Zwischen Moderne und Nationalismus

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Das architektonische und städtebauliche Geschehen auf dem Gebiet Österreich-Ungarns und seiner Nachfolgestaaten im Kunstforum der Bank Austria, Wien.

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Das architektonische und städtebauliche Geschehen auf dem Gebiet Österreich-Ungarns und seiner Nachfolgestaaten im Kunstforum der Bank Austria, Wien.

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Rasche technische Entwicklungen, neue Errungenschaften im Ingenieurswesen haben in der Architektur großes Aufsehen erregt", proklamierte der ungarische Architekt Ödön Lechner 1906: "Dieser neue Wandel der Evolution verschafft uns die großartige Gelegenheit, unseren Nationalcharakter in eine neue Formensprache und Architektur einzubringen." Sein österreichischer Kollege Otto Wagner war gegenteiliger Meinung, wie er 1915 bekannte: "Der künstlerische Ausdruck architektonischer Werke muss in jedem kulturellen Zentrum ähnlich sein, da die Lebensart und das Regierungssystem ähnlich sind. Wenn wir dieses Argument gelten lassen, sollten wir einsehen, dass es einen Nationalstil nicht geben kann." In diesem Spannungsfeld zwischen aufkommender Moderne und der Zentrifugalkraft nationaler Bestrebungen bewegte sich die Architektur Österreich-Ungarns.

Die Ausstellung "Mythos Großstadt" im Kunstforum der Bank Austria in Wien thematisiert erstmals das städtebauliche und architektonische Geschehen auf dem Gebiet der Donaumonarchie und ihrer Nachfolgestaaten zwischen 1890 und 1937. Mit der Schau, in deren Zentrum die Stadt als Modell für die Gesellschaft und als Träger kultureller Neuansätze steht, wird das Kunstforum seiner Praxis untreu, Massenwirksames zu präsentieren. Die über 350 gezeigten Modelle, Zeichnungen und Pläne erschließen sich dem Laien nicht ohne Weiteres, eine genauere Beschäftigung mit der Materie, etwa mit Hilfe des ausgezeichneten Katalogs, ist unumgänglich.

Um die Jahrhundertwende war Wien, das ökonomische und administrative Zentrum von Österreich-Ungarn, mit mehr als zwei Millionen Einwohnern zu einer der größten Städte der Welt geworden. Die städtische Bevölkerungsexplosion infolge der Industrialisierung war auch an den anderen größeren Städten der Doppelmonarchie nicht spurlos vorübergegangen. Doch nicht nur die Zahl, auch die Zusammensetzung der Bevölkerung hatte sich schlagartig geändert: Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die großen Städte deutschsprachige Inseln gewesen, binnen eines halben Jahrhunderts aber verschwand dieser Charakter infolge des Zuzugs der nicht-deutschsprachigen Landbevölkerung. Während 1850 "Deutsche" 56 Prozent und Ungarn ein Drittel der Einwohnerschaft Budapests ausmachten, war 1890 der ungarische Bevölkerungsanteil auf 90 Prozent angestiegen; in Prag, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich von Deutschsprachigen bewohnt war, existierte zu Ende des Jahrhunderts nur noch eine "deutsche" Minderheit von 8,5 Prozent. Die Städte wurden zum umkämpften Raum: Die etablierte urbane, zumeist deutschsprachige Mittelklasse gegen die neu ankommende nicht-deutschsprachige bäuerliche Bevölkerung. Ein Kampf, der sich spätestens ab 1890 auch architektonisch auszudrücken begann.

Die multikulturelle, vielsprachige Donaumonarchie überzog ihr Herrschaftsgebiet mit einer der Renaissance und dem Barock nachempfundenen architektonischen Universalsprache: An den Schulen, Gerichtsgebäuden, Bezirksämtern, Museen, Theatern, Gefängnissen, Krankenhäusern und Bahnhöfen (bis hin zu den Stellwerken) lässt sich noch heute das ehemalige Territorium der k. u. k. Monarchie erkennen, ebenso an städtebaulichen Elementen wie Ringstraßen und Parks, die an der Stelle der überflüssig gewordenen Befestigungsanlagen angelegt wurden. Zugleich begünstigte das Kaiserreich kulturelle Innovation und Experimentierfreude - nicht zuletzt um das eigene Überleben zu gewährleisten. Schließlich war moderner Geist kosmopolitisch und damit eine Stütze für den vom Nationalchauvinismus erschütterten Vielvölkerstaat.

In allen Teilen der Donaumonarchie versuchen Architekten dem k. u. k.-Stil eigene Nationalstile entgegenzusetzen. Vor allem die Ungarn wollten baulich zum Ausdruck bringen, dass sie die zweite die Monarchie konstituierende Bevölkerungsgruppe waren. Architekten wie der eingangs zitierte Ödön Lechner besannen sich auf ungarische Folklore und auf maurische, islamische sowie hinduistische Formen, die damals als Ursprünge der ungarischen Volkskunst betrachtet wurden.

Nach dem Zerfall der Donaumonarchie 1918 spielte jedoch das Nationale in der Architektur der Nachfolgestaaten keine Rolle mehr. Kaum waren die Nationen in ihre Sprachen entlassen, gingen ihre besten Köpfe, darunter auch die Architekten daran, eine neue Universalsprache zu entwickeln: Die neue Sachlichkeit, der später so genannte internationale Stil setzten sich durch. Nur die west-lich orientierte Tschechoslowakei schwelgte so wie Frankreich und die USA im Art deco. Sogar in den konservativen ländlichen Gegenden Österreichs, vom Salzburger Festspielhaus bis zur Großglockner Hochalpenstraße, war eine regional eingefärbte Moderne angesagt.

Das nunmehr sozialdemokratisch regierte Wien rückte abermals ins Zentrum architektonischen Interesses: Die Wohnhöfe des "Roten Wien" stellen die bedeutendsten großangelegten städtebaulichen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit in Europa dar. Die insgesamt 400 Gemeindebauten mit Arbeiterwohnungen, Kindergärten, Büchereien, ärztlichen Ordinationen, Wäschereien, Werkstätten, Theatern, Genossenschaftsläden, Grünanlagen und Sportstätten sind herausragende Beispiele für die politische Verwertung von Architektur in jener Epoche. Nicht nur verfügten alle Wohnungen über Tageslicht, eigene Toiletten, fließendes Wasser, Gasanschluss, sondern sie räumten der Arbeiterschaft auch einen deutlich sichtbaren und privilegierten Platz um Stadtraum und -bild ein.

In anderer Hinsicht jedoch verlor Wien den Anschluss an internationale städtebauliche Entwicklungen. Während die Städte der Donaumonarchie und österreichische Städtebau-Theoretiker wie Otto Wagner und Camillo Sitte im 19. Jahrhundert international als Vorbilder galten, verpassten die Metropolen der ehemaligen Donaumonarchie in der Zwischenkriegszeit den internationalen Anschluss. In Zentraleuropa galt die Stadt weiterhin als Organismus, als expandierende Einheit verschiedener über jeweils eigene Charakteristika verfügende Viertel im Sinne Wagners. Die von Le Corbusier 1922 entworfene Idee einer funktionalistischen Großstadt auf mehreren Ebenen mit totaler Funktionstrennung, leistungsfähigem Verkehrsnetz und der Übertragung des Typus Hochhaus auf den Wohnbau, fand erst nach dem zweiten Weltkrieg Eingang in Architektur und Städtebau Zentraleuropas.

Bis 26. August

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