit pyramidenförmigen Gebilden, kunstvoll natürlichen Zacken und Graten, Säulen und Kegeln. Auf dem Grund der riesigen, vielfach verästelten Schlucht schlängelt sich zwischen den gewaltigen Felsblöcken ein glitzerndes schmales Band. Erst wer stundenlang auf steil abfallendem Fußpfad in die Schlucht hinabsteigt, entdeckt zuunterst, daß das schmale Flüßchen in Wirklichkeit ein reißender, wütender Strom ist: der Kolorado. In jahrtausendelangem Strömen hat er sich auf den Grund dieses eingesunkenen Gebirges gefressen, während gleichzeitig die ganze Erde um ihn in Bewegung war. Diese unerhörte Erosionslandschaft ist von einer eindringlich beredten Stummheit. Die geologischen Schichtungen, von den ältesten bekannten Gesteinsformationen bis zu den neuesten Schichten, lassen uns das Wunder der Erdentstehung ahnen. Die Amerikaner aber verwandeln das urgeschichtliche Ahnen in die Gewißheit einer thrillenden Show: „Die größte und einzigartige geologische Story der Welt vom Grand Canyon erzählt“, preist ein Plakat an. In einem eigens dazu errichteten Häuschen verrät ein Pbotoberater dem knipsenden Touristen, mit welcher Blende er am vorteilhaftesten diesem Naturphänomen bildlich zu Leibe rücke. Bei Einbruch der Nacht findet an einem Lagerfeuer ein Vortrag statt durch einen Geologen in Pfadfinderuniform. Vortrag ist zwar nicht das richtige Wort; das unfaßliche Naturwunder wird dem staunenden Zuhörer präsentiert als ein gewaltiges Drama in Jahrtausende umfassenden Akten. Zu dessen Hauptpersonen gehören die Dinosaurier, die Läuterung erfolgt im Neandertaler. Die Dinosaurier beherrschten vormals dieses ganze Gebiet, wie ein nahe beim Grand Canyon entdecktes Sauriermassengrab beweist. Ueber das Alter dieses Urfriedhofes schwanken die Meinungen der Paläontologen, sie differieren um die Kleinigkeit zwischen 40 und 25 Millionen Jahren. Vom Hauch der Urzeit glaubt man sich aber auch heute noch angeweht, wenn in dem sich neigenden Tag ein leichter Dunst die Schlucht verschleiert und die Felsen vom leuchtenden Gelb und Rot über alle Schattierungen des Grau und Violett zum Blau der aufsteigenden Schatten gefärbt werden. Von den trotzigen Felswänden glaubt man das Echo der Ewigkeit zu hören.

Durch -ein ödes Hochland, wo inmitten schmutzigbrauner Steppen die roten Lehmhütten weniger Indianer stehen, fahren wir dem Bryce Canyon zu. Ueberwältigte der Grand Canyon durch seine elementare Wucht, so entzückt der Bryce Canyon durch seine bizarre Verspieltheit. Diese Landschaft sieht aus wie die Zuckerwerkspielerei eines Riesen oder eine Walt-Disney-Welt. Reihenweise, in amphitheatralischer Anordnung, fügen sich Türmchen, Spitzen und Bögen aneinander, flammendes Orange wechselt mit zartweißem Gestein. Die Natur hat hier eine ihrer frühen Launen verewigt, die Figuren des modernen Surrealismus um Jahrtausende vorwegnehmend.

Später, an der Grenze zwischen Arizona und Nevada, begegnen wir dem Kolorado- •fluß wieder. Er hat sich inzwischen unter der zwingenden Hand des Menschen gesänftigt und seine reißende Kraft in einem Stausee geballt. Der Lake Mead wird gebildet durch das in der Rekordzeit von nur fünf Jahren erstellte Stauwehr des Hoover-Dammes. Dieses grandiose Unternehmen, durch das der Kolorado gebändigt, der amerikanische Südwesten urbanisiert und gleichzeitig mit Elektrizität versehen wurde, ist geradezu ein Mekka für jeden zukunftsfreudigen Amerikaner. Hier kann er seinen Glauben an die absolute Wunderkraft der Technik bestärken. Da die gigantischen Rohre für die Druckleitung einen größeren Durchmesser haben als die Eisenbahntunnels in ganz Amerika, wurde kurzerhand eine ganze Fabrik neben dem Damm gebaut, um diese Rohre herzustellen. Wo der Kolorado mit seinen wilden Wassern noch vor wenigen Jahren getobt hatte, erhebt sich nun ein romantischer Bergsee mit arktisch anmutenden Felsriffen. Jedes Jahr strömen Tausende von Touristen zum Hoover-Damm und finden hier die beglückende und beruhigende Gewißheit, daß die Menschheit sich rege weiterentwickelt, daß die Epoche des Neandertalers im benachbarten Grand Canyon unwiderruflich vorbei ist.

