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Zwischenmenschliche Kontakte

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Daß der Fremdenverkehr zur Massenerscheinung unseres Jahrhunderts geworden ist, ist allgemein bekannt. Wir wollen dies nur mit einer einzigen Zahl demonstrieren:

Im Jahre 1961 verzeichnete man in Österreich allein 47,81 Millionen Übernachtungen von Fremden, davon 29,98 Millionen (also fast 30 Millionen) Übernachtungen von Ausländern. Und dies in einem Land, das selbst nur 7 Millionen Einwohner zählt.

Wenn wir dann außerdem dazu hören, daß sich von diesem Ausländerfremdenverkehr fast 84 Prozent in nur vier Bundesländern abgespielt hat (in Tirol, Salzburg, Kärnten und Vorarlberg), so können wir uns ausmalen, welch enorme Menschenbewegungen alljährlich in den beiden Saisonzeiten (im Sommer noch viel stärker als im Winter, im Winter hauptsächlich auf die drei westlichen Bundesländer konzentriert) vor sich gegangen sein müssen.

Die einzig verläßliche Deutung dieses modernen, enormen Massenphänomens ist die zeitweilige Flucht vieler Menschen aus der städtischen Umgebung. Es ist durchaus kein Zufall, daß gerade die Nationen mit höchstem Verstädterungsgrad gleichzeitig auch die riesigen Menschenmassen über ihre Grenzen schicken, ins Gebirge, ans Meer, an die großen Seen, vor allem in die Alpen usw.

Diese Tatsache erscheint in der Statistik des österreichischen Fremdenverkehrs mit aller Deutlichkeit. Ein immer größer werdender Anteil des Gesamtvolumens unserer Ausländerübernachtungen kommt aus der benachbarten Bundesrepublik Deutschland. Im Jahre 1961 waren es 77 Prozent (im Jahre 1960 erst 72 Prozent). An zweiter Stelle steht das gleichfalls enorm verstädterte Königreich Großbritannien, allerdings mit weitem Abstand und nur 5 Prozent, an dritter Stelle stehen die Niederlande mit 4 Prozent unseres Ausländerfremdenverkehrs.

Naturgemäß ist die Verteilung zum Beispiel in der Schweiz eine ganz andere, was wieder hier aber nur angedeutet werden kann.

Wir klammern hier bewußt alle Fragen der Landschaft und der übrigen gestaltenden Faktoren des Fremdenverkehrs aus und deuten den Fremdenverkehr aus soziologischen Tatsachen.

Auch diese wollen wir mit einigen wenigen, aber sehr einprägsamen Beispielen untermalen.

Wir brauchen nicht daran zu erinnern (das ist allgemein bekannt), daß sich etwa in den letzten 100 Jahren der große Verstädterungsprozeß abgespielt hat. Industrie, moderne Verkehrsmittel usw. haben zu einem Bild geführt, das wir heute vor uns sehen. Uns interessieren als Beispiele wiederum jene Länder, die den Hauptanteil an unserem Ausländerfremdenverkehr nun schon in traditioneller Weise stellen.

Ein bemerkenswerter Bericht aus der deutschen Bundesrepublik, der am 8. März 1962 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist, meldet die interessante Tatsache, daß es in der Bundesrepublik derzeit 60 sogenannte „Stadtregionen“ gibt, in denen schon heute, auf 12 Prozent der Fläche der Bundesrepublik, 50 Prozent der Bevölkerung wohnen: also ein enormer Ballungsprozeß.

In den Niederlanden finden wir die größte Bevölkerungsdichte der Erde mit 357,8 Menschen auf einem Quadratkilometer. Die gigantische Stadtregion dieses Staatswesens ist die sogenannte „Randstad Holland“. Insgesamt haben wir heute auf Erden 38 Städte mit mehr als 2 Millionen Einwohnern. Viele dieser Städte liegen in riesigen Stadtregionen, zum Beispiel New York in einer solchen, mit fast 15 Millionen Einwohnern.

Es ist bisher nicht gelungen, diesem Ballungsprozeß mit nennenswerten Erfolgen entgegenzutreten. Wir können auf alle Folgen dieses Prozesses hier nicht eingehen. Tatsache ist jedenfalls, daß in den großen Städten jene „einsame Masse“ entsteht, von der die amerikanische Soziologie spricht. Die Menschen leben zwar in gigantischen Massen. Überall, bei allen möglichen Gelegenheiten, ist der Einzelmensch nur ein Atom in einer riesigen Masse von Mitmenschen, die ihm aber äußerlich und innerlich fremd sind. Das kulturelle Leben, sportliche oder politische Veranstaltungen, die öffentlichen Verkehrsmittel, alle möglichen Anlässe, vereinigen stets solche riesigen Menschenmassen. Überall hat man den Eindruck, ein kleines Teilchen von Tausenden zu sein.

Viele echte soziologische Bindungen sind in der Großstadt verlorengegangen. Wir erinnern nur daran, daß zum Beispiel die Großfamilie alten Stils in der Großstadt kaum noch existiert. Der Ausdruck „Großvater“ bezeichnet bei uns nur einen Verwandtschaftsgrad, aber keine soziologische Funktion mehr.

Trotz dieser ständigen Beengtheit und Mas-senhaftigkeit lebt jeder Mensch letzten Endes i

irgendwie isoliert. Die mitmenschlichen Kontakte werden auf die allerunmittelbarsten, engsten Kreise beschränkt: auf die Kleinfamilie, auf den Arbeitsplatz. Alles andere ist schon sehr lose, sogar das Vereinsleben leidet gemeinhin unter den großen Entfernungen der Stadt.

