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Zwischen Scheide und Maas

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INNERHALB EINES KREISES mit dem Halbmesser von 150 Kilometern lagen die Orte, in denen Karl der Große mit Vorliebe residierte: Herstal — heute zu Lüttich gehörig —, Nym-wegen, Diedenhofen und Aachen. Man mag es als Symbol ansehen, daß diese Orte heute in vier europäischen Staaten liegen; als Sinnbild für unseren Erdteil, als Sinnbild aber auch für Belgien selbst. Im Reiche Karls gab es noch keine Teilnationen Europas. Deren Entwicklung wird gefördert durch die Reichsteilung von Virten (Verdun) 843 und Mersen 870. Nach Aufteilung des Zwischenlandes kam das Gebiet östlich der Scheide zum Ostfrankenreich, Flandern wurde der französischen Krone unterstellt. Wer aber heute durch Belgien reist, empfängt idie bedeutendsten geschichtlichen Eindrücke von der Macht und dem Glänze der flämischen Stadtgemeinden, von dem Wirken der Habsburger seit der Heirat der burgundischen Maria mit Maximilian I., den Regentschaften Marias von Oesterreich — der heuer in Mecheln eine eigene große Ausstellung gewidmet wurde — und Marias von Ungarn. Unter Karl V. war Brügge der reichste Handelsplatz der Welt. Jäh kam der Abstieg. Die Sonderstellung, welche Karl V. durch die Augsburger Akte seinem Geburtslande eingeräumt hatte (formal zum Römischen Reich, dynastisch zur spanischen Krone gehörig), mündete in die Begriffe Philipp II. und Alba. Als der Wiener Kongreß den belgischen Boden, der durch die Zugehörigkeit zum französischen Empire wirtschaftlichen Auftrieb im Textilgewerbe und im Bergbau erfahren hatte, im Jahre 1815 mit den südlichen Generalstaaten zum Vereinigten Königreich der Niederlande zusammenschloß, war die Entwicklung über diese Entscheidung längst hinausgewachsen. Eine bloße Opernouvertüre — die zur „Stummen von Portici“ — reichte für die Revolution in Brüssel aus.

BRÜSSEL IST NICHT BELGIEN. Belgien ist eines der ersten europäischen Länder, dessen Leistungen sowohl nach dem ersten wie nach dem zweiten Weltkrieg Aufsehen und mitunter wohl ein wenig nachbarlichen Neid erregten. Diesem Belgien gibt der flandrische Bauernhof, ein von festen Hecken umgebenes Bollwerk, weiß gekalkt, von blühenden, mit zärtlicher Liebe gehegten Blumen umgeben, das Gepräge. Flandern ist freilich eine Gegend, die keine Rundfahrtwagen mit eingebauten Lautsprecheranlagen durchfahren — wenn man von den Autobussen absieht, die nach Gent, Brügge und Ostende ihre drei- bis viersprachige Fracht abliefern. Frühmorgens, noch ehe es hell wird, \ kann man mitunter auf den Feldern die flandrischen Bauern mit Laternen an die Arbeit gehen sehen. Das Gesicht dieser Bauern hat sich wenig verändert, seit Pieter Brueghel sie malte. Der Unterschied zwischen Flamen und Wallonen liegt tiefer als in ihren Sprachen. Flandern ist ein Gebiet kinderreicher Familien und kleiner Betriebe der Landwirtschaft, des Handwerks und des Gewerbes. Die wallonischen Provinzen im Maastal und in den Ardennen sind ein Land der Schwerindustrie, der weitgedehnten Kohlenflöze, der Hüttenwerke von Seraing und Lüttich, der Glasproduktion von Val Saint-Lambert, der Maschinenfabriken von Charleroi. Hier sind die Kinderfamilien seltener, der Sozialismus ist stärker als in Flandern. Ob ausgesprochen oder nicht, immer noch schwebt über dem Volke das Symbol der IJzerbedevaart, die alljährlich am dritten Sonntag im August stattfindet, leuchtet Dixmuiden mit dem IJzer-Turm und das in die Herzen einversenkte Kreuz, das aus den Anfangsbuchstaben der flämischen Worte für „Flandern für Christus, Christus für Flandern“ (WC — CVV) gebildet wurde. In der Dichtung dieses Volkes von Conscience bis Gezelle, einem Priesterpoeten, dessen Denkmal in seiner Heimatstadt Brügge vor der Liebfrauenkirche steht, loderte unverlöschbar die Fackel dieses Geistes. Es wäre jedoch heute verfehlt, anzunehmen, die für einen föderativ eingerichteten Staat wie Belgien (das vor 130 Jahren bereits Deutsch zur dritten Landessprache erklärte) durchaus natürlichen Spannungen könnten irgendwie die Einheit des Staates gefährden. Es ist vielleicht nichts bezeichnender für die wahrhaft europäische Gesinnung des Landes, als daß im September 195 5 gerade der Bürgermeister