Uns stiegen immerhin einige Zweifel an diesem unbedingten Fortschrittsglauben auf, als wir nach einer neuerlichen Wüstenfahrt Las Vegas erreichten. Der Anziehungspunkte dieser knapp fünfzig Jahre alten Stadt sind mehrere. Während das Wetter alles andere als ein Hasardspiel ist — 360 Tage im Jahr scheint die Sonne —, ist das Glücksspiel bloß manchmal für die Spieler, immer aber für die Spielsaalbesitzer ein sicherer Treffer. Als neueste Attraktion mit dämonischem Hintergrund funktioniert in dieser Wüstenstadt das Wissen um die in der Nähe gelegenen Atomversuchsfelder. So unbeständig wie das Glücksspiel — nur in Nevada ist das Spielen vom Staate legalisiert — ist die Stadt selber. Sie setzt sich aus den luxuriösesten Hotels der Welt und aus Wohnwagen zusammen. Das Spielen ist in Las Vegas gleichsam bloß eine schlechte Gewohnheit der Leute. Neben den mondänen Spielarten gibt es nicht nur in den Spielsalons, sondern in den Warenhäusern, Restaurants, beim Metzger und im Wartesaal jene Glücksautomaten, in die man vom Fünfer bis zum Dollarstück Münzen einwerfen, an einem Hebel ziehen und abwarten kann, ob die drei sich im Innern bewegenden Rollen bei jener Konstellation zum Halt gebracht werden, die den Automaten zwingen, eine bestimmte Geldsumme auszuspucken. In Las Vegas wird mit einer nüchternen Gelassenheit gespielt, die nichts von der dämonischen Besessenheit der Dostojewskischen Spieler an sich hat. Das Spiel wird hier mit einer an Stumpfsinn grenzenden Gleichgültigkeit betrieben, die ein einziges Ziel hat: Monev — Geld machen. In dieser mondänen, mit dem Entstehen des

Hoover-Dammes gewachsenen Stadt finden sich auch jene ein, deren Ehe kein Treffer war. Nach sechs Wochen Niederlassung kann in Nevada geschieden werden. Ehescheidungen und anschließend die Veranstaltung einer neuen Ehe — von der Braut bis zur Kirche wird alles franko geliefert — sind eine weitere blühende Industrie in Las Vegas.

Eindrucksvoller als die Begegnung mit den menschlichen Wracks in den Spielsälen von Las Vegas war das Eindringen in die völlig verlassene Wüstenei des Death Valley, in dem sich vor hundert Jahren eine grauenhafte Tragödie unter den erschöpften Goldsuchern abspielte, die der Einöde zum Opfer fielen. In diesem vor Hitze flimmernden nackten Felstal trafen wir zwei amerikanische Fliegeroffiziere, mit denen wir nach gut amerikanischer Sitte gleich Freundschaft schlossen. Die beiden gehörten zur Atomequipe in Nevada und vertrauten uns an, daß am übernächsten Tag der erste Versuch mit einer von einem Geschütz abgefeuerten und in der Luft explodierenden Atomgeschoß durchgeführt werde. Auf schmalen Sandwegen holperten wir erwartungsvoll auf den bezeichneten Berggipfel, der sich knappe zwanzig Kilometer vom Versuchsfeld befindet. Auf die Sekunde genau, morgens um halb neun, vollzog sich das grandiose Schauspiel. Mit der Wucht von 10.000 Tonnen Dynamit barst die Versuchsbombe. Unendlich heller als der klare Morgen leuchtete wie der Strahlenkranz eines hundertfachen Sonnenaufganges die detonierende Bombe auf. Unmittelbar darnach stieg eine dichte schwarze Rauchsäule auf, die sich pilzartig ausdehnte. Aus dem brodelnden Hut stieg eine zweite, diesmal weiße Rauchkugel auf, deren intensive Ballung von der inneren Glut der todbringenden Strahlen rötlich schimmerte. Immer höher dehnte sie sich aus, vom blauen Himmel Besitz ergreifend und wie die ungeheure Faust eines ungeheuerlichen Schicksals über der Landschaft drohend. Ein Anblick von atemraubender, beklemmender Schönheit und Wucht. Nach zehn Minuten begann sich die Wolke in losere Schleier aufzulösen, und nach einer halben Stunde war der ganze Höllenspuk vorüber. Ein leichtes rosarotes Wölklein schwebte über den grauen Bergen und nichts verriet, daß sich hier ein tausendfach tödliches Drama abgespielt hatte. Ein Drama, das die Welt wieder in jenes chaotische Wirrwarr zurückverwandeln könnte, in dem die eine knappe Tagesreise vom Atomplatz entfernten versteinerten Dinosaurier ihr vormenschliches Dasein gefristet hatten.

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