Ganz anders natürlich ist das Bild auf dem Land oder auch nur in kleinen Städten. Hier herrschen noch Zustände, die erheblich stärkere mitmenschliche Kontakte ermöglichen. Hier gibt es noch so etwas wie eine Hierarchie alten Stils, wenn auch nur gesellschaftlich und nicht mehr rechtlich wirksam. Der Unterschied ist übrigens unbedeutender, als man zunächst annimmt; Brauch und Sitte können stärker sein als das geschriebene Recht.

Es ist daher nicht verwunderlich, sondern eigentlich fast selbstverständlich, daß sich die Menschen aus der Masse heraussehnen und jeder wieder zum Individuum werden will. Dieses Motiv ist eines der am stärksten wirksamen für den Fremdenverkehr. Nicht nur das Erleben der heroischen Landschaft des Hochgebirges oder an der Meeresküste (soweit nicht die Masse nachläuft und auch die Meeresküsten wieder überwuchert), sondern vor allem eine relative Einsamkeit ist der stärkste Magnet. Die Großstadt entfaltet gleichsam Abstoßungskräfte, die Erholungslandschaft Anziehungskräfte. Die Flucht aus der Stadt nimmt nun natürlich verschiedene Formen an, angefangen vom Wochenendverkehr (der im traditionellen Sonntagsausflug seine eigentliche Wurzel hat, aber seinen Aktionsradius durch die Motorisierung enorm ausdehnt) bis zu den größeren Erholungsreisen, unter Umständen weite Entfernungen hinweg.

Wir gebrauchen auch hier den eingeführten Ausdruck „Fremdenverkehr“, obwohl wir eigentlich vom Erholungsreiseverkehr im engeren Sinn sprechen müßten. Wir deuten mit dieser Bemerkung an, daß es uns selbstverständlich bekannt ist, daß der Fremdenverkehr alten Stils aus kulturellen, politischen, administrativen oder wirtschaftlichen Gründen bis in die Gegenwart weiter existiert, ja sogar auch noch zugenommen hat.

Im Sinne der soziologischen Beziehungslehre von Leopold von Wiese läßt sich nun deutlich nachweisen, wie der Fremdenverkehr zu mitmenschlichen Kontakten aller Art führt. Dies gilt für Kontakte zwischen dem Gast und der einheimischen Bevölkerung, aber auch ebenso und vielleicht sogar noch stärker wirksam für Kontakte zwischen den Gästen, ausgelöst durch die geänderte Lebensweise und durch das Aufhören des physischen Drucks der Massenhaftig-keit. Adolf Günther hat einmal einen solchen

Versuch der Darstellung im Sinne der Beziehungssoziologie unternommen.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchten wir hier ausdrücklich und in aller Klarheit betonen, daß uns physiokratische Übertreibungen, wie sie etwa im Anschluß an das berühmte Alpengedicht von Albrecht von Haller aufgetaucht sind, durchaus fernliegen.

Das Gedicht „Die Alpen“ des Berners Albrecht von Haller ist 1732, also kurz vor der Entstehung des physiokratischen Systems, erschienen. Es hat zu seiner Zeit geradezu epochal gewirkt.

Dennoch glauben wir objektiv und mit Maß feststellen zu können, daß der zeitweilige Aufenthalt des Großstädters auf dem Land (um diesen handelt es sich ja in erster Linie) dazu führt, daß eine ganze Reihe von soziologischen Gegebenheiten vielleicht sogar erstmalig bewußt wahrgenommen wird. Wir denken da etwa an nachbarschaftliche und gemeindliche Funktionen, an ehrenamtlich ausgeübte Tätigkeiten, für die in der Stadt mit der viel weiter vorgetriebenen Arbeitsteilung längst Spezialberufe bestehen.

Der deutsche Altbundespräsident Heuss hat vor wenigen Tagen auf die Bedeutung des Wanderns für die Jugend hingewiesen. Er hat betont, daß die Jugend auf diese Art mit der Natur, mit der Pflanzen- und der Tierwelt zum erstenmal in Berührung kommt. Noch wichtiger erscheinen uns aber die mitmenschlichen Kontakte aller Schattierungen, die hier entstehen und weiterwirken.

Man hat von der völkerverbindenden Rolle des Fremdenverkehrs gesprochen. Diese Funktion erfüllt der Fremdenverkehr zweifellos, und zwar auch durch mitmenschliche Kontakte, hier zwischen Angehörigen verschiedener Nationen. Denken wir nur daran, was es zum Beispiel bedeutet, daß viele' Bewohner der Erholungslandschaften, die sich in der Fremdenverkehrs-Wirtschaft im weiten Sinn betätigen, Fremdsprachen erlernen, zeitweilig im Ausland Aufenthalt nehmen und sogar Arbeit leisten, Schriftwechsel mit dem Ausland führen und sich mit einem Wort in die Seele anderer Völker hineindenken können. Das Umgekehrte tritt natürlich durch den Besuch der Ausländer in unserem Land ein. Zweifellos werden da viele, viele Vorurteile und Ressentiments abgebaut beziehungsweise schon im Entstehen verhindert.

In diesen Ansätzen zu einem neuen Bild von den zwischenmenschlichen Kontakten liegt vielleicht das tiefste Geheimnis des Fremdenverkehrs.

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