Gruselin des wallonisch regsten Gemeinwesens, Lüttichs, ein Flandernprogramm entwarf und daß es weiter erst vor wenigen Wochen zur Rückstellung von Gebieten in der nördlichen Eifel an Deutschland kam, die am 1 8. Juli 1949 dem belgischen Staat eingegliedert worden waren.

LÜTTICH, DIE LODERNDE STADT, die „ville ardente“, wie der Wallone sie benannt hat, einzigartig durch seine verkehrsgeographische Lage (Maastal, Albert-Kanal, Eisenbahnknoten der Strecken Ostende—Köln und Maastricht—Paris), bietet in bevölkerungskundlicher Hinsicht viel Interessantes. In 65 Gemeinden wohnt auf einem Prozent des belgischen Bodens eine halbe Million Menschen beisammen, was eine Bevölkerungsdichte von 2000 auf einen Quadratkilometer ergibt. Bemerkenswert ist der erhebliche Anteil der Ausländer (mehr als 10 Prozent), bedingt durch den nach dem Kriege aufgetretenen Mangel an Bergarbeitern. Die Italiener und Polen sind dabei ungefähr dreimal stärker als Holländer, Deutsche und Franzosen zusammen. Die Struktur der Lütticher Industrie (Metall, Elektrowerke, chemische Produktion, Möbel, Papier, Pulver und Bauindustrie) kann mit einiger Vorsicht auf ganz Belgien übertragen werden. Auffällig ist die Vielseitigkeit. Obenan steht die Schwerindustrie, gefolgt von der Textilerzeugung mit Leinen, Seide und Baumwolle in Gent, Spitzen in Brüssel, Brügge und Mecheln, Wollspinnereien in Verviers und Teppichen in Tournai. 65.000 Webstühle laufen in mehrfachen Schichten. Von den 950.000 Arbeitnehmern des Landes ist die Hälfte in Klein- und Mittelbetrieben beschäftigt. Grundlage der Industrie ist die Verarbeitung, vor allem werden Halbfertigwaren und erst in zweiter Linie Fertigwaren erzeugt. Neben der Industrie verzeichnet die Landwirtschaft nach den schweren Kriegsjahren einen beachtlichen Aufschwung. Es dürfte jetzt an die 40.000 Gewächshäuser im Dreieck Brüssel-Löwen-Waterloo geben, in denen Trauben gezüchtet werden, die bereits gegen den Julibeginn zu allüberall in den Brüsseler Geschäften erhältlich sind. Als Spezialität darf für Belgien wohl auch Chicoree angesehen werden, das als Wintergemüse in die Nachbarländer wandert. Die Blumen der flandrischen Bauernhäuser haben berühmte Schwestern in den Begonien von Gent, den Azaleen, Orchideen und Rosen (vor dem Kriege zählte man mehr als fünf Millionen Pflanzen). Wenn es nicht gerade einen Krieg gibt, dann verwandelt sich diese Stadt, die rechts der Straße zwanzig und links zehn Kilometer Blumenfelder besitzt, in eine Dauerausstellung, würdig der alle vier Jahre abgehaltenen Blumenschau, die selbst hochgespannte Erwartungen weit übertrifft.

IN ANTWERPEN GIBT ES MENSCHEN, die ihre Stadt als „La Metropole“ bezeichnen und damit ungefähr ausdrücken wollen, daß Brüssel mit „La Capitale“ überschätzt wird. Antwerpen hat das Erbe Brügges angetreten, als dessen Zwijn versandete. Das Hinterland des Hafens dehnt sich nicht bloß über Belgien und Luxemburg, Südholland, Westdeutschland, Nord- und Ostfrankreich aus, sondern reicht für bestimmte Sparten des Verkehrs bis in die Schweiz, nach Oesterreich und Italien. Man ist an der Adria sehr aufmerksam und in Rotterdam und Hambürg zuweilen verstimmt über den Zehnjahresplan (1956 bis 1965) der vorgesehenen Erweiterungsbauten. Der erste Teil ist bereits in Arbeit, man hat 4,2 Milliarden belgische Franken (2,1 Milliarden Schilling) investiert und auswärtigen Hafenverwaltungen etliche Kopfschmerzen verursacht. Heute ist Antwerpen der erste Linienhafen des Kontinents: 260 Linien vermitteln 1000 Abfahrten im Monat Der jährliche Stückgutverkehr beträgt 14 Millionen Tonnen, davon 70 Prozent als Ausgangsladung. Antwerpen gilt allgemein als einer der „schnellsten“ Häfen des Festlandes; weitgehende Technisierung und Mechanisierung und 15.000 spezialisierte Hafenarbeiter, von denen jeder sicher seine 3000 Schilling im Monat verdient, sorgen für die Verringerung der kostensteigernden Ladefristen. Ein Tag im Hafen von Antwerpen ist die billigste Reise um die Welt.

JEDER DRITTE BELGISCHE EINWOHNER liest eine Zeitung im Tag. Das Land mit seinen 8,5 Millionen Menschen verfügt über 48 Tageszeitungen mit einer Auflage von rund drei Millionen. Dazu kommen noch zwei Millionen Exemplare kultureller, politischer und satirischer Wochenzeitschriften. Von den Tageszeitungen erscheinen 29 in französischer. 17 in flämischer und 2 in deutscher Sprache. Die größte Auflage dürften gegenwärtig die beiden Brüsseler Blätter ..Soir“ und „Het Laatste Nieuws“ mit je 500.000 haben. Der „Soir“ gilt als neutralparteilos, ..Nieuws“ als liberal Der Katholizismus hat in 23 Blättern, von denen zwei die Tendenzen der christlichen Gewerkschaften vertreten, eine mächtige Stütze, was sich nicht zuletzt bei den verschiedenen innenpolitisch-kulturellen Auseinandersetzungen deutlich zeigte. „La Cite“, „La Libre Belgique“, „De Standaart“ in Brüssel, „Gazet van Antwerpen“ und „Han-delsblad“ in der Hafenstadt, „Het Volk“ (Gent) und die „Gazette de Liege“ verdienen voran genannt zu werden. Bei diesem Ueberblick soll nicht die Tatsache vergessen werden, daß im Kongo drei Viertel der Blätter von Religionsgemeinschaften herausgegeben werden. Die ver-breitetste Zeitung hier ist „La Croix du Congo“ der Scheutfelder Missionäre (CICM).

NICHT DIE ZEITUNGEN ALLEIN, sondern auch die Gesinnungen machen es, daß der Besucher Belgiens den Eindruck großer katholischer Aktivität gewinnt. Man braucht nicht gleich Löwen zu nennen, aus dessen Fakultäten nach wie vor Männer hervorgehen, die im öffentlichen Leben eine Rolle spielen. Man sollte auch die Blumensträuße am Grabmal des Kardinals Mercier in St. Romuald zu Mecheln, ihre immer wieder erneuerte Frische beachten. Man fährt heimwärts durch die Nacht über Aachen und gewahrt noch immer die versunkene Andacht der Arbeiterkinder in St. Gudule zu Brüssel, rollt über die Rheinbrücke und sieht, kaum imerkbar angestrahlt, den Kölner Dom, Äagegefl lein Stück links davon einen illuminierten Hochr hausprotz. Und man glaubt aus einer Welt des Seins in eine des Scheins geratet! zu sein.

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